Klimaversprechen des Koalitionsvertrags

I. „Ausrichtung auf den 1,5-Grad-Pfad“?

Lt. Koalitions-Vertrag (KV, zitiert nach Zeilenzahl) haben die Klimaschutzziele von Paris – Art. 2 des Abkommens sieht eine Begrenzung der globalen Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf deutlich unter 2° C, möglichst aber auf 1,5° C vor – „oberste Priorität“ (Präambel 52). Die neue Bundesregierung will den Ausbau der Erneuerbaren Energien „zu einem zentralen Projekt ihrer Regierungsarbeit“ machen und „national, in Europa und international unsere Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik auf den 1,5-Grad-Pfad ausrichten“ (1757/1758). Sie kündigt an, „einen verlässlichen und kosteneffizienten Weg zur Klimaneutralität spätestens 2045 technologieoffen aus[zu]gestalten“ (1763/1764). Wie sind diese allgemeinen Aussagen und Ziele zu beurteilen?

2020 hatte der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) unmissverständlich festgestellt, dass die von der GroKo mit dem Klimaschutzgesetz vom Dez. 2019 und dem Klimaschutzprogramm 2030 festgelegten Minderungsziele für klimawirksame Treibhausgase (bis 2030 Reduktion der CO2-Emissionen um 55% gegenüber 1990) mit Blick auf die völkerrechtlich verbindlichen Klimaschutzziele von Paris völlig ungenügend („nicht Paris-kompatibel“) sind. Das Klimaschutzgesetz ging damals von einer Treibhausgasneutralität bis 2050 aus. Der Sachverständigenrat rechnete vor, dass für die BRD ab dem 1. Januar 2020 ein CO2-Budget – d.h. ein gerade noch zulässiges restliches CO2-Emissionsvolumen bei Einhaltung des Pariser Abkommens (1,75°C-Ziel, 67% Wahrscheinlichkeit der Einhaltung) – von 6,7 Gt (Gigatonnen) bestehe. Bei linearer Reduktion der Emissionen reiche dieses Budget maximal bis 2038. Gehe man vom 1,5°C-Ziel (50% Wahrscheinlichkeit der Einhaltung) aus, so ergebe sich ein Budget von 4,2 Gt CO2, das bei linearer Reduktion bereits 2032 aufgebraucht wäre.[1] Nach dem Bundesverfassungsgerichtsentscheid vom April 2021, der die Verbindlichkeit der Pariser Klimaschutzziele unterstrich, wurde das Klimaschutzgesetz zum August 2021 zwar novelliert (Reduktion der Emissionen bis 2030 um 65%, Klimaneutralität 2045), es blieb aber weiter „Paris-inkompatibel“. Ebenso wenig kam die Bundesregierung der Aufforderung des SRU nach, durch Bezug auf das für die BRD verbleibende restliche CO2-Budget eine öffentlich transparente Beurteilungsgrundlage für die Reduktions- und Klimaneutralitätsziele zu geben.[2]

Danach sucht man auch im KV und in der am 11. Januar 2022 vom zuständigen Minister vorgestellten „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“[3] vergebens. Das aktuelle, bei Berücksichtigung der Emissionen der letzten beiden Jahre für Anfang 2022 noch gegebene CO2-Restbudget müsste aber einer solchen „Eröffnungsbilanz“ zugrunde gelegt werden. Bei Annahme einer linearen Emissionsreduktion zeigt sich dann, dass in Deutschland spätestens Mitte der dreißiger Jahre (ca. 2035) Klimaneutralität erreicht sein müsste, wenn die BRD ihren Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung auf zumindest 1,75°C leisten sollte.[4] Der KV geht aber (wie das derzeit noch gültige Klimaschutzgesetz der GroKo) weiter von Klimaneutralität erst 2045 aus.[5] Insofern kann keine Rede davon sein, dass die Klimapolitik hier ernsthaft „auf den 1,5-Grad-Pfad“ ausgerichtet werden soll. Sie orientiert, stellt man in Rechnung, dass eine 1:1-Umsetzung der im KV vorgegebenen Minderungsziele nach allen bisherigen Erfahrungen der Klimapolitik extrem unwahrscheinlich ist, eher auf einen 2-Grad+-Pfad.

II. Zielvorgaben

Bei den klimapolitischen Zielvorgaben für die einzelnen Wirtschaftssektoren stehen die Vorgaben für die Energiewirtschaft/Energieerzeugung im Vordergrund (1750ff.). Der KV erwartet einen gegenüber heute (562 TWh [pv-magazine 15.12.21]) stark erhöhten Bruttostrombedarf von 680-750 TWh 2030, der zu 80% aus erneuerbaren Energien gedeckt werden soll (heute: 41% [FAZ 30.12.21]). Für den Anstieg sind u.a. verantwortlich die bis 2030 erwartete Zulassung von 15 Mio. vollelektrischen PKW, der Ausbau der Elektrolysekapazität für Wasserstoff (H2) auf 10 GW (bisherige Planung 5 GW) und der geforderte Anteil von 50% klimaneutraler Wärmeerzeugung (u.a. Wärmepumpen) in 2030 (2020: 15,6% [UBA 15.11.2021]). Um den 80%-Anteil erneuerbarer Energien am Strombedarf 2030 abdecken zu können, soll die Photovoltaikkapazität bis 2030 auf 200 GW vervierfacht [2021: 54 GW, https://strom-report.de/
photovoltaik/] werden, wobei bei Neubauten alle geeigneten Dachflächen für Solarenergiegewinnung genutzt werden sollen: im gewerblichen Bereich verpflichtend, im privaten Bereich im Regelfall. Die Projektion sieht vor, dass für Windenergiegewinnung bis 2030 2% der Landfläche (heute: 0,5% [UBA 29.11.2021]) genutzt werden und auf See 30 GW Windenergiekapazität verfügbar sind mit Steigerung bis auf 70 GW 2045. Ferner werden eine quantitativ nicht unterlegte „nachhaltige Biomasse-Strategie“ und eine „stärkere Nutzung“ von Geothermie eingeplant (1866/1869). Durch diesen Ausbau soll zumindest zum Teil der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung bis „idealerweise“ 2030 (1891) ermöglicht werden. Für die Absicherung des steigenden Strom- und Energiebedarfs „zu wettbewerbsfähigen Preisen“ (1896) sind – ohne Größenordnungen zu nennen – ein Zubau von modernen Gaskraftwerken, die später auf H2 umstellbar sein sollen, vorgesehen sowie „europäische und internationale Energiepartnerschaften“ (1940), also entsprechende Energieimporte. Fossile Energiebrennstoffe sind bis 2045 weiter eingeplant (2116). Der Anteil unvermeidbarer CO2-Restemissionen wird auf 5% geschätzt, die durch CO2-Abscheidung und -speicherung gebunden werden sollen (CCS; vornehme Umschreibung als „technische Negativemissionen“, 2111). Zu Umfang und Kosten des erforderlichen Aus- und Umbaus der Stromtrassen (Übertragungs- und Verteilnetze) und Energie-Infrastrukturen (Speicherkapazitäten usw.) – die u.a. von der regionalen Verteilung des Ausbaus von Windkraft abhängig sind – gibt es keine konkreten Angaben.[6]

Wenn in der „Eröffnungsbilanz“ festgestellt wird, der Energiesektor müsse „den Großteil der nationalen Klimaschutzziele bis 2030 erbringen“ [S. 11], so hat das zwei Gründe: Erstens ist die Energiewirtschaft (wegen der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen) der größte Emissionssektor (2020: 30% der CO2-Emissionen). Zweitens soll sie durch den massiven Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen (von 246 TWh 2020 auf ca. 600 TWh 2030) die Voraussetzung dafür schaffen, dass in anderen Sektoren des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses (Industrie, Verkehr, Gebäude-Wärme etc.) von fossilen auf (weitgehend) CO2-freie Energiequellen umgestellt werden kann (sog. „Sektorenkopplung“).

Diese Grundorientierung und die im KV zusammengestellten Zielprojektionen sind im Einzelnen nicht neu und werden in der energiepolitischen Diskussion seit langem verhandelt. Der KV stimmt hier im Grundkonzept und bis in das Zahlenwerk mit den Studien z.B. von Prognos/Öko-Institut/Wuppertal-Institut („Klimaneutrales Deutschland 2045“, Juni 2021) oder dem BDI („Klimapfade 2.0. Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft“, Oktober 2021) überein.[7]

Mit Blick auf die einzelnen Wirtschaftssektoren enthält sich der KV jeglicher quantifizierenden Vorgaben zu CO2-Reduktionserfordernissen. Für Rohstoff- und Energieeinsparung gibt es keinerlei Auflagen. Demgegenüber wird die „Eröffnungsbilanz“ deutlicher. Sie gibt sektorspezifische Reduktionsziele für 2030 gegenüber 2019 an.[8] Für den Verkehrssektor sieht der KV keinerlei Begrenzung des motorisierten Individualverkehrs (nach Zahl, Gewicht, Energieverbrauchskennziffern o.ä. von PKWs) vor. Er will alle Voraussetzungen schaffen, um die Zulassung der schon genannten 15 Mio. vollelektrischen PKW in 2030 und den „vorlaufenden“ Ausbau der Ladeinfrastruktur zu ermöglichen (1643, 1655). Deutschland soll „Leitmarkt für Elektromobilität“ (796, 1643) werden. Ein Ausstiegsdatum für Verbrenner wird nicht genannt, zumal „technologieoffen“ synthetische Kraftstoffe gefördert werden sollen. Es gibt explizit kein generelles Tempolimit (1688), keine Einschränkung von Inlands-/Kurzstreckenflügen usw. usf. Einen Schwerpunkt auf systematischen Ausbau des ÖPNV sucht man vergebens. Bis 2030 sollen der Schienenpersonentransport (d.i. Fernverkehr) verdoppelt, der Schienengüterverkehrsanteil auf 25% (heute: 18%) gesteigert werden (1572). Das ist alles zur „Verkehrswende“.

III. Regulation

Der KV sieht grundsätzlich drei Instrumente vor, um die „Dekarbonisierung“ von Produktion und Konsumtion auf marktwirtschaftlichem Wege zu erreichen:

a) Verteuerung fossiler Brennstoffe durch CO2-Bepreisung. Das betrifft zuerst das europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS), dem heute die Energiewirtschaft und energieintensive Industriebetriebe sowie der innereuropäische Luftverkehr unterliegen. Der KV plädiert für einen europäischen CO2-Mindestpreis (Anpassung in der vierten Handelsperiode im Rahmen des „Fit-for-55“-Programms) und will ggfs. dafür sorgen, dass er nicht unter 60 Euro fällt [2043]. Es soll später (2030er Jahre) auf die Sektoren Wärme und Verkehr ausgeweitet werden („ETS 2“, 2034/2047). Der zweite Hebel ist das deutsche Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) von 2019. Hier ist aber seit langem bekannt, dass die Lenkungswirkung der CO2-Bepreisung zur Umsteuerung auf die Einführung von treibhausgasfreien oder -armen Verfahren und Produkten real sehr schwach ist, weil bestehende Infrastrukturen und Verfahren i.d.R. große Kostenvorteile haben („Lock-in“-Situation), so dass entsprechend wirksame CO2-Preise sehr hoch sein müssten, was politisch wiederum kaum durchsetzbar ist. Das DIW konstatiert deshalb: „Die nationalen Klimaziele für 2030 und 2045 lassen keinen Spielraum, um auf die Lenkungswirkung einer CO2-Bepreisung zu hoffen.“ [9] Der Sinn der CO2-Bepreisung besteht, so das DIW, vielmehr darin, öffentliche Einnahmen zu erwirtschaften, die dann für die direkte Förderung der Unternehmen (Investitionsanreize, staatliche Förderprogramme für Investitionen in CO2-arme Technologien) eingesetzt werden können.

b) Daher dreht sich alles um die staatliche Förderung privater Kapitalinvestitionen für CO2-neutrale Produktions- und Infrastruktureinrichtungen. Der KV hält hierzu eine Unzahl von Ankündigungen für entsprechende staatliche Investitions- und Forschungsförderungen, für Steuererleichterungen („Superabschreibungen“ [5572]) und Preisgarantien, für sog. „carbon leakage Schutz“[10] auf nationaler Ebene wie im Rahmen eines „internationalen Klimaclubs mit einheitlichem CO2-Mindestpreis und einem gemeinsamen CO2-Grenzausgleich“  (764/765) usw. bereit, durch die insgesamt „attraktive Investitionsbedingungen“ (1975) geschaffen werden sollen. Der KV setzt in allererster Linie auf die Mobilisierung privater Investitionen durch staatlich garantierte Profitanreize, also öffentliche Gelder und Vergünstigungen. Das wird von den Unternehmer-Verbänden (wie in den zitierten Studien von BDI und VCI) auch unermüdlich als entscheidende Voraussetzung gefordert, da nur so „Wettbewerbsfähigkeit“ der Unternehmen als Voraussetzung entsprechender Innovationen gesichert werden könne. Dies ist eine der Formen der Abwälzung der Transformationskosten seitens der Unternehmen, die hier über den Staatshaushalt (Steuern) vermittelt wird. Dazu gehören auch staatliche, aus Steuermitteln finanzierte Direktinvestitionen in allgemeine Produktionsvoraussetzungen (Infrastruktureinrichtungen), die der privaten Kapitalverwertung zugutekommen.

c) Daneben spielen auch ordnungsrechtliche Vorgaben eine Rolle. Dazu sollen das Klimaschutzgesetz geändert und im Rahmen eines entsprechenden Sofortprogramms eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen auf den Weg gebracht werden. Dies betrifft z.B. Solarpflicht für gewerbliche Neubauten (jedoch nicht im Gebäudebestand) oder die angekündigte Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren mit gesetzlich garantiertem Vorrang für Erneuerbare Energien bei Schutzgüterabwägung (1811ff), ein extrem konfliktträchtiges Feld, bei dem heute bestehende demokratische Rechte eingeschränkt werden dürften. Ein schon bestehendes ordnungsrechtliches Instrument ist z.B. auch die (europäische) CO2-Grenzwerteverordnung für PKW und leichte Nutzfahrzeuge, deren mögliche Verschärfung gegenwärtig in der Diskussion ist. Hier stecken aber, wie überall, viele Probleme im Detail; ein gesetzliches Vorziehen des Kohleausstiegs würde z.B. weitere Entschädigungsforderungen der Energiekonzerne nach sich ziehen, wenn dieser Ausstieg nicht Folge der CO2-Bepreisung im EU-ETS wäre.

Der KV sieht die Institutionalisierung einer ganzen Reihe von Lenkungs- und Abstimmungsforen vor – eine Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ (1981), eine „Strategieplattform Transformation Automobilwirtschaft“ (807/808), eine „Plattform“ für Luftfahrt (820). Generell soll es darum gehen, im Dialog mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden eine „Allianz für Transformation zu schmieden“ (2090), um „verlässliche Rahmenbedingungen für die Transformation“ zu besprechen. Diese Foren dienen in der vorgestellten Form nicht der Demokratisierung von Entscheidungsprozessen– über ihre Befugnisse wird nichts gesagt – , sondern es dürfte sich eher um den Versuch handeln, Gewerkschaften und Sozial- wie Umwelt- und Klimaverbände in das vorgestellte Transformationskonzept einzubinden, um Konflikten möglichst im Vorfeld zu begegnen.

IV. Wer trägt die Kosten?

Die marktwirtschaftliche Steuerung der angestrebten Energiewende wird von einer Koalition betrieben, die auf soziale Umverteilung zugunsten der lohn- und sozialabhängigen Bevölkerung explizit verzichtet – Verzicht auf stärkere Besteuerung der großen Einkommen und Vermögen – und der wachsenden sozialen Polarisierung nicht entgegentritt (die angekündigte Erhöhung des Mindestlohnes und die Kindergrundsicherung sind dafür ja kein Ersatz). Die Kosten der Transformation in Richtung Klimaneutralität, die für die nächsten anderthalb Jahrzehnte auf 50-60 Mrd. Euro/Jahr[11] geschätzt werden, sollen – darauf laufen die zahllosen Förderungsversprechen des KV hinaus – weitgehend auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Eben darin kommt die „Eigentumsfrage“ zum Ausdruck: Die staatliche Förderung privater Kapitalverwertung soll zum Vehikel eines „grünen Kapitalismus“ werden. Das bedeutet zwangsläufig zusätzliche soziale Belastungen. Zwar heißt es allgemein: „Wir setzen auf einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Instrument, verbunden mit einem starken sozialen Ausgleich und werden dabei insbesondere Menschen mit geringen Einkommen unterstützen.“ (2026-2028) Aber damit Ende der Durchsage. In der „Eröffnungsbilanz“ spielte „sozialer Ausgleich“ keine Rolle. Das, wie aktuell zu hören, „angedachte“ Klimawohngeld (Wohngeld-Umstellung bei Hartz IV von Bruttokalt- auf Bruttowarmmiete) dürfte wohl nicht der „starke soziale Ausgleich“ sein; vom „Klimageld“ (2053) hat man auch nichts Weiteres gehört. Im Wahlkampf war noch versprochen worden, Einnahmen aus der CO2-Bepreisung (BEHG, ETS) für Pro-Kopf-Ausgleichszahlungen zur Kompensation steigender Energiepreise zu verwenden, was die einkommensschwachen Schichten, die einen absolut geringeren Pro-Kopf-Energieverbrauch haben bei überdurchschnittlichem Anteil der Energiekosten am Haushaltsbudget, etwas begünstigt hätte. Jetzt sieht der KV die Finanzierung der EEG-Altlasten aus diesen Einnahmen vor. Das senkt zwar etwas den (inzwischen stark angestiegenen) Strompreis, begünstigt aber die oberen sozialen Schichten mit höherem pro-Kopf-Verbrauch. Zudem wird industriellen Großverbrauchern, die zu Dutzenden in den letzten Jahren geschätzte 10 Milliarden Euro durch betrügerische Umgehung der EEG-Abgabe (sog Scheibenpachtmodelle zur Erlangung des „Eigenstromprivilegs“ [z.B. Der Spiegel 50/2021, S. 74]) gespart hatten, auch zukünftig Strombezug „zu wettbewerbsfähigen Preisen“ garantiert [770, 1928]. Überlegungen wie die, dass dort, wo öffentliches Geld fließt, auch öffentliche Kontrolle ausgeübt werden muss, dass öffentlichem Eigentum als Steuerungsinstrument in der Klimafrage (z.B. auf der Ebene der Kommunen) größere Bedeutung zukommen müsste usw., die in der Vergangenheit bei Grünen und Sozialdemokraten ja durchaus zu hören waren, spielen im KV keine Rolle.

Einzelne soziale Kompensationszahlungen – mit dem in allen Klimaneutralitäts-Studien, auch der Unternehmerverbände, als wichtig unterstrichenen Ziel, „die Menschen mitzunehmen“ – dürften angesichts des Grundtrends steigender Preise (insbesondere Energiepreise), steigender sozialer Belastungen und wachsender sozialer Polarisierung kaum Wirkung entfalten. Und sie werden, wie die aktuellen Debatten schon zeigen, auch angesichts „knapper Haushaltsmittel“ rasch auf Widerstand stoßen. Statt dessen dürfte sich hier ein Feld zukünftiger sozialer Mobilisierung von rechts gegen die Energie- und Klimawende als „Klima-Diktatur“ und „Klima-Abzocke“ auftun.

Dem könnte nur mit einer breit angelegten Strategie von links begegnet werden, in der in umfassender Weise das Plädoyer für raschen Klimaschutz mit Forderungen gegen die zunehmende soziale Polarisierung, gegen die Abwälzung der Klima-Transformationskosten auf die lohn- und sozialabhängige Bevölkerung und für öffentliche Kontrolle/Mitbestimmung, z.B. in Form der vorgeschlagenen „Transformationsräte“ (auf kommunaler, regionaler, staatlicher wie Unternehmensebene) bei allen mit öffentlichen Mitteln geförderten Projekten und Investitionen verbunden würde. (Die IG Bau hat z.B. gerade erst darauf hingewiesen, dass der hohe Anteil der motorisierten Pendler mit den hohen Mieten in Ballungsräumen zusammenhängt. Hier muss, wer etwas für das Klima tun will, für sozialen Wohnungsbau sorgen, und – Arbeitsplatzangebot in der Fläche – etwas für eine ausgewogene Regional- und Strukturentwicklung.)

V. Schlussbemerkung

Nur angemerkt werden kann hier Folgendes:

Der KV bindet die Lösung eines – durchaus zentralen – ökologischen Problems an die Profit- und Wachstumslogik des Kapitals. Dabei bedarf es, da die Einzel-Kapitale konkurrenzbedingt aus sich heraus eine solche (technologisch durchaus realisierbare) Transformation wie die Umwälzung der fossilen energetischen Basis des Kapitalismus zugunsten der erneuerbaren Energien unter gegebenen Bedingungen nicht bewerkstelligen können, politischer Maßnahmen und des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Der KV will das durch massive staatliche Förderung des privaten Kapitals – direkt und über öffentliche Investitionen –, durch Profitanreiz und Wachstumsversprechen bewirken. Daher ja auch die weitestgehend ungeteilte Zustimmung der Unternehmerverbände, z.B. des BDI. Dass eine solche Umwälzung aber mit großen Ressourcenverbräuchen und Abfallproduktion an anderer Stelle verbunden ist, wird überhaupt nicht reflektiert. Gerade erst hat das Stockholmer Resilience-Centre einen Bericht zur längst erfolgten Überschreitung der planetaren Tragfähigkeitsgrenzen für synthetische Chemikalien veröffentlicht. Seit 1950 hat sich deren Produktion verfünfzigfacht, für 2050 wird eine erneute Verdreifachung dieses Wertes erwartet.[12] In der Vergangenheit durchaus erreichte Effizienzverbesserungen bei der Energienutzung wurden durch das Wachstum immer überkompensiert. Der KV löst das Klimaproblem aus dem Zusammenhang der globalen ökologischen Probleme und forciert mit der Fetischisierung des Wachstums als Treiber deren Zuspitzung.[13]

Schließlich und endlich: Die Überprüfung der Pariser Vereinbarungen zeigt, dass die Reduktionspläne der Vertragsstaaten beim gegenwärtigen Stand auf eine Erderwärmung von wenigsten 2,7°C hinauslaufen.[14] Den Emissionsreduktionsplänen der Bundesregierung, die rein rechnerisch, wie oben gezeigt, im besten Fall auf einen Pfad gerade unter 2°C führen könnten, stehen gewaltige Realisierungs- und Verzögerungshindernisse gegenüber.[15] Insofern läuft das Modernisierungs-Konzept des KV auf eine 2°+-Welt hinaus – eine Herausforderung, der sich die gesellschaftliche Linke stellen sollte.

 

* Ergänzender Beitrag zur vorstehenden redaktionellen Bewertung des Koalitionsvertrags 2021.

[1] Vgl. SRU, Umweltgutachten 2020: Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa, Berlin, Mai 2020, S. 88/89. Berechnung auf der Grundlage des IPCC-Sonderberichts zum 1,5°C-Ziel von 2018, unter Ausschluss der historischen Emissionen, nach Anteil der deutschen Bevölkerung an der Weltbevölkerung für 2016. Die Berechnung unter Ausschluss der historischen CO2-Emissionen ist in der internationalen Klimadiplomatie wegen der massiven Begünstigung der altindustrialisierten, entwickelten kapitalistischen Länder („Ökoimperialismus“) heftig umstritten, aber gängig. Die Annahme einer linearen Emissionsreduktion ist natürlich nicht zwingend. Wenn in den ersten  Jahren eine sehr starke, überproportionale Emissionsreduzierung erfolgt, könnte der Zeitpunkt der Klimaneutralität ohne Überziehung des CO2-Budgets theoretisch auch zeitlich herausgeschoben werden. Aber dafür sind noch weniger Voraussetzungen gegeben als für eine lineare Reduktion.

[2] „Unabhängig davon, in welcher Form Ziele für bestimmte Jahre oder Sektoren formuliert werden und wie Emissionsreduktionen bewirkt und gesteuert werden, sollte die Wirksamkeit nationaler und europäischer Klimaschutzmaßnahmen und das Ambitionsniveau von Reduktionszielen daher am Maßstab des CO2-Budgets gemessen werden.“ Ebd., S. 87.

[3] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/220111_eroeffnungsbilanz_klimaschutz.
pdf?__blob=publicationFile

[4] F. Matthes u.a. (Öko-Institut/WWF), Mind the Ambition Gap, Nov. 2021, stellen fest, „dass, gemessen an den Emissionsbudgets, das aktuell im Gesetz verankerte Ziel, in Deutschland Treibausgasneutralität bis 2045 und die dazugehörigen Sektorzwischenziele zu erreichen, nicht mit einem 1,5°C-Pfad und auch nicht mit einem 1,7°C-Pfad erreichbar und damit für die Ziele von Paris nicht ausreichend ist.“ (S. 9) Dies ergibt sich sowohl bei Annahme einer strikt linearen Emissionsminderung wie bei Überprüfung von „realitätsnahen“ Emissionsmodellierungen wie z.B. der von Prognos, Ökoinstitut und Wuppertal-Institut 2021 erstellten Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ (Auftraggeber Stiftung Klimaneutralität und Agora Energiewende/Verkehrswende). „Die ambitionierte Bottom-up-Modellierung eines Klimaneutralitätspfades für Deutschland bis zum Jahr 2045 (mit dem ehrgeizigen Zwischenziel einer Emissionsminderung für die Gesamtheit aller Treibhausgase von 65 Prozent für das Jahr 2030) führt im Zeitraum 2021 bis 2050 zu kumulierten CO2-Emissionen von 7,5 Milliarden Tonnen CO2. Die genannten CO2-Emissionsbudgets für die 1,5 °C- bzw. 1,7 °C-Erhitzungsgrenze würden damit um knapp den Faktor 2 bzw. ein gutes Viertel überzogen, das für die 2 °C-Grenze würde zu gut zwei Dritteln ausgeschöpft.“ (S. 46). Auf dem Papier ist ein Wert knapp unter 2°C vielleicht erreichbar.

[5] Im Bundestagswahlkampf hatten die Grünen noch für Klimaneutralität 2035 plädiert, SPD und CDU/CSU für 2045 und die FDP für 2050. In den wissenschaftlichen Beratungsapparaten der Parteien und der Bundesregierung wie bei den Unternehmerverbänden ist das Zieljahr 2045 common sense: Fast alle großen (zumeist staatlich in Auftrag gegebenen) Projektionen zu Möglichkeiten der CO2-Emissionsreduktion, die 2021 veröffentlicht wurden, beziehen sich auf dieses Zieljahr. Das gilt auch für die von der Boston Consulting Group für den BDI erstellte Studie „Klimapfade 2.0. Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft“ (2021) und den darauf beruhenden BDI-„Fünf-Punkte-Plan zur Energie- und Klimapolitik für die Koalitionsverhandlungen“ v. 23.11.2021 oder die Unternehmerinitiative „Stiftung KlimaWirtschaft“ (ehemals „Stiftung 2°“).

[6] Der BDI nennt folgende Größenordnungen: Gesamtinvestitionen (Private und Staat) von 860 Mrd. Euro bis 2030, darunter für Strom-, Wasserstoff-, Fernwärme- und CO2-Netze, Lade- und Wasserstofftankinfrastruktur,  Schienen- und Verkehrswege 145 Mrd. Euro. Die Ausgaben der öffentlichen Hand werden auf 230 bis 280 Mrd. Euro veranschlagt (Klimapfade 2.0, S. 9).

[7] Die BDI-Studie geht gleichfalls von 2045 als Zieljahr für THG-Neutralität aus und stellt die Schlüsselbedeutung des Stromsektors („zentraler Energieträger der Transformation“) heraus. Sie beziffert den Netto-Stromverbrauch für 2030 auf 722 TWh. (S.18). Ob diese auch im KV als Zielvorgaben genannten Projektionen allerdings tragfähig sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. So prognostiziert z.B. die Chemieindustrie in ihrer „Roadmap Chemie 2050. Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen chemischen Industrie in Deutschland“ (2019) einen Anstieg ihres Strombedarfs bei Umstellung aller konventionellen Verfahren ab Mitte der 2030er Jahre auf 685 TWh jährlich (S. 9), der nur z.T. aus Stromeigenerzeugung (aktuell rd. ein Drittel [S. 46]) gedeckt werden könnte.

[8] Größenordnungen auch hier weitgehend identisch z.B. mit der BDI-Studie, S. 11. Minderungsziele Energiewirtschaft: KV „Halbierung“/BDI 58%; Industrie 35%/37%; Verkehr 50%/48%; Gebäude 44%/45%.

[9] DIW Econ (Claudia Kemfert u.a.), Grenzen einer CO2-Bepreisung. Dekarbonisierungsmaßnahmen jenseits eines CO2-Preises. Eine Studie für Greenpeace Deutschland, September 2021. [S. i, S. 21]

[10] Klimaschutzdifferenzverträge: Subventionierung heimischer Unternehmen zur Abwehr billigerer ausländischer Konkurrenz, die weniger für Klimaschutz tut.

[11] Agora-Energiewende, Öffentliche Finanzierung von Klima und anderen Zukunftsinvestitionen, Nov. 2021, S. 29: 460 Mrd.; plus 135 EEG-Umlage (Altlasten), zusammen ca. 600 Mrd. für 2021-2030; BDI, Klimapfade 2.0, S. 21: „Die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen erfordert bis 2030 Mehrinvestitionen in Höhe von 860 Mrd. Euro, etwa 100 Mrd. pro Jahr.“ Uwe Witt gibt als allgemeine Schätzung gleichfalls 50-60 Mrd. Euro/a für die nächsten 15 Jahre an (https://
zeitschrift-luxemburg.de/artikel/auf-kante-genaeht/).

[12] L. Persson u.a., Outside the Safe Operating Space of the Planetary Boundary for Novel Entities, in: Environ. Sci. Technol. 2022, 56(3), S. 1510–1521; https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acs.est.1c04158.

[13] Im KV taucht dieser Widerspruch nur ganz am Rande auf, wenn der Konflikt zwischen Artenschutz, Flächenausweitung für Windenergieanlagen und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren behandelt wird.

[14] UNEP, Emissions Gap Report 2021.

[15] Die Minderungsziele der nächsten Jahre werden, wie der zuständige Minister vorsorglich mitgeteilt hat, nicht erreicht, schmälern das CO2-Budget also weiter. Der bisherige Zeitplan für den Bau der wichtigsten Nord-Süd-Stromleitungen ist nicht haltbar (Bundesnetzagentur, FAZ v. 31.1.2022).