Der gewaltfreie Anarchist bei Charlie Hebdo

Jean Cabut (13. Januar 1938 – 7. Januar 2015), genannt „Cabu“

Die fünf Zeichner, die am 7. Januar 2015 bei Charlie Hebdo neben sieben weiteren Personen kaltblütig ermordet wurden, hießen – oft mit Pseudonymen versehen – Charb, Wolinski, Cabu, Tignous und Honoré. Es wäre nicht ganz richtig, sie und die anderen JournalistInnen (Überlebende und Ermordete), oder überhaupt die Satirezeitschrift Charlie Hebdo einfach als libertär zu bezeichnen, dazu war das Spektrum zu heterogen. „Die Wochenzeitung bestand aus Anarchisten, Ökologen, Kommunisten, Trotzkisten und sie stritten sich untereinander mehr und mehr“ (1), so beschreibt es die linksliberale Tageszeitung Libération, in deren Räumen die Überlebenden, wie schon nach dem islamistischen Brandanschlag 2011 auf die Charlie Hebdo-Redaktion, Zuflucht gefunden haben.

 

Die älteren AnarchistInnen, die ich im Umfeld des Centre International de Recherches sur l’Anarchisme (CIRA) in Marseille kenne, sprachen mir gegenüber vor allem von Cabu als dem Anarchisten unter den Zeichnern.

AktivistInnen aus der War Resisters’ International-Mitgliedsgruppe Union pacifiste de France (UPF) nennen Cabu „pazifistisch“ und „antimilitaristisch“, seltener auch „gewaltfrei“ – doch das liegt an einer französischen Benennungstradition, die „pazifistisch“ von „anarchistisch“ lange abgrenzte und sich einen gewaltfreien Anarchismus nicht vorstellen konnte.

In diesen Rahmen passt dann, was der Wissenschaftler und Aktivist der französischen Antiglobalisierungsbewegung Gustave Massiah zu Cabu schreibt: „Ich erinnere mich an Mobilisierungen mit Cabu und seine Liebe zur Gewaltfreiheit“ (2), sodass man Cabu berechtigter Weise als einen gewaltfreien Anarchisten bezeichnen kann.

Und zwar einen, der, wie alle Zeichner bei Charlie Hebdo, die ja großteils wie Cabu alt geworden sind (Cabu hätte am 13.1.2015 seinen 77. Geburtstag gefeiert), die atheistische und antiklerikale Tradition des französischen Mai ’68 verkörpert: „Der antiklerikale, antimilitaristische und antiautoritäre Cabu war eine der Verkörperungen dieser Radikalität“, so erinnerte sich auch Daniel Cohn-Bendit an seine Zeit mit ihm im Mai 68. (3)

 

Cabu macht Hara-Kiri

 

Cabu gewann mit 12 Jahren bei einem Zeichenwettbewerb ein Fahrrad und sah seine erste Zeichnung veröffentlicht.

Er studierte dann Kunst in Paris. Prägend, wie auch für andere der älteren Zeichner-Riege bei Charlie, war sein Kriegsdienst bei der französischen Kolonialarmee in Algerien (27 Monate, zwischen März 1958 und Juni 1960). Zuerst zeichnete er da noch für die französische Armeezeitung Le Bled (Das Hinterland), doch gleichzeitig war diese Erfahrung entscheidend für seine radikal-antimilitaristische Wendung danach: Er wurde zum antimilitaristischen Aktivisten; scharfe Karikaturen über Militärs gehörten zu seinem Standardrepertoire und er ersann auch dementsprechende Comicfiguren wie den „Adjutanten Kronenbourg“.

In den Siebzigern und Achtzigern veröffentlichte er mehrere Comicbände mit dem Titel: „Nieder mit allen Armeen!“

1962, nach seiner Rückkehr aus Algerien, stieg er beim damals etablierten Comic-Magazin Pilote ein und lernte dort René Goscinny kennen, den Texter von „Asterix“ und „Lucky Luke“. Wer sich noch an die Zack-Comichefte seiner Kindheit erinnert, hat dabei unbemerkt viele Serien von Pilote gelesen, denn fast alle wurden sie von Zack aus dem Französischen ins Deutsche übertragen.

Meist waren es Abenteuergeschichten, Pilotenstorys (sehr kolonialistisch wie etwa „Mick Tanguy“) oder Western, bei denen heranwachsende Jungs zeitgenössische Berufsträume wie Pilot oder Autorennfahrer phantasieren konnten – bedient wurden sie dabei von einer reinen Herrenriege aus Zeichnern, was sich leider bis in die jüngste Zeit kaum verändert hat und auch Charlie brachte immer wieder sexistische Karikaturen, bekannt dafür war vor allem Wolinski.

Soweit mir bekannt wurden damals die Serien von Cabu, „Le Grand Duduche“ und „Beauf“, nicht übersetzt. Duduche ist ein großer, blonder, magerer Gymnasiast im Adoleszenzalter, im Grunde ein Autoporträt von Cabu und seinen Schulerlebnissen, der jedoch von Cabu mit der Zeit stärker ökologisch und antimilitaristisch ausgerichtet wurde. „Beauf“ – eine Bezeichnung aus der französischen Gossensprache „Argot“, einerseits eine Kurzform für beau-frère (Schwager), andererseits phonetisch dem Ausdruck BOF ähnelnd: beurre-oeuf-fromage (Butter-Ei-Käse), ein Akronym für den archetypischen Kleinladenbesitzer ohne Kultur noch Ethik – ist eine reaktionäre Stereotypen-Figur bei Cabu, der Inbegriff des „Patrons“ (Chef) eines traditionellen Bistrots oder einer Bar. Er zeichnete ihn als dickbäuchigen, vulgären, brutalen, machohaften und schwulen-/lesbenfeindlichen, voller Vorurteile steckenden, mit einem schwarzen Oberlippenbart versehenen Unsympath.

Cabu dazu: „Er wirft dir seine eigenen Wahrheiten direkt an den Kopf, er denkt absolut nie darüber nach. (...) Zuallererst liest er gar nichts. Er liest auch keine Zeitung mehr. Er verkörpert die Abschaffung des Papiers.“ (4)

Im Juni 1960 wurde die Satirezeitung Hara-Kiri gegründet, zur Hälfte Texte, zur Hälfte Karikaturen. Die Karikaturen von Cabu tauchten dort ab der Nr. 3 auf, die von Wolinski ab Nr. 7. Im Mai ’68 machten beide die kurzlebige, reine Karikaturenzeitung L’Enragé (Der Wütende; Anlehnung an eine Strömung aus der frz. Revolution von 1789). Hara-Kiri endete in einem handfesten Skandal: Am 1.11.1970 starben 146 Jugendliche durch ein Feuer in einem Tanzlokal im Departement Isère – ein „tragischer Ball – 146 Tote“, so titelte die bürgerliche Presse, anstatt die Eigentümer anzuklagen, die aus Profitgründen nicht genügend Ausgänge gebaut hatten. Kurz darauf, am 9.11.1970, starb der französische Staatsmann Charles de Gaulle in Colombey und Hara-Kiri beging ein ebensolches, in dem die Zeitung als eine Art Retourkutsche titelte: „Tragischer Ball in Colombey – 1 Toter.“

Es war der französische Staat in Form seines Innenministers, der die Satirezeitung daraufhin verbot. (5)

 

Cabu bei Charlie Hebdo, 1. Reihe (1970-1981) und beim Canard enchainé

 

Doch Cabu und Genossen änderten einfach den Namen und schon eine Woche später erschien die erste Ausgabe von Charlie Hebdo, mit ebenfalls halb Text, halb Karikaturen. Offiziell war der Name eine Würdigung der Comicfigur „Charlie Brown“ von den Peanuts, doch mit einem Augenzwinkern konnte man dabei auch eine Anspielung auf Charles de Gaulle, dem Anlass des Verbots der Vorgängerzeitung, erkennen.

Von 1970 bis 1974 verkaufte sich die Zeitung sehr gut, mit bis zu 150.000 Exemplaren. In dieser Zeit wurde Charlie Hebdo zu einem publizistischen Propagandisten der französischen Anti-AKW-Bewegung.

So schreibt das Netzwerk „Sortir de nucléaire“ in ihrem ersten Nachruf nach den mörderischen Anschlägen vom 7.1.2015:

„Tausende Leute sind zu AtomkraftgegnerInnen geworden, nachdem sie Hara-Kiri und dann Charlie Hebdo gelesen haben. Mehrere Zeichner von Charlie Hebdo, darunter Charb, der jetzige Herausgeber, haben unserem Anti-Atom-Kampf mit ihrer Bekanntheit geholfen, indem sie für mehrere unserer Blätter gezeichnet haben. Vor einigen Jahren hat Cabu unsere Kampagne gegen Atomwaffen unterstützt. Wir wünschen Fabrice Nicoline [wurde verletzt, überlebte aber die Anschläge; L.M.] gute Besserung, dem Autor der bedeutenden Sonderausgabe ‚Der Atomschwindel’.“ (6)

Doch mit dem Niedergang der sozialen Bewegungen und nach dem Rückschlag für die Anti-Atom-Bewegung durch die Repression der Massendemo gegen den Schnellen Brüter in Malville, 1977, mit einem Toten, sank die Auflage stetig auf zuletzt 30.000 und die Zeitschrift wurde, überhäuft von Schulden, 1981 sang- und klanglos eingestellt.

Cabu zeichnete fortan für alle möglichen Zeitungen, auch für Musik- und Jazzmagazine. Er wurde bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern Frankreichs zum versierten Vorläufer der spontanen Ereigniskarikatur, einer Begleitsatire bei Direktübertragungen – ein Genre, das in BRD-Fernsehkanälen nahezu unbekannt ist. Hauptsächlich stieg er aber bei der altehrwürdigen, schon 1915 gegründeten, investigativen Journalismus betreibenden Wochenzeitung Le Canard enchaîné („Canard“ ist ein Argot-Ausdruck für Zeitung; enchaîné, an Ketten gelegt, steht für die Bedrohung durch Zensur) ein, eine hauptsächliche Textzeitung mit nur begleitenden Karikaturen anstatt von Fotos. Dort lernte etwa der libertäre Filmemacher und Mitglied der Union pacifiste, Bernard Baissat, Cabu kennen und schätzen, bei dem er eine „große Gutmütigkeit und die völlige Abwesenheit von Hass“ erlebte. Baissat: „Cabu kannte meinen Dokumentarfilm über [die Anarchistin; L.M.] May Picqueray, die Korrekturleserin beim Canard enchaîné gewesen war. (...) Cabu liebte meinen Film über Eugène Bizeau, den gewaltfreien Poeten [und Chansonnnier; L.M.], dem er selbst dann auch einen Comicband widmete.“ (7)

Anfangs der Neunzigerjahre gab es jedoch einen handfesten Streit beim Canard: Weil der Canard nicht eindeutig gegen den Golfkrieg 1991 Stellung bezogen hatte, gründeten Cabu und Wolinkski eine antimilitaristische Satirezeitung zur Unterstützung der Antikriegsbewegung mit dem wundervollen Namen La Grosse Bertha (Die Dicke Bertha; benannt nach der großen Krupp-Kanone aus dem Ersten Weltkrieg, über die sich Chaplin zu Beginn seines Films Der große Diktator lustig gemacht hatte). Hier kam nun eine jüngere Zeichner-Garde hinzu: Riss, Charb, Luz, Val. La Grosse Bertha ging dann über in die Wiederbegründung von Charlie Hebdo.

 

Cabu bei Charlie Hebdo, 2. Reihe (1992 bis heute) und ihre internen Auseinandersetzungen bis zu den Attentaten

 

Schon in der ersten Ausgabe der 2. Reihe im Juli 1992 prangerte Charlie Hebdo den geplanten Bau eines Schnellen Brüters in Südfrankreich an. Die 16-seitige Zeitung, halb Text, halb Karikaturen, konnte die Auflage kontinuierlich steigern bis zu einem Höhepunkt im Jahre 1996, zum Tod von François Mitterand, mit einer Auflage von 122.000 (heute, vor den Anschlägen, 60.000). Die Kritik des Blattes richtete sich anfangs oft gegen säkular-befreiungsnationalistische Guerillagruppen wie der korsischen oder der baskischen Guerilla oder auch gegen regionalistisch-identitäre Bewegungen im Elsass oder in der Bretagne – alles ganz nach dem antimilitaristischen Geschmack von Cabu. Ebenso bemerkenswert: Das Eintreten der Zeitung für Tierrechte und die Unterstützung von Kampagnen gegen den Stierkampf. Doch bald kam es zu einschneidenden Konflikten: Der neue Herausgeber der 2. Reihe, Philippe Val, sprach sich Ende der Neunzigerjahre für die NATO-Bombardierung Serbiens anlässlich des Kosovo-Krieges aus und kandidierte für die französischen Grünen bei den Europawahlen 1999. (8)

Wolinski dagegen hatte sich zum Fidel Castro-Fan gewandelt und unterstützte die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan 1989. (9) Beides waren Positionen, die Cabu nicht teilte, noch kam es aber nicht zum Bruch. Val machte sich langsam große Teile der Redaktion zu seinem Feind. Bereits 2001 ging einer der Jüngeren, der erklärte Libertäre Olivier Cyran, seit 1992 dabei, der nicht nur Vals militaristische Positionen kritisierte, sondern bald auch und bis heute dem Blatt Rassismus durch quantitativ und qualitativ sich steigernde Angriffe auf den Islam vorwarf.

Auch nach den Anschlägen vom 7.1.2015 nahm Cyran bei seiner Verurteilung der Attentate nichts von seiner Kritik zurück. Und in der Tat muß man dem Rassismus-Vorwurf – im Kern: Es wird sich nicht mehr über Herrschende und Unterdrücker, sondern über Unterdrückte lustig gemacht! – bei manchen Karikaturen zustimmen, etwa bei einer Titelseite nach der Entführung von 200 Mädchen durch Boko Haram in Nigeria mit einer Karikatur von Sexsklavinnen (gezeichnet von Riss) und der Überschrift: „Die Sexsklavinnen von Boko Haram in Wut: Hände weg von unserem Kindergeld!“ (10) Nachdem Val gegen die französische Linke den Zionismus verteidigt hatte, verließ 2004 auch der linksradikale Soziologe Philippe Corcuff die Zeitschrift. Und Val setzte 2005 noch eine interne Provokation drauf, als er für ein Ja beim französischen Referendum zur europäischen Verfassung eintrat, das jedoch durch ein Nein mit 55 % entschieden wurde. (11)

Zunächst gab es aber noch einmal einen großen gemeinsamen Erfolg für Val, Cabu und die gesamte Redaktion, nämlich den Prozess von 2007 aufgrund der von Charlie Hebdo im Jahr 2006 in einer Sondernummer mit einer eigenen Cabu-Mohammed-Karikatur auf dem Titel nachgedruckten Mohammed-Karikaturen der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten (siehe Filmbesprechung in dieser GWR).

Doch Philippe Val intensivierte die noch beim Prozess eher als kurios belächelten Kontakte zu Nicolas Sarkozy, der die Zeitung dort verteidigt hatte. Und die damalige Freundin des Zeichners Charb, Jeannette Bougrab, politisch sozialisiert bei Sarkozys konservativer Partei UMP, dort Parteisekretärin und 2007 Wahlkandidatin, wurde später, 2010, auch noch unter dem Präsidenten Sarkozy Staatsministerin. (12)

Am 2.7.2008 platzten schließlich die inneren Querelen, als der Zeichner Siné (Maurice Sinet) eine umstrittene Textsatire über einen Fahrerfluchtprozess von Jean Sarkozy, dem politischen Emporkömmling und protegierten Sohn des Präsidenten, der gegen einen arabischen Kläger freigesprochen wurde, und die „jüdische“ (Siné) Freundin von Jean Sarkozy veröffentlichte, die von Val als „antisemitisch“ eingestuft wurde.

Siné wurde von Val am 15.7.2008 rausgeschmissen – ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte von Charlie Hebdo; Cabu hatte versucht, Siné zu halten. Peinlich war für Val dabei vor allem, dass er erst tagelang gar nichts dazu sagte und erst nach Druck aus dem Sarkozy-Umfeld plötzlich aktiv wurde. Später wurde Siné in zwei Gerichtsurteilen dieser „Affaire Siné“ 2010 und 2012 vom Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen und Charlie Hebdo zu Schadenersatzzahlungen von 40.000 und 90.000 Euro verurteilt. Ein Teil der Redaktion sah den Rauswurf Sinés als „Opfer auf dem Altar Sarkozys“ und verurteilte die Nähe Vals zum Präsidenten, bis dieser endlich 2009 aufgab und einen lukrativen Karriereposten bei Radio France annahm. Charb, Riss, Cabu und Bernard Maris teilten sich nun die Mehrheit der finanziellen Anteile am Blatt. (13)

Im November 2011 machten die Islamisten dann zum ersten Mal ernst: Nach einer erneut islamismuskritischen Ausgabe „Charia Hebdo“ anlässlich des Wahlsieges der islamistischen Partei Ennahda in Tunesien flog ein Molotow-Cocktail in die Redaktionsräume im 20. Pariser Arrondissement, die ausbrannten. Man glaubte schon, das sei das Ende.Doch die Redaktion wurde zwei Monate lang, wie auch jetzt wieder, von der Zeitung Liberation aufgenommen, bis neue Räume gefunden waren. Die neuerlichen Mohammed-Karikaturen des Blattes im September 2012 wurden dann von vielen Seiten in der Öffentlichkeit als Ausdruck einer Obsession wahrgenommen. Interessant ist, dass aus diesem Anlass nicht nur der neue Premierminister der Sozialistischen Partei unter Hollande, Jean-Marc Ayrault, von einer exzessiven Auslegung der Meinungsfreiheit sprach, sondern sich auch der CRIF (Conseil représentatif des institutions juives de France), das französische Pendant zur Jüdischen Gemeinde in Deutschland, öffentlich von Charlie Hebdo distanzierte – ganz im Gegensatz zu den Stellungnahmen von heute, nach den Morden. Die aufrechte, angeblich einheitliche Verteidigung der Pressefreiheit, die heute von offizieller Seite und den religiösen Organisationen als selbstverständlich dargestellt wird, unterlag in der Geschichte doch allzu häufig politischen Opportunismen – davon war auch Charlie Hebdo selbst nicht immer ausgenommen. Und es steht zu fürchten, dass das auch künftig so sein wird. (14)

Überlassen wir Cabu die letzten Worte, zunächst aus einem Interview im Jahre 2011: „Der Pressekarikaturist muss notwendiger Weise gegen alles sein. Es fällt ihm schwer, etwas Gutes über jemanden zu sagen.“ (15)

Im Oktober 2014, anlässlich des Erscheinens der Gesamtausgabe seiner rund 35.000 Zeichnungen und Karikaturen in einem Zeitraum von 60 Jahren, L’Intégral, meinte er in einem Interview fast naiv optimistisch, der uninformierte Boeuf, den er gezeichnet habe, existiere heute nicht mehr. Und, wohl mit Blick auf die Erfolge der Schwulen/Lesben-Bewegung: „Die Leute trauen sich heute Dinge zu sagen, die sie vor zehn Jahren noch nicht zu sagen gewagt hätten.“

Ist das wirklich so oder ist es die Selbstlegitimation des provokanten avantgardistischen Tabubrechers, der auf eigenes Risiko die Tore öffnet, durch die dann andere gefahrloser hindurchgehen können? Auf die Frage, was denn die Nachwelt über ihn wissen solle, meinte er: „Er zeichnete mit der Feder.“ (16)

 

Lou Marin

 

Anmerkungen:

(1): Frédérique Roussel, Isabelle Hanne: „Charlie“, satire dans tous les sens, in: Libération, 8. 1. 2015, S. 9.

(2): Gustave Massiah: Le choc de l’évènement, auf der Website Alternatifs 44: www.alternatifs44.com/2015/01/le-choc-de-levenement-par-gustave.html. Der Text wurde einen Tag später in Libération, 11.1.2015, S. 15, unter dem Titel „Nous ne sommes pas tous le même Charlie“ abgedruckt.

(3): Zit. nach: Clément Ghys, Mathieu Lindon: La Grand Cabuche, in: Libération, 8.1.2015, S. 10.

(4): Zit. nach dem Stichwort „Boeuf“ auf Wikipedia-Französisch.

(5): Vgl. Ariane Chemin, Marion van Renterghem: „Charlie“ de censures en fatwas, in: Le Monde, 9. 1. 2015, S. 16.

(6): Erklärung von „Sortir du nucléaire“, 7.1.15.

(7): Erklärung von Bernard Baissat, Union pacifiste: Le rire de Cabu. Ich danke René Bourget für die Vorabzusendung dieser für eine Ausgabe der Union pacifiste nach den Anschlägen geplanten Stellungnahme; Übersetzung: Lou Marin.

(8): Vgl. Roussel, Hanne, siehe Anm. 1, a.a.O., S. 9.

(9): Didier Péron: Wolinski, athée et atterré, in: Libération, 8. 1. 2015, S. 15.

(10): Siehe dazu seine ausführliche Begründung, Olivier Cyran: „Charlie Hebdo“, pas raciste? Si vous le dites..., in der relativ neuen Hintergrundzeitung Article 11, vom 5.12.2013: www.article11.info/?Charlie-Hebdo-pas-raciste-Si-vous. Stellungnahme vom 11.1.2015 von Olivier Cyran: Aux fossoyeurs de tous bords: www.article11.info/?Aux-fossoyeurs-de-tous-bords

(11): Vgl. Chemin, Renterghem, siehe Anm. 5, a.a.O., S. 17.

(12): Daniel Schneidermann: Cabu et Wolinski, nos tours jumelles, in: Libération, 12.1.2015, S. 37.

(13): Vgl. das Stichwort „Affaire Siné“ auf Wikipedia-Französisch; Zitat zu Sarkozy bei: Chemin, Renterghem, siehe Anm. 5, a.a.O., S. 17.

(14): Ebenda, a.a.O., S. 17.

(15): Frédéric Potet: Cabu, dessinateur, in: Le Monde, 9.1.2015, S. 18.

(16): Zit. nach: Clément Ghys, Mathieu Lindon, siehe Anm. 3, a.a.O., S. 11.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 396, Februar 2015, www.graswurzel.net