Notizen zu André und Raphaël Glucksmann "Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy"
Man kann die Bewegung von 1968 ideologisch auf unterschiedliche Weise entsorgen. Man kann sie, um nur einige Varianten zu erwähnen, als Scheitern einer von der Wirklichkeit abgekoppelten sektenhaften
politischen Subkultur abhaken, als Vorschule des Terrorismus entlarven oder mit den Prügelaktio-nen der Nazi-Studenten während der Machtübernahme durch Hitler über einen Leisten schlagen. Die diskurspolitische Funktion dieser Varianten ist immer dieselbe. 1968 soll als etwas, was an die Möglichkeit erinnert, dass die Welt auch grundsätzlich anders aussehen könnte als sie ist, ein für allemal aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert werden.
Wer beerbt 1968?
Einen neuen Versuch, "1968" zu entsorgen, hat jetzt der französische Philo-soph André Glucksmann gemeinsam mit seinem Sohn Raphaël, einem 1979 geborenen Journalisten, in dem oben genannten Buch unternommen.
Wie nicht wenige Intellektuelle, die sich heute zu unerbittlichen Richtern über 1968 und seine angeblich so entsetzlichen Folgen berufen fühlen und alle Übel der Welt dem unheilvollen Treiben der 68er in die Schuhe schieben, kann auch André Glucksmann auf eine imposante Biographie als militanter Ultralinker eben jener Zeit zurückblicken, die heute wieder am Pranger der öf-fentlichen Diskussion steht. Glucksmann, der 1937 als Sohn jüdisch-österreichischer Emigranten geboren und dessen Vater von den Nazis umge-bracht wurde, schloss sich zunächst dem kommunistischen Studentenverband UEC an, nahm an Seminaren des berühmten Soziologen Raymond Aron teil, arbeitete an der linken Zeitschrift "Action" mit und war in der Studentenbe-wegung von 1968 aktiv, ehe er in die im gleichen Jahr gegründete maoistische Organisation "Gauche Prolétarienne" ("Proletarische Linke") eintrat. Als füh-rendes Mitglied dieser Organisation hatte er auch Kontakt zu Jean-Paul Sartre, der Anfang der siebziger Jahre mit dem Maoismus sympathisierte und sich gemeinsam mit Simone de Beauvoir für die verbotene maoistische Zeitung "La cause du peuple" ("Die Sache des Volkes") engagierte. Nach seinem maoistischen Abenteuer, das ihm nicht die erhoffte Karriere als Star einer re-volutionären intellektuellen Elite verschafft hatte, brach er nicht nur mit sei-nen bisherigen ultralinken Auffassungen, sondern mit jedem links zu veror-tendem Denken überhaupt. Sein offensichtlich unwiderstehliches Bedürfnis, in der Gesellschaft eine bewunderte Rolle zu spielen und ständig im Rampen-licht der Öffentlichkeit zu stehen, konnte er nun befriedigen, indem er seit Mitte der siebziger Jahre als einer der Protagonisten der sogenannten "neuen Philosophie" ("nouvelle philosophie") die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die "neuen Philosophen" sahen ihre vorrangige Aufgabe darin, gestützt auf totali-tarismustheoretische Prämissen, den Marxismus zu diskreditieren. Im Präsi-dentschaftswahlkampf 2007 engagierte sich Glucksmann dann öffentlich für den späteren Sieger Nicolas Sarkozy. Der heutige Präsident ist auch der Ad-ressat des Buches, auf das ich im Folgenden einen kritischen Blick werfen möchte. Wie lässt sich der verblüffende Zusammenhang zwischen 1968 und Sarkozy erklären? Die Antwort ergibt sich aus einer bizarren These: Sarkozy und kein anderer ist der authentische Erbe des Geistes von 1968. Dieser Geist besteht nach Auffassung von André und Raphaël Glucksmann im Wesentli-chen in der Entschlossenheit, mit erstarrten Konventionen, eingeschliffenen Denkstereotypen und verknöcherten institutionellen Reglementierungen zu brechen, die alten Zöpfe unbekümmert abzuschneiden und der schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen.
Mit dieser Charakterisierung des Mai 68 spielen sie auf eine Rede von Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf 2007 an, in der er wörtlich dazu auf-gefordert hatte, "das Erbe von 1968 zu liquidieren". Wie aber ist die Parado-xie eines gleichzeitigen Bekenntnisses sowohl zu 1968 als auch zu Sarkozy möglich? Das Wunder ihrer Auflösung bringen die beiden Autoren dadurch zustande, dass sie, ohne auf die gegensätzlichen politischen Inhalte des Einen wie des Anderen Rücksicht zu nehmen, sowohl in der Bewegung von 1968 als auch im Diskurs von Sarkozy einen identischen Willen zum Aufbruch entde-cken. Gleichgültig gegen die Frage, worum es den rebellierenden Studenten und dann den Millionen Streikenden, den Parteien, Gewerkschaften und Intel-lektuellen 1968 ging und worum es Sarkozy heute geht, fixieren sie sich auf die Ebene der symbolischen Repräsentation und Phänomenologie von 1968, die sie im aktivistischen Habitus von Sarkozy wiederzufinden glauben. Ihr Vorliebe gilt ausschließlich den mehr oder weniger geistreichen Losungen, die 1968 die Mauern der Sorbonne zierten, den spontanen studentischen Akti-onen gegen das Establishment, dem Erproben neuer Lebensformen und den Regelverletzungen innerhalb und außerhalb des Campus.
2. Das Feindbild
Den eigentlichen Feind des schöpferischen Aufbruchs von 1968 sehen André und Raphaël Glucksmann nicht in den Akteuren und Institutionen der herr-schenden Klasse und deren politischen Alliierten, sondern in der Linken der Nach-68er-Generation, den "post-soixantes huitards" (29). Ihre Polemik rich-tet sich deshalb gegen die 1970 erneuerte Sozialistische Partei (Parti Socia-liste, PS), dann gegen das gemeinsame Regierungsprogramm ("programme commun") der beiden großen Linksparteien, also der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei (PCF) im Jahr 1972 sowie gegen die gesamte Ära Mitterand (1981- 1995). Ihr werden alle nur erdenklichen Makel und Verge-hen zugerechnet, vor allem aber ihre ideologische Permissivität gegenüber der Kommunistischen Partei vorgeworfen. Das Etikett der "post-soixantes hui-tards" umfasst aber nicht nur das politische Spektrum der Sozialistischen Par-tei und des PCF, sondern auch die Anhänger ultralinker Organisationen und schließlich Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre oder Régis Debray. Sie alle fallen unter das Verdikt, die Botschaft vom Mai 1968 pervertiert und sich zu Komplizen verbrecherischer Regime und des Terrors gemacht zu haben. Ins-besondere werfen Glucksmann/Glucksmann der Staatsführung unter Mitte-rand vor, für den Völkermord an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi in Ruanda 1994 mitverantwortlich gewesen zu sein. Auch wenn dieser gegen die Präsi-dentschaft Mitterands gerichtete Vorwurf im Falle Ruandas durchaus berech-tigt sein mag, rechtfertigt er keineswegs auch schon eine pauschale, das ge-samte Buch prägende Diffamierung "der Linken" als willige Vollstreckerin von Genoziden, Befürworterin stalinistischer Verbrechen und Saboteur jeder gesellschaftlichen Modernisierung. Mit ihrem Verständnis von "der Linken" und von dem, was "links" inhaltlich bedeutet, praktizieren André und Raphaël Glucksmann eine Art intellektueller Sippenhaft. Ungeachtet der jeweiligen konkreten politisch-historischen Kontexte, programmatischen Unterschiede, Ziele, Aktionsformen und inneren Differenzierungen werden PS, PCF, Trotz-kisten, Ultralinke, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Grüne und Intellek-tuelle unter das pauschalierende Etikett "der Linken" subsumiert und unter Generalverdacht gestellt. Gleichzeitig wenden sich die beiden Autoren gele-gentlich auch gegen den Gaullismus und Neogaullismus, die sie ebenfalls als Feinde des Geistes von 1968 anprangern. Den Subtext ihrer Überlegungen bildet dabei durchgängig das ideologische Muster der Totalitarismustheorie. Ausgenommen von dem vernichtenden Urteil über die Linke werden Politiker wie Michel Rocard. Auf der einen Seite also François Mitterand, der ehemali-ge Mitarbeiter des faschistischen Vichy-Regimes und napoleonische Macht-mensch , der mit den Stalinisten des PCF paktierte und den Völkermord in Ruanda zuließ, auf der anderen Seite der edle Michel Rocard, der sich neben anderen Vorzügen auch dadurch auszeichnete, dass er mit ehemals linken In-tellektuellen wie Claude Lefort, Edgar Morin, Pierre Clastres und - last but not least - natürlich auch André Glucksmann sympathisierte (52). Aber war Rocard tatsächlich das leuchtende Beispiel einer Linken, die diese Namen auch verdient? Korrekturen der Idealisierung Rocards sind durchaus ange-bracht. So trat Rocard, Vorsitzender der kleinen Partei PSU (Parti Socialiste Unifié = Vereinigte Sozialistische Partei) , die im Mai 68 mit der antiautori-tären Strömung der Studentenbewegung Tuchfühlung hatte, 1974 zum PS Mitterands über und unterstützte dessen Wahlkampagne im Präsidentschafts-wahlkampf des gleichen Jahres. Er avancierte dann zu einem der prominentes-ten Mitglieder dieser Partei und wurde 1988, also zu Beginn der zweiten Amtsperiode von Mitterand als Staatspräsident, zum Premierminister (1988 - 1991) ernannt. Rocard zeichnete sich durch einen dezidierten Antikommu-nismus aus, war ein erbitterter Gegner des "programme commun", lehnte die von diesem Programm vorgesehenen Nationalisierungen großer Industrieun-ternehmen und Banken ab und unternahm erste Schritte zum Abbau des Sozi-alstaats. So gesehen erstaunt es dann kaum, dass André und Raphaël Glucks-mann diesen Politiker als Verkörperung einer "Linken" nach ihrem Ge-schmack feiern. Mit einer "Linken", die nicht nur auf Eingriffe in die Macht des Kapitals verzichtet, sondern auch, wie Rocard es getan hat, ausdrücklich den Kapitalismus als das Wirtschaftssystem bezeichnet, das ein Höchstmaß an Freiheit garantiere, können sogar André und Raphaël Glucksmann gut le-ben.
3. Nach-68er und die "philosophische Revolution"
Ihre daran anschließende Argumentation beruht im Wesentlichen auf der Be-hauptung eines scharfen Kontrasts zwischen der Proteststimmung von 1968 zum einen und ihrer angeblichen Deformation und Pervertierung durch die folgende Generation zum anderen. Letztere wird mal als Post-68er, mal als "Generation AIDS" ("génération sida") und mal als "Lib-lib" (45) bezeich-net. Die Post-68er haben in den Augen der Autoren nicht nur die seinerzeit auf Daniel Cohn-Bendit gemünzte emanzipatorische Losung "Wir sind alle deutsche Juden" verraten, indem sie sich von den Schrecken der Welt narziss-tisch auf sich selbst zurückzogen, sondern darüber hinaus sogar die durch 1968 erschütterten gaullistischen Herrschaftsstrukturen wieder stabilisiert und gleichzeitig mit der das sowjetische Gulag-System billigenden "kommunisti-schen Gegengesellschaft" ("contre-société communiste", 62) kokettiert.
In diesem Zusammenhang wenden sich André und Raphaël Glucksmann gleichzeitig wütend gegen diejenigen Intellektuellen, die, wie zum Beispiel Régis Debray, die problematischen Folgen antiautoritärer, libertärer und eine "anything goes"-Mentalität verbreitender Tendenzen in der Bewegung von 1968 zur Sprache gebracht haben. Régis Debray war einer der ersten Intellek-tuellen, die sich mit der verhängnisvollen Vermarktung dieser Tendenzen durch die Medien und der damit einhergehenden Adjustierung des kollektiven Bewusstseins an die Gesetze des Marktes kritisch auseinander setzten. Das wird ihm von André und Raphaël Glucksmann als kultureller Defätismus und Modernisierungsfeindlichkeit, als sogenannte "Bo-bo"-Attitüde angekreidet, wobei damit nicht etwa, wie man vermuten könnte, die in den USA als "bo-bo" bezeichneten "Bourgeois-Boheme", also die über Geld verfügenden An-hänger der "Erlebnisgesellschaft" gemeint sind, sondern die Verfechter eines intellektuellen "Bolscho-Bonarpartismus". Es handelt sich bei diesem von den Autoren erfundenen Neologismus um die Etikettierung von Intellektuellen, die sich dem neoliberalen Zeitgeist nicht anpassen wollen, dafür von André und Raphaël Glucksmann jedoch eines sterilen Konservatismus und einer Blockadehaltung gegenüber den Erfordernissen der gesellschaftlichen und po-litischen Erneuerung beschuldigt werden. Debray zeichne ein total schiefes Bild der französischen Gegenwartsgesellschaft; denn nicht Libertinage, Ju-gendkult und konsumistischer Hedonismus dominierten die Szene, sondern ein von der Linken zu verantwortender Bürokratismus, Apathie, Zukunftsneu-rosen und "Vertikalität" ("verticalité", 71), also hierarchische Verhältnisse und Subalternität. Die Gegenwart hat, so glauben Vater und Sohn, das Erbe von 68, den Geist des Aufbruchs und der Erneuerung, verspielt, und statt des-sen einen Zustand der Passivität, der Larmoyanz und der Akzeptanz eines "ar-chaischen Staates" (75) aufrecht erhalten. Der Hinweis auf einen "archaischen Staat" enthält - zumindest implizit - einen Seitenhieb gegen sozialstaatliche Regulierungen, deren Abbau André und Raphaël Glucksmann vom neuen Präsidenten nicht zu Unrecht erhoffen dürfen. Sie fordern von ihm deshalb auch nicht weniger als die Fortsetzung einer "Revolution", die 1968 begonnen habe, dann aber durch die etatistisch-autoritäre Politik des Neogaullismus und der Linken in den folgenden Dekaden unterbrochen worden sei. An was für eine Revolution denken sie dabei? Es geht ihnen nicht um tief greifende Ver-änderungen der Gesellschaft, eine Eindämmung oder gar Entmachtung des heutigen Finanzkapitalismus, die Errichtung einer Demokratie, auf die Kon-zerne und Medien keinen beherrschenden Einfluss mehr haben, oder um die Revolutionierung einer Kultur, die von Einschaltquoten und den Interessen privater Investoren abhängig ist. Nein, André Glucksmann, der das dritte Ka-pitel und damit den weitaus größten Teil des Buches allein verfasst hat, plä-diert für die "Revolution der Geister" ("la révolution des esprits", 87), die mit dem Alten, Passiven und Beharrenden radikal aufräumt. Da er aber nicht da-nach fragt, welche konkreten sozialen und politischen Inhalte mit dieser "Re-volution" verbunden sind, kann er sie mühelos mit Sarkozys Attitüde des poli-tischen Draufgängers, Antitraditionalisten und Tabubrechers identifizieren. Nicolas Sarkozy, der Intimfreund der Großbourgeoisie, der Gegner des Geset-zes zur 35-Stundenwoche und der noch bestehenden sozialen Sicherungssys-teme, der Propagandist des Wettbewerbsstaats und Verfechter autoritärer Lö-sungen der in den sozialen Brennpunkten aufbrechenden Gewalttätigkeiten, mutiert in der Wahrnehmung von André Glucksmann zum echten Revolutio-när und damit zum authentischen Erben der Ideen von 1968. Es verwundert deshalb kaum, dass er retrospektiv einen Gegensatz zwischen der Bewegung von 1968 einerseits und einer von ihm konstruierten Allianz von PCF, dem ihm seinerzeit nahe stehenden Gewerkschaftsverband CGT und gaullistischem Staatsapparat ("die Achse KP-de Gaulle", 32) andererseits behauptet. Damit übernimmt er aber dasselbe Interpretationsmuster, dessen sich bereits 1968 die Akteure der Ultralinken, der "gauchistes", zu deren Prominenz er ja selbst zählte, bedienten, um Politik und Praxis der Kommunistischen Partei und der CGT zu "entlarven", obwohl es gerade diese Organisationen waren, durch die sich die große Mehrheit der kapitalismuskritisch eingestellten, kampferfahre-nen und konfliktbereiten Arbeiter und Angestellten repräsentiert fühlte und die das gaullistische Regime und die bürgerliche Rechte deshalb mit gutem Grund als ihren eigentlichen Hauptgegner fürchteten. Mit der Gleichsetzung von PCF und Gaullismus widerspricht Glucksmann nicht nur allen historisch-politischen Tatsachen, die den Antagonismus dieser beiden Kräfte beweisen, sondern auch sich selbst, da er ja, über die Feststellung eines politischen Geg-nerverhältnisses zwischen Gaullismus und PCF noch hinausgehend, selbst die Existenz einer "kommunistischen Gegengesellschaft" und damit eines seiner-zeit tief in den sozialen Beziehungen, der Lebensweise und Kultur der franzö-sischen Gesellschaft verankerten Widerspruchs zwischen dem bürgerlichen Lager und dem durch die Kommunistische Partei repräsentierten Lager der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung eingeräumt hat.
André Glucksmann gibt sich gern als getäuschter und enttäuschter Wegge-fährte der Linken, der sich nach einer Linken sehnt, die allerdings so wäre wie - Sarkozy. Er will dieser Sehnsucht zusätzlich Ausdruck verleihen, indem er die Studentenbewegung von 1968 nicht nur allgemein als geistige Revolution, sondern auch in einem spezifischen Sinn als "philosophische Revolution" ("révolution philosophique", 106) versteht, die in Sarkozy ihre politische Ver-körperung finden soll. Was will Glucksmann damit genau sagen? Er zielt auf eine Denkweise ab, die den krisenhaften Übergang einer tausendjährigen bäu-erlichen Zivilisation ("une civilisation paysanne millénaire") zu einem Zu-stand moderner Entwurzelung ("déracinement") und "Unruhe" ("inquiétude") artikuliert. Er will damit hervorheben, dass Frankreich erst mit und durch 1968 an der Schwelle zur Modernität angekommen sei, aber noch immer durch die Gralshüter der Vergangenheit daran gehindert werde, diese Moder-nität endgültig triumphieren zu lassen. Wie schon an mehreren Stellen zuvor greift er auf die philosophische Autorität von Sokrates zurück, um seinem Gedanken Gewicht zu verleihen; denn Sokrates habe der "Unruhe", dem Auf-begehren und Bestreben der athenischen Jugend philosophisch Ausdruck ge-geben, die Grenzen der Welt der älteren, etablierten Generation zu überschrei-ten und die Mauern ihrer Normen und Werte nieder zu reißen. Dass SokratesÂ’ Philosophie als "Demoralisierung der Jugend" (107) empfunden und mit der Verurteilung zum Tode sanktioniert worden sei, verweise auf eine Situation, die sich im Prinzip historisch immer dann wiederhole, wenn eine Gesellschaft durch das Hereinbrechen einer fundamental neuen Lebensweise unvermeid-lich mit moralischen Transgressionen konfrontiert werde.
4. "Postmoderner Marxismus" als intellektuelles Verhängnis
Welche Schlüsse zieht Glucksmann daraus für die Funktion der Philosophie in der Gegenwart? Die Philosophie solle sich unbedingt normativer Setzungen enthalten und darauf verzichten, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu le-ben hätten. Stattdessen solle sie als Vektor geistiger Unruhe fungieren und im Sinne von Immanuel Kant als - so wörtlich - "Kampfplatz" (108) betrachtet werden.
Der eigentliche Kern dieser Botschaft besteht in der Instrumentalisierung der Philosophie für eine neoliberale Politik, die mit den bisherigen sozialstaatli-chen Aktivitäten und Strukturen tabula rasa macht und die Menschen dazu an-treibt, sich ohne Atempause und rücksichtslos gegen andere und sich selbst als Unternehmer ihres eigenen Lebens zu verausgaben. Der experimentier- und risikofreudige, sozial indifferente, in seinem Handeln nur auf sich selbst ge-polte Juppie des Mittelklassenmilieus ist, auch wenn das nicht direkt so gesagt wird, der eigentliche und privilegierte Adressat und zugleich die Verkörpe-rung der von Glucksmann gepredigten "philosophischen Revolution". Sie richtet sich indes nicht nur gegen die politische Linke, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, sondern überraschender Weise auch gegen Vertre-ter des postmodernen philosophischen Denkens, von denen man annehmen könnte, dass Glucksmann gerade ihnen nahe steht. Aber Glucksmann betrach-tet die philosophische Postmoderne insofern als legitime Nachfolgerin des ihm verhassten Marxismus, als sie zwar nicht mehr auf die proletarische Akti-on und das Paradies der Werktätigen setze, aber in ihrem Abscheu gegen die heutige Gesellschaft, gegen "das System", der marxistischen Kritik verhaftet bleibe. Mit anderen Worten: postmoderne Philosophen - er nennt namentlich Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Felix Guattari und Jacques Derrida - sind nach Glucksmanns Auffassung Verfechter eines resignativen, sich im Bunker der Gesellschaftskritik verschanzenden Marxismus. Diese abstruse In-terpretation postmodernen philosophischen Denkens fasst Glucksmann in folgende Worte: "Der postmoderne Marxismus gibt, mal mit großem Getöse (Lyotard), mal ohne dass es so aussieht (Deleuze und Guattari) die Beschwö-rung des sozialistischen Paradieses auf. Bleibt der Feind: ein abscheuliches ‘SystemÂ’, das als etwas betrachtet wird, das den Planeten aussaugt und ebenso das Verhalten wie die Hirne der Zeitgenossen zynisch regiert." (112, Überset-zung L.P.). Unabhängig davon, wie die einzelnen, von Glucksmann erwähn-ten Postmodernen philosophisch und politisch zu beurteilen sind, entbehrt die von ihm unterstellte Kontinuität von Marxismus und postmoderner Philoso-phie schon jeder gemeinsamen epistemologischen Grundlage: der Marxismus ist materialistisch, historisch und systemisch. Für ihn basiert Vergesellschaf-tung wesentlich auf Arbeit, die wiederum eine objektive Voraussetzung des geschichtlichen Fortschritts darstellt. Dagegen ist postmodernes Denken nicht-materialistisch, unhistorisch und antisystemisch. Es ersetzt Vergesell-schaftung durch Arbeit durch kommunikative, zeichengebundene Akte von "Sprachspielen" und verwirft die Idee des Fortschritts als Relikt der zu de-konstruierenden "großen Metaerzählungen".
5. Erlösung durch die "neue Philosophie"
Hält Glucksmann einerseits das postmoderne Denken für die zwangsläufige Fortsetzung des Marxismus, so besteht er andererseits auf einer strikten Grenzziehung zwischen Postmoderne und jener "nouvelle philosphie", als de-ren Protagonist er neben Bernard-Henry Lévy, Alain Finkielkraut, Christian Jambet (auch ein ehemaliger Maoist), Maurice Clavel u.a. während der sieb-ziger Jahre reüssierte. Obwohl es philosophisch gesehen durchaus Berüh-rungspunkte zwischen Postmoderne und den "nouveaux philosophes" (de "neuen Philosophen") gibt (etwa hinsichtlich der Kritik am Vernunftbegriff der Aufklärung oder an einer Teleologie der Geschichte), insistiert Glucks-mann auf ihrer Unvereinbarkeit. Der Grund dafür ist politisch motiviert. Da er selbst ein bellizistisches Menschenrechtsverständnis vertritt, wie zum Beispiel seine rückhaltlose Bejahung der militärischen Intervention des Westens in Af-ghanistan, der NATO-Bombardierung Serbiens oder des Irakkriegs der USA und ihrer Vasallen beweist , missfällt ihm der den Postmodernen unterstellte Pazifismus (126). Er verachtet ihn als Ausdruck einer moralischen Ambiva-lenz und eines politischen Defätismus insofern, als die Vertreter der philoso-phischen Postmoderne - die Existenz eines "Unentscheidbaren", eines "indé-cidable" (so der Begriff von Jacques Derrida) anerkennend - Verletzungen der Menschenrechte billigend in Kauf nähmen. Wie wenig dieser haarsträu-bende Vorwurf aber tatsächlich auf Derrida zutrifft, den Glucksmann beson-ders im Visier hat, zeigt schon allein die Tatsache, dass sich Derrida nicht nur gegen den Krieg im Irak, eine der wohl massivsten Verletzungen des Völker-rechts und der Menschenrechte im beginnenden 21. Jahrhundert wandte, son-dern auch für die Entstehung einer "neuen Internationale" eintrat, auf deren Agenda unter anderem der weltweite Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Atom-waffen und internationale Mafia-Strukturen sowie für die Institutionalisierung universaler Rechtsnormen stehen sollte. Wenn Derrida von "Unentscheid-barkeit" spricht, macht er sich nicht zum Propagandisten moralischer Indiffe-renz, sondern versucht ins Bewusstsein zu rufen, dass sich das, was entschie-den wird, niemals auf den Akteur der Entscheidung beschränkt und immer "den Anderen", auf den sich die Entscheidung bezieht, mit einschließt. Das alles übergeht Glucksmann, weil es nicht in sein Konzept passt, und er, würde er es zur Kenntnis nehmen, dann seine These aufgeben müsste, dass der "postmoderne Marxismus" und die Linke den Geist von 1968 in eine Ideolo-gie des moralischen Relativismus und der Passivität gegenüber den Verbre-chen gegen die Menschlichkeit verwandelt hätten (130). Stattdessen geht er in seiner Polemik noch einen Schritt weiter, indem er einen kausalen Zusam-menhang zwischen den politischen Diskursen der Linken einerseits und einer allgemeinen nihilistischen Regression andererseits behauptet: "Die Linken und die Ultralinken haben das Buch des totalitären Terrorismus zu schnell wieder zugeschlagen. Mit einer exzessiven Naivität nahm man an, um anstän-dig zu bleiben, dass, nachdem die jakobinischen und bolschewistischen Prin-zipien einmal ausgerottet waren, die verheerende Wut sich selbst ersticken würde. Die ‘absolute NegativitätÂ’ weicht nicht so leicht vom Platz." (163) Die Bereitschaft der Linken, die "absolute Negativität" des Terrors zu leugnen, bezeichnet Glucksmann als Nihilismus: "Der Nihilist umschifft die Klippe. Er sagt und er sagt sich: es gibt kein Übel. Sein ‘alles ist erlaubtÂ’ beruft sich nicht auf die Relativität des Guten, sondern auf die Nichtexistenz des Schlechten. Das ändert alles." (164/165, Übersetzung L.P) Die teilweise schwer nachvoll-ziehbare, mit Assoziationen gespickte und sprunghafte Argumentation läuft auf folgendes Verdammungsurteil hinaus: Die Linke ist blind für Terrorismus, Völkermord und Unterdrückung der Freiheit. Sie will nicht wahrhaben, dass sich hinter Marx in Wirklichkeit de Sade und das absolut Böse verbergen. Damit rechtfertigt sie aber letztlich das absolut Böse.
6. Es geht um Sarkozy, nicht um 68
Dass Millionen Menschen gegen den Irakkrieg protestierten, Hunderttausende an den Weltsozialforen teilnahmen und soziale Bewegungen weltweit gegen Hunger, Vertreibung, Vergewaltigung und Terror kämpfen und dass das über-all auch unter Beteiligung von Akteuren und Organisationen der Linken ge-schah und geschieht, wird von Glucksmann kategorisch ausgeblendet. Nur so kann er verhindern, dass sein Kreuzzug gegen die Linke den Schein der Glaubwürdigkeit verliert und seine ganze ideologische Konstruktion wie ein Kartenhaus zusammen fällt.
Wenn man sich die eigentliche Zielsetzung von Glucksmann vor Augen führt, nämlich sowohl dem, was er für links hält, eine Komplizenschaft mit allen Schrecken der Welt zuzuschreiben, als auch einer Politik zur Hegemonie zu verhelfen, die mit den Vorstellungen der Linken gnadenlos aufräumt, dann ist sein Buch (und das seines Sohnes) eigentlich gar kein Buch über 1968, son-dern ein Buch für Sarkozy. Gerade er scheint für den glühenden Ex-Maoisten Glucksmann die geeignete Figur zu sein, um diese hegemoniale Mission zu erfüllen. Dabei sekundiert der Sohn dem Herrn Papa aufs Allererfreulichste. So endet denn auch das Buch mit einem von Glucksmann junior verfassten (fiktiven) Brief an den neuen, "revolutionären" Staatspräsidenten. Noch ein-mal wiederholt der Sohn, was der Vater schon zur Genüge ausgebreitet hat: Frankreich sei in einem politischen und geistigen Immobilismus gefangen, die Linke verschreibe sich weiter der Staatsgläubigkeit, dem Traditionalismus, der hölzernen Programmatik und der Kumpanei mit Terror und Menschen-rechtsverletzung. Nun komme es darauf an, den subversiven Geist von 1968 wieder zu beleben und kühn zu neuen Ufern aufzubrechen. In der Sportlich-keit des neuen Präsidenten sieht Glucksmann junior ein viel versprechendes Signal dafür, den Schutt der Vergangenheit zu beseitigen und Frankreich ei-nen neuen Mai 1968 zu bescheren - nur dieses Mal unter neoliberalem Vor-zeichen. Die letzten Worte des Buches lauten deshalb: "Jogg schnell, Genosse Präsident, die alte Welt liegt hinter dir" (233).
7. Schlussbemerkung
Vergleicht man das Buch von André und Raphaël Glucksmann zum Beispiel mit dem kürzlich unter dem zwielichtigen Titel "Unser Kampf 1968" erschie-nenen Buch des Historikers Götz Aly , so erhält man oberflächlich den Ein-druck, als würden beide Bücher die Bewegung von 1968 sehr unterschiedlich, wenn nicht sogar gegensätzlich beurteilen. Aber der Schein trügt. In ihrer i-deologischen Essenz sind beide Bücher vielmehr identisch. Weder Aly noch André und Raphaël Glucksmann arbeiten die tatsächliche Vielschichtigkeit, die Widersprüche und Grenzen, aber auch die große produktive Bedeutung von 1968 für gesellschaftliche Fortschritte und Reformen heraus. Im damali-gen Westdeutschland stieß die Bewegung von 68 unmittelbar und mittelbar einen vielschichtigen Reform- und Demokratisierungsprozess an. Das gilt für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, für den Aufschwung der Frauenbewegung, Reformen des Straf- und Familienrechts, die Kritik an autoritären Erziehungsstilen, für eine Politisierung der Arbeiter-klasse und eine neue Diskussion über Mitbestimmung und Partizipation, ein verändertes Wissenschaftsverständnis und eine Wiederbelebung der Kapita-lismuskritik, die Öffnung des höheren Bildungssystems für die unteren Klas-sen, aber auch für Impulse der Außenpolitik ("neue Ostpolitik") usw. usw. Dagegen war der Terrorismus nur ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung. Dass die damalige westdeutsche Bundesrepublik überhaupt erst durch 1968 Anschluss an Prozesse einer demokratischen Modernisierung fand und Frank-reich seinen bis dahin unangefochten dominierenden Staatsautoritarismus hin-ter sich lassen konnte, um mit dem Gemeinsamen Regierungsprogramm der Linksunion 1971 den Weg für ein Projekt der politischen Alternative zum modernen Kapitalismus zu öffnen, wie es das bisher in Westeuropa noch nicht gegeben hatte, das zu sehen und zu benennen zeigen sich die genannten Auto-ren weder fähig noch willens. Ihre Ignoranz und Verblendung ist aber insofern nur folgerichtig, als es ja in beiden Fällen letztlich darum geht, 1968 politisch zu entkernen und ideologisch zu entsorgen. Im Fall von Götz Aly geschieht das durch eine ebenso abstruse wie infame Gleichsetzung von 1968 mit den prügelnden Jungnazis von 1933 und im Fall von André und Raphaël Glucks-mann dadurch, dass der "französische Mai" für den Sieg der neoliberalen He-gemonie in Gestalt des Nicolas Sarkozy missbraucht wird.