Totalitarismustheorie und Geschichtspolitik einer modernisierten radikalen Rechten
Die Totalitarismustheorie kann mit Fug und Recht als ältere Schwester der Extremismustheorie bezeichnet werden. Wiewohl dieser Strang der vergleichenden Forschung zu unterschiedlichen politischen Regimen vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst eine große Heterogenität aufweist und von ihrem theoretischen Niveau so unterschiedliche Arbeiten wie Hannah Arendts „Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft“ oder Joachim Friedrichs/Zbigniew Brzezinskis „Totalitäre Diktatur“ hervorgebracht hat, war die geschichtspolitische und vor allem antikommunistische Konnotation dieses Ansatzes für seine Verbreitung in der alten Bundesrepublik von zentraler Bedeutung. Die Parallelisierung und teilweise Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus war in der Periode des Kalten Krieges von hoher Bedeutung und wurde in der Bundesrepublik von Seiten des Staates aktiv befördert. Mit der behaupteten Wesensgleichheit, von Friedrich/Brzezinski schematisch an sechs Merkmalen festgemacht, ging es geschichtspolitisch vornehmlich um eine Dämonisierung des Kommunismus, der moralisch mit dem Vernichtungspotenzial insbesondere des Nazi-Faschismus auf eine Stufe gestellt werden sollte – mit dem Unterschied, dass der Kampf gegen den Kommunismus, anders als beim Faschismus, noch nicht gewonnen sei.[1]
Wenn auch die geschichtswissenschaftliche Kritik der Totalitarismustheorie mit der Zeit eher lauter wurde und mit der immer differenzierteren Forschung zu Faschismus, Shoah und Vernichtungskrieg die Grundlage für eine totalitarismustheoretische Parallelführung immer zweifelhafter wurde, so ist dieser Ansatz nie verschwunden und findet vor allem in seiner geschichtspolitischen Dimension immer wieder neue Anwendung. Insofern ist es kein Wunder, das mit der Eintrübung des Verhältnisses EU/USA-Russland und des damit verbundenen neuen Kalten Krieges auch die politische Funktion des Totalitarismusansatzes neue Attraktivität gewinnt. In Osteuropa wird die komplizierte historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts, in der zahlreiche Länder Ostmitteleuropas mit faschistischer Okkupation und sowjetischer Besatzung und Bevormundung konfrontiert waren, häufig vor der Folie der Totalitarismustheorie interpretiert (vgl. Bollinger in diesem Heft).
Geschichtspolitisch war und ist der Totalitarismusansatz in Deutschland ein probates Mittel der politischen Rechten, mit dem gleich zwei Ziele erreicht werden können: Die Diskreditierung sozialistischer und kommunistischer Politik als im Kern wesensgleich mit dem Faschismus und gleichzeitig die Relativierung der Herausgehobenheit faschistischer Menschheitsverbrechen, die so nur noch als eine Variante totalitären Terrors erscheinen. Während es der etablierten Politik und dem bürgerlichen Konservatismus bei der Nutzung des Totalitarismusansatzes vor allem um die Abgrenzung liberal-kapitalistischer Politik von den historischen Extremen rechts und links geht, zielt die seitens einer modernisierten radikalen Rechten genutzte Variante dieses Ansatzes auch auf die Re-Legitimierung eines radikalen, in Teilen völkischen Konservatismus, der durch seine Verbindung mit dem historischen Faschismus über Jahrzehnte desavouiert war, gegenwärtig aber in zahlreichen Ländern (nicht nur) des Westens Erfolge feiert.
Einen ersten Versuch dieser Re-Legitimierung eines radikalen Konservatismus, verbunden mit dem Anspruch einer politischen Achsenverschiebung der Bundesrepublik nach rechts, gab es im Zuge der deutschen Vereinigung nach 1990. In den Nachwirkungen des Historikerstreites Mitte der 1980er Jahre und ermutigt durch das Ende der Nachkriegsordnung, versuchte eine intellektuelle neue Rechte auch mittels geschichtspolitischer Vorstöße, das Terrain einer am Jungkonservatismus der Zwischenkriegszeit orientierten Rechten zu erweitern. Heute ist es die AfD, die inhaltlich und in Teilen auch personell in die Fußstapfen dieses ersten Versuchs einer hegemonialen Verschiebung des vereinigten Deutschlands tritt und mittels totalitarismustheoretischer Argumentationsmuster die Relativierung der NS-Vergangenheit betreibt und den Konservatismus von der historischen Last der Verbindung mit dem Faschismus befreien will.
Geschichtspolitik der AfD
Die allseits bekannten Äußerungen von Björn Höcke zum „Mahnmal der Schande“, als die er das Holocaustmahnmal in Berlin bezeichnete, seine Forderung nach einer „180-Grad-Wende“ in der Erinnerungspolitik, die Bezeichnung der NS-Vergangenheit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte durch Alexander Gauland oder seine Forderung, stolz auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ sein zu dürfen, sind nur die bekanntesten Spitzen eines kontinuierlichen Bemühens der AfD und der mit ihr verbundenen modernisierten radikalen Rechten, den geschichtspolitischen Diskurs in Deutschland in ihrem Sinne zu beeinflussen und eine deutliche Akzentverschiebung vorzunehmen.[2]
Wie und wohin diese Akzentverschiebung genau erfolgen soll, darüber gibt es keine konkreten Aussagen der AfD und vielleicht nicht einmal Einigkeit innerhalb dieser Partei. Das Spektrum reicht von harten Formen der Holocaustleugnung und der Verherrlichung der NS-Politik bis hin zu Forderungen, die – nicht bestrittenen – negativen Seiten deutscher Geschichte zugunsten positiver Anknüpfungspunkte weiter in den Hintergrund treten zu lassen. Im Folgenden sollen Beispiele dieser unterschiedlichen Ausprägung extrem rechter und revisionistischer Geschichtspolitik der AfD aufgezeigt werden, um abschließend auf Funktion und Tradition dieser Geschichtspolitik von rechts einzugehen.
Faschismus als linke Diktatur
Zentrales Mittel geschichtspolitischer Debatten der AfD im Bundestag ist die Umdeutung der politischen Bezüge des Faschismus, der für die AfD natürlich nur als „Nationalsozialismus“ firmiert und ein linke, eben „sozialistische“ Diktatur sei, die mit der politischen Rechten, dem Konservatismus, nichts zu tun habe. Ziel dabei ist es, die Traditionslinie der radikalen Rechten in Deutschland vom historischen Stigma zu befreien, mit den Nazis zusammengearbeitet oder ihnen den Weg bereitet zu haben. Einer der Hauptakteure in diesem Zusammenhang ist der Bundestagsabgeordnete und kulturpolitische Sprecher der Fraktion, Marc Jongen, der sich in die Tradition neurechter Geschichtspolitik stellt, wie sie schon zu Beginn der 1990er Jahre entwickelt wurde.[3]
Ziel dieser Rechten war und ist die Auflösung der Spezifik der NS-Verbrechen, ihre Relativierung und darüber die Rückkehr zu einer von der Last der Vergangenheit befreiten „selbstbewussten Nation“. In einer Debatte zu einem Antrag der Fraktion DIE LINKE mit dem Titel „Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa“ (Drs. 19/4917) führt Jongen diese neurechten Argumentationsketten vor. „Der Sozialismus in all seinen Spielarten hat unendliches Leid über die Menschheit gebracht.“ (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 77. Sitzung, S. 88976) Gleich mit dem ersten Satz entledigt Jongen die politische Rechte und damit sich selbst jeder Verbindungslinie zum historischen Faschismus. Kommunismus, Nationalsozialismus – beides wird zu unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialismus und damit der politischen Linken zugeschoben. Dass die Rechte, für die Jongen steht, zu den Wegbereitern des Faschismus gehörte, soll so geleugnet werden. Bieder totalitarismustheoretisch geht es weiter, wenn er von „diesen beiden Abarten des totalitären Sozialismus“ spricht, bei denen es sich „gewissermaßen um zwei Paralleldrachen handelte, die bei allem tödlichen Hass aufeinander auch zahlreiche Strukturmerkmale gemeinsam hatten.“ (Ebd., S. 8977) Aber so ganz möchte er diese Gleichsetzung doch nicht stehen lassen und macht sich, versteckt hinter einem Zitat des Historikers Jörg Baberowski, die alte Position von Ernst Nolte im Historikerstreit zu eigen, nach der das NS-Regime nur eine Antwort auf die vorausgegangenen Verbrechen des Kommunismus gewesen sei: „… ohne die Exzesse der stalinistischen Diktatur wird überhaupt nicht verständlich, worauf der Nationalsozialismus auch eine Antwort war.“ (Ebd.)
Den Linken-Antrag lehnt Jongen selbstredend ab, weil er „durch das gezielte Weglassen der nicht minder fürchterlichen Verbrechen, die von der sowjetischen Seite an den deutschen Kriegsgefangenen, beim Vorrücken der Roten Armee dann auch an der deutschen Zivilbevölkerung begangen worden sind“ „heuchlerisch“ sei (Ebd.). Historische Verantwortung, Kausalität, Auslöser und Reaktion – all das will Jongen im totalitarismustheoretischen Einheitsbrei vermengen, um unweigerlich bei den deutschen Opfern zu landen. Denn, so der Vorwurf, der Antrag der Linken und auch die im Koalitionsvertrag fixierte Stärkung der Erinnerung an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges blende die „deutschen und osteuropäischen Opfer des Stalin’schen Vernichtungskrieges“ aus (ebd.), womit Jongen auch den für die rassistische und verbrecherische Kriegsführung der Nazis gebräuchlichen Begriff des Vernichtungskrieges gleich auf die Sowjetunion überträgt. So gehe es der Linken, laut Jongen, nicht um die Erinnerung, sondern um die moralische Zerstörung Deutschlands: „Ihnen geht es in Wahrheit darum, ein tiefes Schuldbewusstsein in Deutschland für alle Zeiten zu verankern. Vor allem den nachwachsenden Generationen wollen Sie einen moralisch zermürbenden Gedanken einpflanzen: Die Deutschen sind böse, Deutschland ist eine Verbrechernation, es wäre eigentlich besser, wenn Deutschland verschwände. Das ist doch auch Ihr erklärtes Ziel. Deutschland soll als Nation, als Land, als Volk verschwinden, es soll ein mehr oder weniger offenes Siedlungsgebiet für Migranten aus aller Welt werden und soll dann auch aufgehen in einem europäischen Superstaat, der ja schon jetzt bezeichnenderweise von Kommissaren verwaltet wird, einer EUdSSR – ganz nach Ihrem Geschmack.“ (Ebd., S. 8978)
Erst jetzt läuft Jongen zu richtiger Form auf. Deutlich wird, dass jedes öffentliche Erinnern an die NS-Verbrechen von ihm und der AfD als feindlicher Akt gegen Deutschland betrachtet wird. Höckes Forderung nach einer 180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur ist auch der Maßstab Jongens, denn wer, wie die Linke, die Erinnerung an deutsche Verbrechen wachhalten will, „ist offenkundig vom Hass auf das Eigene diktiert, und damit ist er vergiftet und verdorben.“ Für die AfD, so muss man Jongen verstehen, soll Schluss mit dieser Form der Erinnerung sein, denn man wolle kein „bewusstes Offenhalten der Wunde und keine künstlich herbeigeführte Neutraumatisierung jeder neuen Generation in Deutschland.“ (Ebd.)
Die Totalitarismustheorie bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für die AfD, um die von ihr betriebene Umwertung des deutschen Faschismus zu einer Linksdiktatur zu untermauern.
In einer Bundestagsdebatte zur Überführung der Stasiakten ins Bundesarchiv sagt Jongen: „Die Hinterlassenschaften der sozialistischen Diktatur, der zweiten auf deutschem Boden, sollen im Giftschrank eingeschlossen und einem weisungsgebundenen Beamten unterstellt werden.“ (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 115. Sitzung, S. 14035) Sein Fraktionskollege Stefan Brandner knüpft hier an, bedient sich der vulgären Art des Antikommunismus und scheut auch nicht vor der Aneinanderreihung von Unwahrheiten und platten Lügen zurück, die aber immerhin einen Blick in diese Gedankenwelt ermöglichen: „Meine Damen und Herren, die DDR mit ihrer Staatspartei SED, deren Fortsetzer und Profiteure heute hier als Die Linke immer noch sitzen, war die zweite verbrecherische sozialistische Diktatur auf deutschem Boden, die rote Diktatur nach der braunen Diktatur. Die Spitzel- und Drangsalierungstruppen der SED – vulgo Die Linke – rekrutierten sich aus den Spitzel- und Drangsalierungstruppen der NSDAP und der Gestapo. (…) Die Stasi ist immer noch präsent und regiert in Deutschland wieder mit.“ (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 115. Sitzung, S. 14043)
Die Reden Jongens und Brandners sind paradigmatisch für einen Strang neurechter Geschichtspolitik, der nicht Leugnung, sondern Umdeutung der Geschichte und ihr Verschwinden aus dem öffentlichen Diskurs als zentrale Ziele hat. Damit zielt die AfD auf die nachwachsende Generation, der ein vor allem positives Geschichtsbild vermittelt werden soll, um nationale Identifikation zu fördern. Folge davon ist, dass die Erinnerung an die NS-Vergangenheit in den Hintergrund gedrängt werden soll.
Die „lichtvollen“ Seiten deutscher Geschichte hervorheben
Im Grundsatz- und im Bundestagswahlprogramm der AfD heißt es bezogen auf den Umgang mit Geschichte in Deutschland: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“[4] Ganz in diesem Sinne verhält sich die AfD in den geschichtspolitischen Debatten in den Parlamenten.
Im April 2019 wurde im Bundestag ein Antrag der Koalition mit dem Titel „Bundesprogramm ‚Jugend erinnert‘ – Wissensvermittlung über Wirkung und Folgen von Diktatur und Gewaltherrschaft stärken“ (Drs. 19/8942) debattiert. Der Antrag ist in Teilen eine krude Gleichsetzung von NS-Diktatur und DDR, in der schon einmal „Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit oder Klassenideologie“ als Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ohne jede Differenzierung parallelisiert werden. Marc Jongen von der AfD stört sich jedoch nicht daran, sondern an der Tatsache, dass überhaupt an negative Erfahrungen der Nationalgeschichte erinnert wird: „Da ist es schon interessant, zu sehen, welche Aspekte unsere Regierung aus der deutschen Geschichte herausgreift, welche jeder jungen Generation als identitätsstiftende Kollektiverinnerungen einpflanzt werden sollen. Es sind ausschließlich negative Aspekte, meine Damen und Herren. Wichtig ist der Regierung vor allem (…), an Diktatur und Gewaltherrschaft auf deutschem Boden zu erinnern.“ (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 93. Sitzung, S. 11161) Nicht um eine Abwendung von Geschichte geht es Jongen dabei, sondern um die zentrale Frage: An was soll erinnert werden? Nach Ansicht der AfD sollen das vor allem positive historische Ereignisse sein, die dazu beitragen können, Identifikation mit der Nation zu befördern. Alles, was diese Identifikation stören könnte, soll möglichst in den Hintergrund gedrängt werden.
Was folgt daraus? Jedenfalls das Ende von Schulbesuchen in Stätten der NS-Vernichtungspolitik. Jongen führt weiter aus: „Ein ausschließlich negatives Selbstbild, wie es hierzulande schon seit Jahrzehnten kultiviert wird, ist wie ein psychisches Gift, das schleichend zum Tod des Patienten führt. Sie meinen vielleicht, es ist eine Medizin. Aber warum sollte es denn nötig sein, die Jugend durch Schocktherapie in KZ-Besuchen und ähnlichen Einrichtungen permanent vor einer möglichen Wiederholung dieser Verbrechen zu warnen? Doch nur dann, wenn man die jungen Leute als potenzielle Mörder und Verbrecher sieht, die man vor dem Bösen in sich selbst erschrecken muss.“ (Ebd.) Gefordert ist stattdessen laut Jongen eine Konzentration auf die positiven Momente deutscher Geschichte: „Aber im Zentrum unserer Gedächtnispolitik müssen die hellen, die lichtvollen Seiten der deutschen Geschichte stehen, und daher lehnen wir Ihren Antrag ab.“ (Ebd., S. 11162)
Was Jongen hier in Reden fordert, versucht die AfD anderswo in konkrete Politik umzusetzen. Die Landtagsfraktion der AfD in Baden-Württemberg schlug im Rahmen der Haushaltsberatungen im Jahr 2016 in einem Antrag vor, die Fördergelder in Höhe von 120.000 Euro für Gedenkstättenfahrten deutscher Schülerinnen und Schüler für den Besuch der NS-Gedenkstätte Gurs im benachbarten Frankreich zu streichen. Die AfD begründete ihren Vorschlag mit dem Verweis auf die notwendige Haushaltskonsolidierung und der Aussage, den Migrantinnen und Migranten müsse ein positives Bild deutscher Geschichte vermittelt werden. Wie die FAZ in einem Artikel zu diesem Vorgang anmerkte, betrugen die Haushaltsüberschüsse in Baden-Württemberg im Jahr 2016 3,5 Milliarden Euro (FAZ vom 23. Januar 2017, S. 4). In einem Änderungsantrag der AfD-Fraktion zum Landeshaushalt Baden-Württemberg 2017 im Bereich Jugend und kulturelle Angelegenheiten, bei dem es um Zuschüsse für Fahrten zu NS-Gedenkstätten geht, heißt es: „In der Erläuterung zu Ziffer 7 werden die Wörter ‚Gedenkstätten nationalsozialistischen Unrechts‘ durch die Wörter ‚bedeutsame Stätten der deutschen Geschichte‘ ersetzt.“ Als Begründung gibt die AfD-Fraktion an: „Eine einseitige Konzentration auf 12 Jahre nationalsozialistischen Unrechts ist abzulehnen.“[5]
Lange Linien neurechter Geschichtspolitik
„Vergangenheit, die nicht vergehen will“ heißt der berühmte Aufsatz Ernst Noltes, mit dem er 1986 maßgeblich den Historikerstreit auslöste. Die bedauernde Feststellung Noltes war Ausdruck eines konservativen Wunsches im Zuge der „geistig-moralischen Wende“ der Kohl-Jahre, das sich mühsam erarbeitete kritische Geschichtsbild zur NS-Vergangenheit zu revidieren.
Der Historikerstreit war der erste konzertierte Vorstoß dieser Seite, die als Barriere und Last empfundene Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus inhaltlich in ihrem Sinne umzudeuten. Mit der deutsch-deutschen Vereinigung und der medialen und publizistischen Offensive einer Neuen Rechten zu Beginn der 1990er Jahre kam zu dieser inhaltlichen Umdeutung der Wunsch hinzu, diesen Teil der Erinnerungskultur stärker an den Rand zu drängen. „Wir sollten also mit mehr Selbstvertrauen an die neue Situation herangehen und nicht glauben, daß uns diese zwölf Jahre auf die Dauer wirklich lähmen dürfen“, so ließ sich Arnulf Baring 1994 vernehmen.[6]
Umdeutung und Beseitigung der öffentlichen Erinnerung an die NS-Vergangenheit waren explizite Ziele eines traditionellen und neurechten Konservatismus in dieser Phase. Die Argumentationslinien, die sich heute bei der AfD aber auch in ihrem intellektuellen Umfeld dazu finden lassen, wurden in dieser Zeit geprägt. Mit den beiden Bänden „Westbindung“ und „Die selbstbewusste Nation“[7] traten Akteure wie Karlheinz Weißmann, Rainer Zitelmann, Heimo Schwilk, Ulrich Schacht u. a. auf den Plan, die für die Entwicklung der Neuen Rechten zum Teil maßgeblich wurden. Die Rekonstruktion „nationaler Identität“ sahen diese neurechten Intellektuellen als eine Hauptaufgabe. Voraussetzung dafür sei die Zurückdrängung der negativen Seiten deutscher Geschichte im öffentlichen Bewusstsein. Ansgar Graw, damals Autor in beiden angeführten Bänden und Referent u. a. beim Studienzentrum Weikersheim und der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen, heute Redakteur der Zeitung „Die Welt“, schrieb damals: „Gleichwohl aber muss das Bewusstsein dieser Verbrechen [des Faschismus, G.W.] seine sinnstiftende Kraft verlieren und von neueren, damit bedeutsameren Momenten der Erinnerung – positiver wie negativer Art – abgelöst werden.“[8]
Von Karlheinz Weißmann – bis zu seinem Zerwürfnis mit Götz Kubitschek Spiritus Rector dieser Richtung und wichtiger Akteur des Instituts für Staatspolitik – kamen in den 1990er Jahren wichtige Anstöße zur Umdeutung der NS-Vergangenheit, die sich heute in Argumentationslinien von Jongen und anderen in der AfD wiederfinden lassen. So war es vor allem Weißmann, der eine Reinwaschung des durch die Verbindung mit dem Faschismus kompromittierten deutschen Konservatismus vornahm, indem er Faschismus und Nationalsozialismus als Formen eines nationalen Sozialismus und ideologische Ziehkinder der politischen Linken darstellte, die sich vor allem gegen Bürgertum, Liberalismus und freien Markt gewandt hätten.[9]
Sozialdarwinismus und Antisemitismus als konstitutive ideologische Bezugspunkte des Faschismus werden von Weißmann hauptsächlich auf die sozialistische Linke zurückgeführt, wohingegen der Konservatismus sie nur taktisch gebraucht habe. Hitler und die NS-Bewegung werden zu „Revolutionären“ gegen die bürgerliche Ordnung umetikettiert, womit die Frontstellung der konservativen Eliten gegen Demokratie und Republik und ihr darauf gegründetes Bündnis mit den Nazis zum Vergessen gebracht werden soll.
Unterstützt wurde diese geschichtspolitische Linie damals u. a. durch den Ullsteinverlag, dessen zeitweiliger Cheflektor Rainer Zitelmann die Tore des Verlags für Autoren der Neuen Rechten öffnete. Zitelmann selbst trug mit seinem Buch „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“[10] und in dem zusammen mit Uwe Backes und Eckhard Jesse – nicht zufällig schon damals die beiden führenden Vertreter der Extremismustheorie im Hochschulbereich – herausgegebenen Band „Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus“[11] nicht unwesentlich zur Verbreitung dieser Umdeutung bei. Versatzstücke dieser Argumentationen finden sich auch in dem jüngst in neurechten Kreisen gefeierten und bis auf die Spiegel-Bestsellerliste gelangten Buch „Finis Germania“ von Rolf Peter Sieferle.
Trotz ihrer publizistischen Stoßkraft in der Mitte der 1990er Jahre, die sich sogar bis in die Spalten der FAZ nachvollziehen lässt, gelang es der konservativen und Neuen Rechten damals nicht, längerfristige Geländegewinne zu erzielen. Die Debatten zur Zwangsarbeiterentschädigung, zur Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg oder auch zum Holocaustmahnmal sorgten im Gegenteil für eine nachhaltige Präsenz der Erinnerung an die NS-Vergangenheit. Wehrmachtsausstellung, Goldhagen-Debatte, Walser-Bubis-Kontroverse – all das waren heftige öffentliche Debatten um die Bedeutung der NS-Vergangenheit im vereinigten Deutschland. Auch wenn sich die geschichtspolitischen Vorstellungen der Neuen Rechten in dieser Zeit nicht durchgesetzt haben, so sind sie in diesen Kreisen und darüber hinaus jedoch konserviert worden.
Zwei Spielarten von Totalitarismus- und Extremismustheorie
Totalitarismustheoretische Ansätze bilden das Bindeglied der modernisierten Rechten an einen konservativen Geschichtsdiskurs, wobei sich die neurechte Nutzung dieses Konzepts in Teilen vom etablierten Liberal-Konservatismus unterscheidet. Während das Totalitarismuskonzept in der frühen Bundesrepublik vor allem in seiner antikommunistischen Lesart eine Funktion hatte und dazu diente, die eigene „totalitäre“ Geschichte in der Auseinandersetzung mit dem noch immer totalitären Gegner im Kalten Krieg zu überdecken, hat sich diese Funktion mit dem Ende des Kalten Krieges nach und nach verändert. Von einem Beschweigen oder Verdrängen der NS-Vergangenheit kann schon seit Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein. Vielmehr hat eine spezifische Aneignung dieser Vergangenheit stattgefunden, die als moralischer Negativmaßstab zur Staatsraison des vereinigten Deutschlands geworden ist. Die verbrecherische Dimension des Faschismus wird dabei nicht relativiert, sondern im Gegenteil ins Zentrum der öffentlichen Darstellung gerückt, um den eigenen moralischen Abstand dazu umso deutlicher hervorzuheben. Die Fragen nach Ursachen, Interessen, Profiteuren und gesellschafts- und klassenpolitischen Strukturen ist demgegenüber aus der öffentlichen Debatte weitgehend verschwunden.
Ähnliches lässt sich für den Extremismusansatz beobachten, der in der Geschichte der alten Bundesrepublik vor allem ein Kampfinstrument gegen links war. Heute, nach der Erfahrung wiederholter rechtsterroristischer Wellen im Land und einer moralisch an der Auseinandersetzung mit dem historischen Faschismus geschulten kritischen Öffentlichkeit, tritt der rechte „Extremismus“ stärker in den Fokus von Staatsapparat und politischer Klasse. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass ein CSU-Innenminister einmal den „Rechtsextremismus“ als größte innenpolitische Gefahr beschreiben würde? Und während früher die SS-Vergangenheit kein Hindernis war, zentrale Positionen in deutschen Sicherheitsbehörden zu bekommen, werden Nazis in Polizei und Bundeswehr heute zu Themen von Innenministerkonferenzen. Damit haben sich Extremismus- und Totalitarismusparadigma nicht politisch verkehrt, ihr Funktion hat sich jedoch in Teilen gewandelt und aktuellen Bedürfnissen angepasst. Heute können sie als Mittel staatlicher Repression (Extremismus) und moralischer Delegitimierung (Totalitarismus) auch gegen rechts eingesetzt werden. Allerdings wird mit dem Aufstieg einer bis weit in bürgerliche Kreise erfolgreichen modernisierten Rechten immer deutlicher, dass sich diese Entwicklung mit dem Stichwort „Extremismus“ immer weniger fassen lässt.
Die modernisierte radikale Rechte bevorzugt andere Spielarten der beiden Stränge, deren totalitarismustheoretische Variante hier aufgezeigt wurde.
[1] Vgl. Johannes Klotz (Hg.), Schlimmer als die Nazis? „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ und die neue Totalitarismusdebatte, Köln 1999.
[2] Vgl. zur Geschichtspolitik der AfD auch das entsprechende Kapitel in Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges, Gerd Wiegel, Rechtspopulisten in Parlamenten. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD, Frankfurt a.M. 2018.
[3] Vgl. zu diesen Tendenzen generell: Gerd Wiegel, Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie, Köln 2001.
[4] Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, S. 48.
[5] Landtag von Baden-Württemberg, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/1404-29.
[6] Zitiert nach Wiegel, a.a.O., S. 163.
[7] Rainer Zitelmann, Karlheinz Weißmann, Michael Großheim (HG.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt a.M. 1993; Heimo Schwilk, Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und andere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin 1994.
[8] Vgl. Zitelmann, Westbindung, a.a.O., S. 380.
[9] Vgl. u. a. Karlheinz Weißmann, Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890 bis 1933, München 1998. Weißmann ist nach wie vor eine wichtige Figur des intellektuellen Teils dieser Rechten und sitzt als stellvertretender Vorsitzender im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.
[10] Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1989.
[11] Uwe Backes, Eckhard Jesse, Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., Berlin 1992.