Die Hauptfigur, der Ich-Erzähler François, ist Literaturwissenschaftler an der Universität von Paris. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich auf den französischen Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (1848 – 1907), der sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst als Parteigänger des Naturalismus, dann als Interpret der„Fin de siècle“-Dekadenz [1] durch seine den bürgerlichen Lebensstil mit bitterer Kritik überziehenden Romanen einen Namen gemacht hatte, ehe er, krank und vom Leben enttäuscht, in einem Kloster Linderung seiner körperlichen und seelischen Leiden suchte.
Huysmans, auf den Houellebecq immer wieder zu sprechen kommt, repräsentiert das Alter ego seines Romanhelden François, der sich von seinem Forschungsobjekt Intuitionen für die Lösung der eigenen Probleme erhofft; denn das Dasein von François – er bezeichnet es selbst als „freudlos“ (109) – ist von albtraumhafter Tristesse. Er ist Mitte vierzig, Single, ernährt sich vorzugsweise von Fertiggerichten aus der Mikrowelle oder bestellt beim Catering-Service, raucht und konsumiert reichlich Alkohol. Er hat keine Freunde, die Kontakte mit KollegInnen beschränken sich auf die üblichen banalen universitätsinternen Karriereangelegenheiten. Seine auf triebökonomische Entsorgung reduzierten, perspektivlosen sexuellen Aktivitäten, die Houellebecq mit der von ihm hinlänglich bekannten Drastik schildert, treiben François immer tiefer in Zustände innerer Agonie hinein. Der ohne den geringsten pädagogischen Impetus nur widerwillig bewältigte berufliche Alltag von François spielt sich vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen Muslimen und rechtsgerichteten Gruppen in einem Frankreich des von Houellebecq antizipierten, also fiktiven Jahres 2022 ab. Immer häufiger erschüttern Anschläge und Gewalttaten das Land, über dem die düsteren Wolken eines Bürgerkriegs heraufziehen. Eigentlich ist François ein durch und durch unpolitischer Mensch, aber da er sich täglich im intellektuell-akademischen Milieu bewegt, kommt er mit den unterschiedlichen politischen Diskursen in Berührung, die das Frankreich der im Roman vorweggenommenen Gegenwart beherrschen. Dort hat sich die, für den Leser vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, groteske, vom Autor aber satirisch gewollte Situation ergeben, dass sich eine politische Allianz von Sozialistischer Partei (PS), bürgerlich-konservativer UMP[2] und einer dynamisch aufstrebenden Partei der (gemäßigten) „Bruderschaft der Muslime“ anbahnt, die den primären Zweck hat, einen drohenden Wahlsieg des Front National (FN) zu verhindern. Über weite Passagen des Buches stehen unterschiedliche Aspekte dieser neuen politischen Konstellation und Argumente ihrer Befürworter oder Kritiker im Vordergrund. Teilweise hat man den Eindruck, als handele es sich hier eher um einen politischen Essay als um literarische Prosa, aber es gelingt Houellebecq dennoch, die unterschiedlichen Dimensionen des Romans, also die subjektive Erfahrung des Helden, das akademische Milieu, die politischen Diskurse einzelner Akteure und die nationale politische Situation zu integrieren und den Spannungsbogen der Lektüre bis zum Schluss aufrecht zu erhalten. François selbst bleibt ungeachtet der ihm bevorstehenden einschneidenden Veränderung seines Lebens durchgängig passiv. Sein Denken richtet sich allenfalls, sofern ihn nicht sexuelle Frustration umtreibt, auf das, was sein Alter ego, also Joris-Karl Huysmans, – auch ihm blieb ein menschlich befriedigendes Verhältnis zu Frauen versagt – bewegte, als er sich entschloss, im Kloster Zuflucht vor den Obsessionen der Welt zu suchen.
Nach einer spontanen Reise nach Rocamadour, einem berühmten Wallfahrtsort in Südfrankreich, – der Reise gehen mehrere Gespräche mit Bekannten über die brisante politische Situation voraus –, erfährt François nach seiner Rückkehr, dass ihm der neue Rektor der inzwischen von einem saudi-arabischen Ölscheich gekauften Universität Sorbonne gekündigt hat, allerdings mit der gleichzeitigen Option auf eine großzügige Pension, falls François an einer staatlichen, also laizistischen Universität keine angemessene neue Stelle mehr bekommen sollte. Die Kündigung, die ihn allerdings nicht sonderlich bedrückt, nimmt Francois schließlich zum Anlass, den Spuren Huysmans folgend, sich in die bei Poitiers gelegene Benediktinerabtei von Ligugé zu begeben, um dort ein Gelübde als Mönch abzulegen. Da er aber in seiner Zelle, angestarrt von einem „feindseligen kleinen roten Auge“ (195) des Rauchmelders nicht rauchen darf, kehrt er dem Kloster schon nach wenigen Tagen wieder den Rücken. Wieder in Paris erhält er, der anerkannte Experte für das Werk von Huysmans, vom Verlag Gallimard das Angebot, in dessen renommierter Klassikerreihe „Bibliothèque de la Pléiade“[3] Huysmans’ Gesamtwerk herauszugeben. Noch ehe er über das Angebot entschieden hat, erfährt er, dass der neue Rektor der nun islamischen Sorbonne, Robert Rediger, sein Ausscheiden bedauere, ihn aber zu einem Gespräch einladen wolle, um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, seine Professur an der Sorbonne zu behalten, wenn er zum Islam übertritt. Das Gespräch findet auch statt. Vor die Frage gestellt, entweder zu konvertieren oder seine akademische Karriere zu beenden, scheint François – das Buch lässt das Ende zwar offen, lässt aber an diesem Schritt keinen Zweifel – sich für eine Rückkehr an die Sorbonne und damit für eine Konversion zum Islam zu entscheiden.
Islamismus oder Katastrophe der Postmoderne?
Man hat Houellebecq im Blick auf „Unterwerfung“ erneut Islamophobie vorgeworfen. Aber trifft das zu? Houellebecq zeichnet das Bild eines eher moderaten Islam, der, wie im Roman sein französischer Propagandist Robert Rediger, Autor einer populären Schrift mit dem Titel „Zehn Fragen zum Islam“, im Gespräch mit François sagt, weder Steinigung noch Beschneidung rechtfertige, die Befreiung von Sklaven bejahe, rassistischer Diskriminierung ein Ende bereitet habe und die „Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer“ (242), aber, wie man Houellebecq zwischen den Zeilen lesen kann, nicht unbedingt zwischen den Menschen betone. Allerdings sieht dieser Islam nach dem Verständnis Redigers selbst gar keinen Widerspruch zwischen Gleichheitsprinzip und Polygamie, da letztere biologisch begründet sei und die Entwicklung der menschlichen Gattung fördere.
Auch auf der politischen Ebene gibt sich der von Rediger und dem Führer der französischen Bruderschaft der Muslime vertretene Islam ausgesprochen anpassungsfähig. Die Regeln des Parlamentarismus formal respektierend, klinkt er sich in dessen Spiel ein und agiert so wie andere nicht-muslimische Akteure mit dem Ziel, durch Wahlen Mehrheiten zu erreichen. Der bereits erwähnte, im Buch selbst aber nicht auftretende Spitzenkandidat der muslimischen Bruderschaft, Mohammed Ben Abbes, wird von einem in der Sache kompetenten Bekannten François’, dem Ehemann einer Kollegin und höheren Beamten des französischen Nachrichtendienstes DGSI[4], als ebenso intelligent wie modern denkend geschildert. Ben Abbes sei „unternehmensorientiert“, wisse aber sehr genau, dass er ohne kulturelle Hegemonie nicht zur Macht gelangen könne (132). Mit islamistischen Terroristen und Vorstadtmarodeuren habe er nichts gemeinsam, im Gegenteil er halte sie für Stümper. Stattdessen pflege er Kontakte mit einflussreichen Institutionen wie dem Vatikan und umgebe sich mit der Aura eines Anwalts der Dritten Welt.
Auch wenn LeserInnen, sei es auch aus ganz konträren Gründen, das von Houellebecq entworfene Bild des Islam ablehnen mögen, werden sie nicht behaupten können, dass er den Islam verunglimpft. Weder äußert er sich verächtlich über die religiöse Dogmatik des Koran noch verwirft er ihn als rückständig oder zieht seine Interpreten ins Lächerliche. Entscheidend ist aber, dass es Houellebecq im Wesentlichen gar nicht um den Islam geht. Wollte man aus „Unterwerfung“ vor allem eine Polemik gegen den Islam herauslesen, würde man die zeitdiagnostische Funktion des Romans vollständig verkennen. Houellebecqs zentrales Thema ist nicht ein wie immer imaginierter oder tatsächlicher Islam, sondern die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der heutigen westlichen Kultur, ihrer neoliberalen Ökonomisierung, ihrem moralischen Relativismus und ihrer normativen Destabilisierung. Alle diese drei Momente stehen für Houellebecq in einem nicht-zufälligen Zusammenhang, dessen strukturelle Basis die kapitalistische Ökonomie einerseits und Patriarchalismus andererseits bilden. Die Passagen über den Islam liefern nur die Kontrastfolie, um – gesteigert durch eine ebenso unterkühlte wie beißende Ironie – den sozialen und kulturellen Verfall moderner westlicher Gesellschaften, für die Frankreich nur ein Beispiel ist, umso schärfer hervortreten zu lassen. Man sollte nicht vergessen, dass der Titel des Buches „Unterwerfung“ und nicht etwa „Der Triumph des Islam“ oder ähnlich lautet.[5] Wer aber sind diejenigen, die sich unterwerfen und wem unterwerfen sie sich?
Darauf gibt das existentielle Scheitern François’ eine ebenso unspektakuläre wie deprimierende Antwort. François kapituliert vor dem Konsummodell der Sushi-Lieferservices, Markenklamotten und Luxuswohnungen, dem Pseudopluralismus des politischen Systems, den Zwängen individualistischer Selbstbezüglichkeit und einem allgegenwärtigen neo-patriarchalen Sexismus. Sein eigentliches Drama besteht jedoch nicht darin, dass er sich mit den Erscheinungen dieser elenden Postmoderne offensiv identifiziert und in die Vergnügungen der Event- und Spaßgesellschaft stürzt, sondern dass er sie widerwillig hinnimmt, ohne ihnen etwas entgegenzusetzen.
Dass François auf verlorenem Posten steht, macht Houellebecq gleichzeitig durch die wissenschaftliche und berufliche Situation seines Protagonisten deutlich; denn François ist mit seinen Huysmans-Forschungen auf ein Arbeitsgebiet fixiert, das aus dem unaufhaltsamen Siegeszuges der neuen Medien und des Internet als krasser Anachronismus herausfällt. Mit dieser intellektuellen Randposition korrespondiert die vollständige Abwesenheit eines pädagogischen Ethos seiner Lehrtätigkeit. Was er in seinen Seminaren, manchmal nur vor einer Handvoll, durch ihr Stipendium dazu offensichtlich verpflichteter, regungslos verharrender chinesischer Studentinnen vorträgt, hat sich von den wirklichen Problemen der Gegenwart phantomhaft abgekoppelt. Allenfalls verhilft ihm noch die Beschäftigung mit seinem literarischen Alter ego dazu, narzistisch um sich selbst zu kreisen. Mit François hat Houellebecq so eine Figur geschaffen, die ebenso unwirklich wie realistisch ist und die für moderne westliche Gesellschaften typische Synthese von individueller Isolation und systemischer Suggestion grenzenloser Freiheit literarisch bedrückend konkret auf den Begriff bringt.
Heillose Sexualität
Zwar ahnt François, dass es etwas geben muss, was über Individualismus und Egotismus hinausgeht, um dem menschlichen Leben einen Sinn zu verleihen, aber er bringt nicht die Kraft auf, daraus Konsequenzen zu ziehen. Statt seine selbstzerstörerische Lebensweise aufzugeben, sich gegen den Verrat der Wissenschaftsfreiheit zu wehren oder sich im Kampf gegen die fatale „union sacrée“ der traditionellen Parteien mit der pseudoliberalen Bruderschaft der Muslime zu engagieren, (Konsequenzen, die Houellebecq zwar nicht von seinem Helden erwartet, aber die zu denken der Autor seinen LeserInnen ja nicht verbietet), sucht er Erlösung in immer häufiger fehlschlagenden Versuchen sexueller Befriedigung, schließlich sogar bei sogenannten „Escort“-Damen, also Prostituierten. Je vergeblicher seine Anstrengungen sind, der Hoffnungslosigkeit wenigstens für kurze Augenblicke durch einen sexuellen Kick zu entgehen, desto mehr wird er auf sich selbst zurückgeworfen. Erkrankungen wie Pilzbefall, Hämorrhoiden und Migräne vervollständigen das niederschmetternde Bild persönlichen Verfalls.
Oft ist Houellebecq wegen seiner abstoßenden Sexualszenen angegriffen worden. Was er schreibe, sei Pornographie. Wer das auch auf „Unterwerfung“ beziehen will, übersieht, dass diese Szenen kein Selbstzweck sind, um das Publikum wie in pornografischen Machwerken libidinös aufzuheizen und damit Geschäfte zu machen, sondern vielmehr die Funktion haben, sexuellen Konsumismus als Ausdruck eines angeblich von allen moralischen Zwängen befreiten, in Wirklichkeit aber durch und durch patriarchalen Geschlechterverhältnisses zu entlarven.[6] Das Patriarchat bildet für Houellebecq die entscheidende Brücke zwischen der Verkommenheit einer Kultur, die dem aus Humanismus und Aufklärung hervorgegangenen Menschenbild inzwischen die endgültige Bankrotterklärung ausgestellt hat, auf der einen Seite und der neuen Ordnung eines „weichen“ liberalen Islamismus auf der anderen Seite. Der hemmungslose Sexismus einer abgewirtschafteten Postmoderne ist, daran lässt Houellebecq keinen Zweifel, für das Szenario neo-islamistischer Polygamie optimal anschlussfähig; denn in beiden Fällen geht es nur um eines: nämlich um die totale Verfügung von Männern über Frauen.
Es gehört zu den am meisten grotesken, aber auch verstörendsten Momenten des Romans, dass gerade das Prinzip der Polygamie – und nur es – den weltanschaulich eigentlich völlig indifferenten, unpolitischen und nicht einmal auf finanzielle Vorteile fixierten François dazu bringt, ernsthaft eine Konversion zum Islam zu erwägen, zumal da ihm Robert Rediger nicht nur den Besitz von drei Frauen, sondern auch deren sexuelle Attraktivität zusichert.
Kapitulation der politischen Klasse
Passivität, moralischer Relativismus und pathologische Selbstreferenz des Romanhelden finden ihre adäquate Entsprechung im Verhalten der politischen Klasse und der sie bedienenden Intellektuellen. Zwischen dem, was François persönlich betrifft, und dem was die Akteure auf der politischen und intellektuellen Bühne Frankreichs im Jahr 2022 treiben, stellt Houellebecq einen negativen hermeneutischen Zirkel her, der die Aussichtslosigkeit jedweder wünschenswerten Entwicklung der Gesellschaft festschreibt. Das traditionelle „Mitte-links“- oder „Mitte-rechts“-Schema, das dem Frankreich der 5. Republik seit Jahrzehnten seinen Stempel aufdrückte, hat sich erschöpft.[7] Mit der muslimischen Bruderschaft des Mohammed Ben Abbes – der Name Abbes erinnert nicht zufällig an das französische Wort „abbé“ (Priester) – ist ein Akteur in Erscheinung getreten, der die politische Szene neu aufmischt. Antisemitismus und fundamentalistische Phrasen vermeidend, „herzliche Beziehungen“ (44) zur jüdischen community pflegend und ein dichtes Netzwerk sozialer und kultureller Einrichtungen schaffend, das, wie Houellebecq hintergründig hinzufügt, an das frühere Vorbild der Kommunistischen Partei erinnert, bietet sich Ben Abbes als Retter vor der drohenden Machtergreifung durch den Front National an, der seinerseits einen triumphalen Aufschwung erlebt. Ziel der unterkühlten, damit aber umso schärferen Kritik Houellebecqs ist aber in erster Linie weder die Bruderschaft der Muslime noch der Front National von Marine Le Pen. Es geht ihm vielmehr um die politische Korruptheit, den Opportunismus, die Machtgier und völlige Alternativlosigkeit der etablierten französischen Parteien und ihres Führungspersonals, die bisher die Geschicke Frankreichs bestimmt hatten, also vor allem die Sozialistische Partei (PS) und die bürgerlich-konservative UMP. Auch Jean-Luc Mélenchon, Repräsentant des „Front de gauche“[8], bekommt einen polemischen Seitenhieb ab, ohne dass allerdings genau klar wird, warum (177). Mit geradezu triefendem Hohn behandelt Houellebecq den Spitzenpolitiker der liberalen bürgerlichen Partei „Mouvement démocrate“ („Demokratische Bewegung“), François Bayrou, den er nach dem Wahlsieg von Ben Abbes deshalb zum Ministerpräsidenten avancieren lässt, weil er sich mit seiner penetranten Sehnsucht nach einem „hohen Amt“ und seinem nichtssagenden Humanismus für den Posten des Premierministers unter der Präsidentschaft Abbes’ optimal eigne. Über Bayrou äußert sich der Geheimdienstmann Tanneur wie folgt: „Was Bayrou so einzigartig, so unersetzlich macht ... ist seine Dämlichkeit. Sein politischer Entwurf ist immer auf seinen persönlichen Wunsch beschränkt geblieben, unter allen Umständen ein ‚hohes Amt’ zu bekleiden, wie man so schön sagt. Er hat nie eigene Vorstellungen gehabt und auch nicht so getan, als hätte er welche; in diesem Ausmaß ist das durchaus selten. Das macht ihn zum idealen, den Begriff des Humanismus verkörpernden Politiker, zumal er sich für Heinrich IV. hält und einen großartigen Friedensstifter im Dialog der Religionen.“ (131).[9]
Während Houellebecq der UMP durch den Mund Tanneurs attestiert, sich mit bildungspolitischem Konservatismus und restriktiver Sozialpolitik in einer quasi natürlichen Nähe zur Muslimischen Bruderschaft zu befinden, führt er die Bündnisbereitschaft des PS auf dessen zu Lasten seiner einstigen laizistischen Orientierung gehenden abstrakten Antirassismus, seine „Multi-Kulti“-Attitüde, zurück. Zweifellos hegt Houellebecq überhaupt keine Sympathien für die Linke, auch nicht für die linke Strömung außerhalb des PS. Deshalb man muss seiner bewusst überzeichneten Darstellung der politischen Konstellation und ihrer Akteure auch keineswegs in allen Punkten zustimmen, aber der Tenor seiner Befunde überzeugt dennoch: die etablierten Parteien wollen und können der umfassenden, nicht nur ökonomischen und politischen, sondern vor allem auch kulturellen und moralischen Krise der (französischen) Gesellschaft keine glaubwürdige Alternative entgegensetzen. Das Frankreich unter dem - wohlgemerkt von UMP, PS und UDI[10] gestützten – siegreichen islamischen Präsidenten Ben Abbes charakterisiert Houellebecq als kapitalistisch, patriarchal und antilaizistisch. Von den bisherigen patriarchalen Strukturen unterscheiden sich die nun eintretenden Verhältnisse des Jahres 2022 dadurch, dass Polygamie offiziell wieder zugelassen, Mädchen und junge Frauen auf hauswirtschaftliche Funktionen beschränkt und Frauen generell aus dem Erwerbsleben herausgedrängt werden sollen. Mit Hilfe von Schador und anderen entmündigenden Verkleidungen wird Sexualität nun für männliche Herrschaft privatisiert, wo sie vorher als Ware öffentlich vermarktet wurde.
Der neue Kapitalismus der Ben Abbes-Ära steht im Zeichen des „Distributismus“, einer ökonomischen Philosophie, die sich der neue Präsident aneignet, ganz unbekümmert darum, dass sie auf katholische Denker wie Gilbert Keith Chesterton (1874 – 1936) und Hilaire Joseph Pierre Belloc (1870 – 1953) zurückgeht (178 ff.). Zwar gibt sich der „Distributismus“ von Ben Abbes als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus aus, aber Houellebecq lässt unmissverständlich durchblicken, dass der reale Kapitalismus nichts von ihm zu befürchten hat, begünstigt er doch eher den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft als deren staatliche Kontrolle, geschweige denn Eingriffe in privatkapitalistische Eigentumsverhältnisse. Politische Loyalität breiter sozialer Schichten will sich der „Distributismus“ Ben Abbes’ dadurch sichern, dass er den Selbständigen Steuererleichterungen und jungen Leuten die Förderung von Firmengründungen verspricht. In das „neue Gesellschaftsmodell“ eingelagert ist ein Typ von Familie, der sich sowohl mit patriarchalen islamischen Vorstellungen als auch dem westlichen Muster einer ökonomisch funktionalen „vernünftigen Familie“ (180) deckt. Dass der „Distributismus“ letztlich nur als eine das Szenario des Jahres 2022 rechtfertigende Ideologie fungiert, welche das kapitalistische Privateigentum nicht nur nicht antastet, sondern die Polarisierung von reich und arm sogar ausdrücklich gut heißt, bestätigt auch der Haushaltsentwurf der neuen Regierung, der die bisherigen staatlichen Sozialausgaben rigoros zurückfahren will (187). Eine weitere Grundtendenz der „Unterwerfung“ der französischen Kultur diagnostiziert Houellebecq in der Preisgabe eines Frankreich bisher prägenden Laizismus, der von den institutionellen politischen Akteuren kampflos aufgegeben wird, um die Gesellschaft einem Prozess der Rückeroberung durch ein neues religiöses Regime zu überlassen.
Verrat der Intellektuellen
Wenn Houellebecq von den Intellektuellen spricht, hat er nur einen Typ im Auge, nämlich denjenigen, der sich den herrschenden Eliten zur Verfügung stellt. Einen anderen Typ scheint er – ein gravierendes Defizit des Romans – nicht zu kennen. Sein Urteil über diesen Typ fällt allerdings vernichtend aus. Dabei steht vor allem ein Aspekt im Vordergrund: die bestürzende Anpassungsfähigkeit und Austauschbarkeit dessen, was Intellektuelle denken und propagieren.
Am Beispiel von Robert Rediger, neben François die wohl wichtigste Romanfigur, zeichnet Houellebecq einen Wandlungsprozess nach, der Rediger von einer bestimmten ideologischen Position zu einer diametral entgegengesetzten umschwenken lässt. Identisch aber sind beide Positionen darin, dass sie affirmative herrschaftslegitimierende Tendenzen und Interessen in der Gesellschaft bedienen. Zunächst engagierte sich Rediger in der „Identitären Bewegung“, die es in Frankreich tatsächlich gibt. Der „Bloc identitaire“, wie sich diese Strömung in Wirklichkeit nennt, entstand während der 2000er Jahre.[11] Hervorgegangen unter anderem aus der rechten Gruppierung „Unité radicale“, die 2002 durch das Innenministerium aufgelöst wurde, vereinigt der „Bloc“ ungefähr 2000 Mitglieder und beteiligt sich seit 2009 als politische Partei lokal und regional gelegentlich an Wahlen. Als Teil des rechtsextremen Spektrums wendet sich der „Bloc identitaire“ gegen ethnische Verschmelzung und eine permanente Anklage der europäischen Völker. Er wendet sich gegen „Materialismus“ – gemeint ist damit eine nur auf materiellen Besitz und Konsum gerichtete Haltung –, und gegen die angebliche Usurpation der Demokratie durch oligarchische Apparate, wobei finanzkapitalistische Akteure, die Medien und die Gewerkschaften ohne Rücksicht auf ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Inhalte und Ziele über einen Leisten geschlagen werden. Amerikanisierung und Islamisierung ablehnend, beteuert der „Bloc“ gleichzeitig seine Abgrenzung vom Antisemitismus. Sich auf Werte einer ländlichen Lebensweise berufend, sieht er sich als Fürsprecher regionaler Minderheiten, aber auch der „weißen“ kleinen Leute in den Vorstädten der urbanen Zentren („petits blancs de banlieue“). Die Bevorzugung der weißen Franzosen vor MigrantInnen und Menschen anderer Hautfarbe gehört ebenso wie die Ablehnung der Frauenemanzipation zu den politischen Essentials des „Bloc“. Aber Rediger hat sich von der identitären Bewegung losgesagt, um zum Islam überzutreten. Dieser erstaunliche Wechsel ist nur oberflächlich betrachtet nicht plausibel. Houellebecq lässt ihn vielmehr als ganz folgerichtig erscheinen, indem er, auf die Geschichtsphilosophie von Arnold Toynbee anspielend, Rediger die These in den Mund legt, dass die traditionelle europäische Kultur abgewirtschaftet hat und aus sich heraus nicht mehr die geschichtliche Kraft aufbringt, sich grundlegend zu erneuern. Die Fähigkeit dazu traut Rediger nur noch dem dynamisch aufstrebenden Islam zu, der außerdem in der bedingungslosen Unterwerfung des Menschen unter Gott die Erreichung eines absoluten Glückszustandes verheißt.
Auch an dieser Stelle lässt Houellebecq, an den berüchtigten sadomasochistischen Roman „Geschichte der O“[12] erinnernd, die Grenzen zwischen Herrschaft über Frauen in der europäischen Kultur und dem religiösen Unterwerfungsprinzip des Islam, wie Rediger es versteht, verschwimmen. Weil Rediger in seiner Version des Islam eine Herrschaftsideologie feiert, von der er ebenso als Intellektueller wie als patriarchal orientierter Mann selbst zu profitieren hofft, wirft er den Ballast eines ihm überholt erscheinenden alteuropäischen Kulturbegriffs über Bord. Zwischen Redigers früherer Zugehörigkeit zur identitären Bewegung und seinem jetzigen Bekenntnis zu einem teilweise modernisierten Islam baut der Autor die Episode eines inzwischen von seiner Romanfigur diskret fallen gelassenen islamistischen Radikalismus ein. Diese Episode will Houellebecq sowohl als Beweis für die verantwortungslose Wandlungsfähigkeit von Intellektuellen als auch die nicht zufällige komplizenhafte Haltung von Journalisten verstanden wissen, extremistische Abenteuer prominenter Intellektueller mit Schweigen zu übergehen. Ähnlich wie bei einst ultralinken Intellektuellen – hier denkt der Autor offensichtlich unter anderem an die „nouveaux philosophes“[13] –, denen die Glorifizierung von Stalin, Mao und Pol Pot in ihrer späteren Karriere keineswegs geschadet hat, seien deshalb auch Rediger trotz seiner früheren militant-islamistischen Beitrage bei seinem spektakulären Aufstieg keine Steine in den Weg gelegt worden.
Umrisse zukünftiger Hegemonie
Mit der kruden, in geradezu aufdringlicher Breite dargelegten Weltanschauung Redigers will Houellebecq typische Versatzstücke einer zukünftig hegemonialen Ideologie beschreiben. Die Umrisse einer „sanften Scharia“, ein von jeder staatlichen Regulierung gesäuberter Kapitalismus, eine zwar ohne offene Gewaltsamkeit erzwungene, dafür aber um so totalere Loyalität der Bevölkerung gegenüber der neuen autoritären Ordnung sowie die Überformung ihrer Ideologie durch biologistische, neodarwinistische und nietzscheanische Rechtfertigungen konstituieren ein ideologisches System von Herrschaft, das alle gesellschaftlichen Lebensbereiche von den verrotteten Formen des gegenwärtigen Liberalismus reinigen will. Die heraufziehende Welt der „Unterwerfung“ soll eine Welt ohne Akteure werden, die für Überwindung von Kapitalismus und Patriarchat und gegen mediale Gleichschaltung, Entdemokratisierung und Entsolidarisierung eintreten. Was Rediger predigt, wird sich deshalb durchsetzen können, weil ihm in der für den desolaten Zustand der heutigen Gesellschaft repräsentativen Figur des François kein Gegner mehr entgegentritt, der etwas fundamental anderes will als die Identifizierung mit sozialer Ungleichheit, Ungleichheit der Geschlechter, Verzicht auf rationale Diskurse gesellschaftlicher Problemlösungen und Ausschluss der Bevölkerung von demokratischen Entscheidungen. Das – und nicht eine ihm oft unterstellte zynische Werbung für schrankenlosen moralischen Defätismus und die Absage an Menschlichkeit – ist die eigentliche Botschaft Houellebecqs, über die sich nur diejenigen täuschen, die seinen ironischen literarischen Gestus mit einer Absage an Prinzipen sozialer Gerechtigkeit, Geschlechtergleichheit und Demokratie verwechseln. Damit ist abschließend noch einmal die Frage beantwortet, die im Titel dieses Beitrags gestellt wurde.
* Michel Houellebecq, Unterwerfung, Roman, Köln 2015 (Dumont). Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Für einige nützliche Hinweise zu meinem Text danke ich Jörg Goldberg von der Z-Redaktion.
[1] Exemplarisch für den ästhetizistischen Ekel Huysmans vor der Welt des bürgerlichen Spießertums steht sein Roman“ Gegen den Strich“ („À rebourse“), geschrieben 1884, in dem er seinen Helden, den Aristokrat des Esseintes, Folgendes denken lässt: „Verbrecherischer und gemeiner als der abgehauste Adel und der heruntergekommene Klerus, entlehnte die Bourgeoisie bei diesen ihr frivoles Gepränge, ihre hinfällige Prahlerei, die sie durch ihren Mangel an Lebensart noch verschlimmerte. Sie stahl ihnen ihre Fehler, die sie in heuchlerische Laster wandelte; herrisch und heimtückisch, niederträchtig und feige, kartätschte sie mitleidlos den ewig und notwendigerweise von ihr betrogenen Pöbel nieder, den sie selbst des Maulkorbs entledigt und dazu abgerichtet hatte, den alten Kasten an die Gurgel zu springen.“ (Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, Stuttgart 1992, S.248)
[2] UMP (Union pour un mouvement populaire, dtsch. Union für eine Volksbewegung) entstand 2002 als Wahlbündnis rechtsliberaler, teils gaullistischer bürgerlicher Parteien, um eine Wahl des Kandidaten des Front National, Jean-Marie Le Pen, zu verhindern. Seit 2002 stellte die UMP die Mehrheitsfraktion in der Nationalversammlung und seit 2007 mit Nicolas Sarkozy den Staatspräsidenten. Während der letzten Jahre war die Partei tief zerstritten. Trotzdem gelang es Sarkozy, Ende 2014 wieder zum Parteivorsitzenden gewählt zu werden.
[3] Diese Klassikerreihe gibt es tatsächlich. Es gilt als besondere Ehre für SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen, wenn Werke von ihnen schon zu ihren Lebzeiten in der „Bibliothèque de la Pléiade“ erscheinen. Das gilt etwa für Paul Claudel, André Gide, Nathalie Sarraute, Marguerite Yourcenar und Claude Lévi-Strauss.
[4] Den französischen Nachrichtendienst DGSI (Direction générale de la sécurité intérieure) gibt es tatsächlich. Er ersetzte 2014 den bisherigen DCRI, ist wie dieser dem Innenministerium unterstellt und auf Gegenspionage, aber auch Terrorismusbekämpfung und die Überwachung „gefährlicher Gruppen“, Organisationen und sozialer Phänomene spezialisiert (Vgl. Björn Krumrey: Die Inlandsnachrichtendienste in Frankreich und Deutschland. Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Stuttgart 2104).
[5] Übersetzt heißt „Islam“ zwar „Unterwerfung“, „Hingabe“, „Ergebenheit“ o.ä. (vgl. Heinz Halm, 2001: Der Islam. Geschichte und Gegenwart, München, 2.Aufl., S. 7) und insofern ist der Titel auch nicht zufällig, aber er drückt bei Houellebecq eine Unterwerfung unter die Imperative der gegenwärtigen, in jeder Hinsicht, wie der berühmte Soziologe Émile Durkheim schrieb, vom „mal de l’infini“ (dem „Übel der Maßlosigkeit“) befallenen westlichen Kultur aus. Die Hegemonie des von ihm literarisch fingierten Islam ist nur die Folge der Unterwerfung unter diese Imperative der westlichen Kultur.
[6] Dass Houellebecqs Roman sich damit nicht im luftleeren Raum literarischer Fiktionen bewegt, wird exemplarisch an der Person des ehemaligen Ministers, Direktors des Internationalen Währungsfonds und führenden Mitglieds des Parti Socialiste, Dominique Strauss-Kahn, deutlich, der offensichtlich glaubte, sich mit der Reservierung einer teuren New Yorker Hotelsuite gleichzeitig das natürliche Recht auf sexuelle Dienstleistungen erkauft zu haben. Auch in mehrere andere, staatsanwaltlich untersuchte Ereignisse, in denen patriarchale Gewalt gegen Frauen verübt wurde, soll er verwickelt gewesen sein.
[7] Als Überblick über die gesellschaftliche und politische Entwicklung Frankreichs in der V. Republik vgl. Jörg Requate, 2011: Frankreich seit 1945, Göttingen, insbesondere S.41 – 60.
[8] Der „Front de gauche“ (Linksfront) ist ein 2008 entstandenes Wahlbündnis, das von dem „Parti de gauche“ (Linkspartei) und dem PCF (Französische Kommunistische Partei) getragen wird. Der „Front de gauche“ lässt sich in einer Reihe von Punkten mit der Partei „Die Linke“ in Deutschland vergleichen. Sein Spitzenkandidat Jean-Luc Mélenchon erreichte bei der Präsidentschaftswahl 2012 im ersten Wahlgang 11 Prozent der Stimmen.
[9] Die Anspielung auf den französischen König Heinrich IV. verweist darauf, dass Bayrou realiter Verfasser einer Biographie über diesen Monarchen ist.
[10] Neben dem PS und der UMP taucht im Roman noch die UDI (Union des démocrates et indépendants, dtsch. Union der Demokraten und Unabhängigen) auf, die 2012 vor allem aus einer Abspaltung von der UMP Sarkozys hervorgegangen ist. Sie vertritt typische Positionen der „Mitte“, ist also liberal und proeuropäisch.
[11] Vgl. den Wikipedia-Eintrag „Bloc identitaire“ in französischer Sprache, abgerufen am 25.01.2015.
[12] Der Roman „Geschichte der O“ von Anne Declos erschien 1954 in Paris. Feministinnen haben in dem Buch das Produkt eines in Wirklichkeit männlichen Autors gesehen.
[13] Über die Entwicklung der „neuen Philosophen“ von ehemals ultralinken und maoistischen Positionen zu Apologeten der heute herrschenden Eliten in Frankreich vgl. zum Beispiel meine Beiträge „Von der ‚Proletarischen Linken’ zu Sarkozy“, in: Z 70 (Juni 2007), S. 22-35, und „Die Geburt des Neoliberalismus aus dem Geist von 1968“, in: Z 74 (Juni 2008), S.93-194. Zur Parallelerscheinung dieses Problems in Deutschland vgl. die exzellente Studie von Frank Deppe „imperialer realismus? Deutsche Außenpolitik: Führungsmacht in ‚neuer Verantwortung’. Eine Flugschrift“, Hamburg 2014.