Industrie 4.0 – Die digitale deutsche Ideologie

Christian Fuchs

Industrie 4.0 – Die digitale deutsche Ideologie

 

Was ist die Industrie 4.0?

In den letzten Jahren wurde in der Welt der digitalen Medien viel über die „Industrie 4.0“ und das „industrielle Internet“ gesprochen und oft behauptet, dass es sich dabei um die vierte industrielle Revolution handelt. Insbesondere in Deutschland hat sich eine lebhafte öffentliche Debatte über die „Industrie 4.0“ entwickelt, die durch Regierungsstrategien, Investitionen, Weiß- und Grünbücher, Berichte, Studien, den Aufbau einer industriellen Lobbygruppe (Plattform Industrie 4.0, siehe http://www.plattform-i40.de), öffentliche Debatten, Forschungsprojekte, eine Unzahl von Publikationen, usw. geprägt ist (siehe zum Beispiel: Aichholzer et al. 2015; Austrian Institute of Technology, WIFO & Fraunhofer Austria Research 2017; Bitkom 2015; Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2015; Bundesministerium für Bildung und Forschung 2013; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2015; Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft & Deutsche Akademie der Technikwissenschaften 2013; Holtgrewe, Riesenecker-Caba & Flecker 2015; Spath et al. 2013). Zu den deutschen Unternehmen, die eine Rolle in der Industrie 4.0 spielen, gehören unter anderem SAP, Siemens, die Software AG, Wincor Nixdorf, Psipenta, Seeburger, CA, Bosch, die Felten AG, KUKA und die Festo AG.

Was ist die Industrie 4.0? Es handelt sich um ein Konzept, das die Kombination des Internets der Dinge, Big Data, sozialer Medien, Cloudcomputing, Sensoren, künstlicher Intelligenz und Robotik propagiert sowie die Anwendung von Kombinationen dieser Technologien auf die Produktion, Distribution und Konsumtion physischer Güter. Zentral dabei sind cyber-physische Systeme. Dies sind Computersysteme, die in industriell produzierte Komponenten und Güter eingebettet werden. Mikrochips werden in verarbeitete Industriegüter eingepflanzt, sodass diese vernetzt werden und mit dem Internet verbunden sind. Die Vernetzung der Menschen über soziale Medien und die Produktion von Big Data wird auf Maschinen ausgeweitet, sodass Netzwerke von miteinander kommunizierenden Maschinen entstehen. Im Extremfall bedeutet Industrie 4.0, dass ein Gut vollautomatisch ohne menschliche Intervention produziert, ausgeliefert, benutzt, repariert, entsorgt und wiederverwertet wird. Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung argumentiert, dass in der Industrie 4.0 „Anlagen, Maschinen und einzelne Werkstücke [...] kontinuierlich Informationen“ austauschen, was dazu führen würde, dass in Zukunft „viele Prozesse in Echtzeit über große Entfernungen gesteuert und koordiniert“ werden (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2013, 6). Intelligente Fabriken und intelligente Produkte sind demnach die Folge der Industrie 4.0.

Die Vierte Industrielle Revolution als Neue Ideologie

Die Hauptstoßrichtung der Debatte besteht in dem Argument, dass es sich bei der Industrie 4.0 um die vierte industrielle Revolution handelt, die auf Revolutionen folgt, die durch Wasser- und Dampfkraft (Industrielle Revolution 1.0), elektrische Energie (Industrielle Revolution 2.0) und die Computerisierung (Industrielle Revolution 3.0) verursacht wurden. Man sollte der Behauptung, dass Revolutionen unvermeidlich sind und bald bevorstehen, immer skeptisch begegnen. Zum Beispiel meint eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation: „Die vierte industrielle Revolution wird revolutionäre Auswirkungen auf die Produktion in Deutschland haben.” (Spath et al. 2013, 134) Solche Behauptungen sind nicht nur technikdeterministisch (Technik wird als Faktor gesehen, der die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt) und lassen Aspekte des Klassenkampfes und der politisch-ökonomischen Entwicklung außer Acht, sondern rufen auch eine Revolution aus, die noch gar nicht stattgefunden hat. Bei der Industrie 4.0 handelt es sich um den Versuch, ein neues technologisches Paradigma ideologisch herbeizureden.

Industrie 4.0 ist eine Ideologie, die Wirtschaftswachstum verspricht: Das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Energie schätzt, dass für Industrie 4.0-Technologien (Internet der Dinge, digitale Intelligenz, Robotik, Cloudcomputing) über zehn Jahre hinweg ein Marktpotential von fast 45 Billionen Euro besteht (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2015, 8). Diese Zahl beruht auf Umfragen. Dabei werden weder notwendige Investitions- und Erhaltungskosten mit einberechnet noch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Industrievertreter Umfragen gerne als Marketingstrategie benutzen und daher die potentiellen positiven Wirtschaftseffekte tendenziell überschätzen.

Die Politische Ökonomie der Industrie 4.0

Warum wird so viel über Industrie 4.0 geredet? Und warum in Deutschland? In den Vereinigten Staaten hat der Anteil der verarbeitenden Industrie an der gesamten Wertschöpfung von 23,3 Prozent im Jahr 1970 auf 12,3 Prozent im Jahr 2015 abgenommen. In Großbritannien gab es im selben Zeitraum einen Rückgang von 27 Prozent auf 9,8 Prozent. In Deutschland ist der Anteil der verarbeitenden Industrie an der Wertschöpfung hingegen fast 25 Prozent, während der Anteil des FIRE-Sektors (Finance/Insurance/Real Estate [Finanzwesen, Versicherungswesen, Immobilienwirtschaft]) deutlich niedriger ist als in den USA und Großbritannien (siehe Tabelle 1). Deutschlands Wirtschaft ist weniger finanzialisiert als jene der USA und Großbritanniens. Die Fertigungsindustrie ist wesentlich stärker ausgeprägt. Da Deutschland und Europa nicht mit der US-Internetwirtschaft konkurrieren können, ist es das Ziel der deutschen Industrie, führend bei der kapitalistischen Anwendung digitaler Technologien in der verarbeitenden Industrie zu sein und dazu die Wettbewerbsvorteile des Landes in der exportorientierten Produktion von Autos, Maschinen, chemischen und pharmazeutischen Produkten, Elektrogeräte, Metalle, Plastik- und Gummierzeugnisse auszunutzen. Die Europäische Union hat im Rahmen der Lissabon-Strategie versucht, die Führungsrolle der USA in der Entwicklung digitaler Technologien in Frage zu stellen, aufzuholen und die Vereinigten Staaten bis 2010 zu überholen. Diese Strategie misslang. Deutschland versucht sich nun an einer anderen Strategie, nämlich der Digitalisierung und Vernetzung der verarbeitenden Industrie, um mit digitalen Riesenkonzernen wie Google zu konkurrieren. Ob Volkswagen, BMW und Daimler/Mercedes zu einer europäischen Version von Google werden, ist jedoch zweifelhaft.

 

Tabelle 1: Anteil bestimmter Industrien an der gesamten Wertschöpfung (2015), in Prozent

(siehe pdf-Datei)

In den letzten Jahrzehnten haben neoliberale Regierungen, Ökonomen, Manager, Intellektuelle und Berater den Informations- und Kommunikationssektor, der aus Bereichen wie dem Verlagswesen, dem Rundfunk, der Telekommunikation, Software und IKT-Dienstleistungen besteht, als Hauptquelle des Wirtschaftswachstums abgefeiert und gehypt. In Deutschland war das Wachstum dieses Wirtschaftszweiges aber noch geringer als in vielen anderen Ländern. Sein Anteil an der gesamten Wertschöpfung hat von 3,5 Prozent im Jahr 1991 auf nur 4,7 Prozent im Jahr 2015 zugenommen (siehe Tabelle 2). Der Anteil der Löhne der verarbeitenden Industrie an der deutschen Gesamtlohnsumme war im Jahr 2015 25 Prozent, während der Anteil dieses Wirtschaftssektors am Gesamtprofit nur 19,6 Prozent ausmachte (Tabelle 2). Dieser Umstand ist ein Anzeichen dafür, dass Industriearbeit eher teuer ist, wodurch Grenzen für die Profitabilität der verarbeitenden Industrie Deutschlands gegeben sind.

 

Tabelle 2: Anteil bestimmter deutscher Industrien an der Gesamtwertschöpfung (W), am Gesamtprofit (p), an den gesamten Arbeitskosten (v) und am neu investierten konstanten Kapital (k), in Prozent, 1991 und 2015

(siehe pdf-Datei)

Die Arbeitsproduktivität hat seit den frühen 1990er-Jahren in der deutschen verarbeitenden Industrie deutlich zugenommen. Beim Monetären Ausdruck der Arbeitszeit[1] (MAAZ) handelt es sich um eine Variable, die das Verhältnis des Gesamtwertes in Geldeinheiten und Arbeitsstunden misst. MAAZ ist ein Maß der Arbeitsproduktivität, das den durchschnittlich pro Stunde produzierten Gesamtwert angibt, wobei der Gesamtwert den neu geschöpften Wert und den auf die Ware übertragenen Wert inkludiert. In der verarbeitenden Industrie Deutschlands hat MAAZ von 25,9 Euro pro Stunde im Jahr 1991 auf 59,6 Euro pro Stunde im Jahr 2016 zugenommen (Quelle aller Daten, die den Berechnungen in diesem Absatz zugrunde liegen: OECD STAN-Datenbank). Die jährliche Gesamtanzahl der in der verarbeitenden Industrie verausgabten Arbeitsstunden hat während demselben Zeitraum von 15,2 Milliarden auf 10,9 Milliarden abgenommen. Dadurch ist der Gesamtanteil der Arbeitsstunden in der Fertigungsindustrie an den gesamtwirtschaftlichen Arbeitsstunden von 27,4 Prozent auf 22,9 Prozent gesunken. Die MAAZ-Arbeitsproduktivität hat sich über einen Zeitraum von 25 Jahren um einen Faktor von 2,5 vervielfacht. Der MAAZ der deutschen Gesamtwirtschaft hat sich von 23,8 Euro pro Stunde im Jahr 1991 auf 47,8 Euro im Jahr 2016 erhöht. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität war also in der verarbeitenden Industrie Deutschlands deutlich höher als der allgemeine Produktivitätszuwachs. Zugleich hat die Lohnsumme als Anteil des Gesamtwertes der verarbeitenden Industrie (die industrielle Lohnquote) im Jahr 2016 60,8 Prozent betragen, während die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme mit einem Wert von 56,4 Prozent deutlich geringer war.

Arbeit in der deutschen Fertigungsindustrie ist hochproduktiv und im Vergleich zur Gesamtwirtschaft relativ teuer. Das deutsche Kapital scheint darauf abzuzielen, durch die Entwicklung von Industrie 4.0-Automatisierungstechnologien die Arbeitskosten in der verarbeitenden Industrie zu senken, sodass die Profite in Zukunft einen höheren Anteil des pro Stunde produzierten Geldwertes ausmachen, als dies im Moment der Fall ist. Es ist dabei aber nicht bekannt, ob Fortschritte und Innovationen der Industrie 4.0 nicht die fixen konstanten Kapitalkosten, also die Kosten zum Ankauf und zur Instandhaltung digitaler Maschinen, erhöhen, was negative Effekte auf die Profitrate hat, wenn es dem Kapital nicht gelingt, die Lohnkosten drastisch zu reduzieren. Die Industrie 4.0 ist der Versuch des deutschen Industriekapitals, seine Profite zu erhöhen, indem die Industriearbeit automatisiert und ihre Macht geschwächt wird.

 

Abbildung 1: Die Entwicklung der Profitrate in Deutschland (siehe pdf-Datei

 

 

Seit dem Beginn der neuen Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 hat die allgemeine Profitrate der deutschen Wirtschaft (also das Verhältnis von Profiten zu Investitionen in der Gesamtökonomie) von 27,4 Prozent im Jahr 2008 auf 24,3 Prozent im Jahr 2016 abgenommen (Berechnung auf Basis von Daten aus der OECT STAN-Datenbank). Während die Profitrate im Informations- und Kommunikationssektor deutlich über dem Wert der allgemeinen Profitrate liegt, ist die Profitrate der deutschen verarbeitenden Industrie wesentlich geringer als die allgemeine Profitrate (siehe Abb. 1). Da die Profitrate der deutschen IKT-Wirtschaft hoch ist, ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft aber gering, bietet dieser Sektor nicht genug Potential zur groß angelegten Ausweitung der Kapitalakkumulation. Die deutsche Fertigungsindustrie hat eine viel höhere absolute Größe als der IKT-Sektor, aber eine geringe Profitrate. Die Industrie 4.0 ist ein Ausdruck der strategischen Hoffnung deutscher Kapitalinteressen, die hohe Profitrate der Digitalwirtschaft auf den Bereich der verarbeitenden Industrie zu übertragen und dadurch den Fall der allgemeinen Profitrate aufzuhalten und umzukehren.

Zehn Gründe, warum man der Industrie 4.0 kritisch
gegenübertreten sollte[2]

Erstens ist es unwahrscheinlich, dass sich das komplexe Verhältnis von Deindustrialisierung und Reindustrialisierung sowie von technologisch induzierter Arbeitslosigkeit und der Schaffung neuer Arbeitsplätze unter den Bedingungen der Kapitalakkumulation und den dem Kapitalismus inhärenten Krisenpotentialen positiv entwickelt. Automation ist ein widersprüchlicher Prozess, dessen Auswirkungen nicht vorherbestimmt sind und von den Ergebnissen von Klassenkämpfen geprägt werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Humanisierung der Arbeit die Abschaffung entmenschlichter Formen der Werktätigkeit wie Lagerarbeit, Lebensmittelverpackung, Kloputzen, Müllabfuhr, Fließbandarbeit bei der Montage von Elektrogeräten und in der Bekleidungsindustrie sowie jede Form der gesundheitsgefährdenden und monotonen Arbeit umfassen soll. Unter dem Imperativ der Profitmaximierung hat das Kapital jedoch das materielle Interesse, die Arbeitskosten zu reduzieren und die Menschen zu Rädern der (digitalen) Maschinen zu machen, sodass die wahrscheinlichste Auswirkung der Industrie 4.0 unter kapitalistischen Bedingungen eine Zunahme der technologisch bedingten Arbeitslosigkeit und der Verlust der menschlichen Kontrolle über die Produktionsmittel ist. Dabei werden digitale Maschinen als Mittel genutzt, mit Hilfe derer das Kapital die Arbeiter und Arbeiterinnen kontrolliert und überwacht und versucht, die Autonomie und Entscheidungsmacht der Arbeitenden im Produktionsprozess einzuschränken. Roboter widersprechen nicht, stellen keine Gehaltsforderungen, verlangen keine besseren Arbeitsbedingungen und streiken nicht. Sie sind daher für das Kapital ein interessantes Mittel, um die Möglichkeit von Arbeitskämpfen einzuschränken.

Die Humanisierung der Arbeit benötigt Kämpfe für die Autonomie der Arbeit vom Kapital, wozu auch der Kampf um die Kontrolle und die Gestaltung digitaler Maschinen und der digitalen Automation zählt. Kapital und Arbeit haben im Automationsprozess entgegengesetzte Interessen: Während das Kapital die Arbeitskosten reduzieren und die Profite maximieren möchte, hat die Arbeit das objektive Interesse, die universelle, kollektive Kontrolle des Wohlstands und der Produktion zu maximieren, die harte Arbeit zu minimieren und ein gutes Leben für alle zu verwirklichen. Digitale Automation bedeutet im Kapitalismus einen Antagonismus zwischen Profitinteressen und menschlichen Interessen.

Analysen der und Berichte über die Industrie 4.0 stellen in der Regel die Forderung auf, dass Roboter, Algorithmen und andere digitale Maschinen den Menschen nicht kontrollieren und ersetzen sollten, sondern die Arbeit unterstützen, erleichtern und komplementieren sollten. Ob diese Idee Wirklichkeit wird ist jedoch keine idealistische Fragestellung, sondern hat mit der Einbettung der Automation in die materiellen Interessen und Kämpfe des Kapitalismus zu tun. Die verarbeitende Industrie hatte im Jahr 2015 einen Anteil von 25 Prozent an den Gesamtarbeitskosten in Deutschland, jedoch nur einen Anteil von 20,3 Prozent am gesamtwirtschaftlichen Profit (siehe Tabelle 2). Die deutsche Fertigungsindustrie ist relativ arbeitsintensiv: Während die allgemeine Lohnquote (der Anteil der Lohnsumme an der Wertschöpfung) im Jahr 2016 56,4 Prozent in der deutschen Gesamtwirtschaft betrug, war ihr Wert in der verarbeitenden Industrie 60,7 Prozent. Diese Größe ist also in der verarbeitenden Industrie höher als in der Landwirtschaft (45,6%), im Bauwesen (58,5%), dem FIRE-Sektor (20,1%), dem Dienstleistungsbereich (55,6%) und der Informations- und Kommunikationsbranche (Berechnungen basierend auf Daten aus der OECD STAN-Datenbank). Da die Gesamtlohnkosten und die Arbeitsintensität in der verarbeitenden Industrie Deutschlands relative hoch sind, gibt es ein materielles Interesse des deutschen Kapitals, Technologien der Industrie 4.0 einzusetzen, um die menschliche Arbeitskraft zu ersetzen und ihre Rolle im Produktionsprozess zu reduzieren. Da das menschliche Arbeitsvermögen komplex ist, bestehen Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, Arbeit in der verarbeitenden Industrie zu einem signifikanten Grad durch Technologien der Industrie 4.0 zu ersetzen (Pfeiffer & Suphan 2015). Unabhängig davon sollte man aber keinen Zweifel daran haben, dass das materielle Interesse des Kapitals, die Arbeitskosten zu reduzieren, um Profite zu erhöhen, auch die Entwicklung und Einführung der neuesten Technologien in der verarbeitenden Industrie bestimmt. Bei der Industrie 4.0 handelt es sich um den neuesten strategischen Versuch des Klassenkampfes von oben im Bereich des Technikeinsatzes und der Technikentwicklung.

Zweitens muss beachtet werden, dass durch die Vernetzung der Produktion und der Industriegüter über das Internet und deren Einbettung in Big Data-Ströme viele Fragen über die Privatsphäre, den Datenschutz und die Überwachung von Arbeitenden und Konsumenten aufgeworfen werden. Das Kapital versucht, Arbeitenden und Konsumenten mit der Hilfe intelligenter Technologien und intelligenter Güter besser zu kontrollieren. Drittens entstehen neue Risiken und komplizierte ethische Fragen: Technische Systeme sind fehleranfällig. Komplexe technische Systeme erzeugen Potentiale für Unfälle und Katastrophen. Je weniger Kontrolle der Mensch ausübt, desto schwieriger wird es, Katastrophen in Krisensituationen zu vermeiden. Wenn ein selbstfahrender Bus, der sich mit Hilfe von Google Maps steuert, einen Unfall mit 100 Toten verursacht, gegen wen wird dann Anklage erhoben? Gegen den Erzeuger des Busses? Gegen Google? Gegen den Verein, der den Bus mietete, um einen Ausflug seiner Mitglieder zu organisieren? Gegen den fehlerhaften Algorithmus? Gegen niemanden?

Viertens können neue Formen der Entfremdung entstehen, wenn Menschen durch intelligente digitale Maschinen unterstützt werden: Mit einem Roboter kann man nicht wie mit manchen Arbeitskollegen ein sinnhaftes Gespräch über lebenswichtige, existentielle Fragen führen. Das Verhalten von künstlichen Intelligenz-Systemen ist zu einem bestimmten Grad unvorhersehbar, wodurch Frustrationen auf Seiten der Arbeitenden entstehen können, wenn sie ihre Ziele nicht durch zielgerichtetes Handeln erreichen können, da sie von einer Maschine ihn derselben Arbeitssituation zu verschiedenen Zeitpunkten angeleitet werden, unterschiedlich zu agieren. Durch den Einsatz intelligenter digitaler Maschinen kann es sehr leicht zu solchen Situationen kommen, da sie eine Unzahl von Kontextvariablen berechnen und überblicken, die für die Arbeitenden nicht erfahrbar und nicht sichtbar sind.

Die nächste Phase der Computerisierung benötigt massive Investitionen, die durch Großkonzerne getätigt werden können. Daher kann die Verschärfung der Kapitalkonzentration und der Monopolisierung eine fünfte potentielle Auswirkung darstellen. Da Roboter vierundzwanzig Stunden lang ohne Pause arbeiten können, aber zumindest Aufsicht benötigen, entstehen sechstens neue Fragen der Arbeitszeitregelung und der Work-Life-Balance im Kontext der menschlichen Arbeit mit Robotern. Siebentens kann es zur Deindustrialisierung des Globalen Südens kommen, wenn die Industrie 4.0 als Form der De-Globalisierung praktiziert wird, um Produktionsauslagerungen in Entwicklungsländer rückgängig zu machen und die Produktion in die Länder des kapitalistischen Zentrums zu verlagern. Dadurch kann es zu einem Anstieg globaler Ungerechtigkeiten kommen.

Die Gesamtanzahl der weltweiten Arbeitenden im Industriesektor hat von 550 Millionen im Jahr 1991 auf fast 800 Millionen im Jahr 2017 zugenommen (siehe Tabelle 3). In den entwickelten Ländern hat die Zahl dieser Arbeiter in diesem Zeitraum von 187 Millionen auf 160 Millionen abgenommen. In den Entwicklungsländern hat die Anzahl hingegen von 369 Millionen auf 636 Millionen zugenommen. Es ist vor allem zu beachten, dass es in Indien einen Anstieg von 51,6 Millionen auf 125,2 Millionen gab und in China von 176,2 Millionen auf 208,9 Millionen. Wenn eines der Ziele der Industrie 4.0 also darin besteht, die Bandbreite der in Deutschland und anderen westlichen Ländern produzierten und montierten Güter zu vergrößern, so könnte es dadurch zur Deindustrialisierung und zum Verlust von Arbeitsplätzen im Globalen Süden kommen. Das iPad würde dann nicht mehr von jungen, niedrigbezahlten ländlichen Migranten in den chinesischen Foxconn-Fabriken in Shenzen montiert, sondern von einem Roboter in München. Im Kontext einer internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung würde dies für chinesische Arbeiter und Arbeiterinnen Klassenmobilität nach unten bedeuten, also einen Abstieg vom Klassenstatus hochausgebeuteter Industriearbeit in die Arbeitslosigkeit. 

Achtens ist zu beachten, dass der Individualverkehr einen der wichtigsten Anwendungsbereiche der Industrie 4.0 darstellt (selbstfahrende Autos) und fossile Brennstoffe die Hauptenergiequelle dieser Art des Transportes darstellt. Unter dem Regime des fossilen Kapitalismus ist es daher wahrscheinlich, dass die Industrie 4.0 negative Umwelteffekte des Individualverkehrs verstärken wird. Neuntens entstehen durch die Vernetzung der Produktion von physischen und anderen Gütern über das Internet neue Sicherheitsrisiken im Kontext der Industriespionage, des Hackens, der Cyber-Kriminalität und des Cyber-Terrorismus.

 

Tabelle 3: Die Entwicklung der Beschäftigung im sekundären Wirtschaftssektor (Industrie) in bestimmten Weltregionen, in Millionen, 1991 und 2016

(siehe pdf-Datei)

Nicht zuletzt darf als zehnter Punkt die Rolle der Technik in den Krisentendenzen des Kapitalismus nicht unterschätzt werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Computerisierung die fixen Kapitalkosten erhöht, was in vielen Ländern die Profitrate negativ beeinflusst hat, sodass das Kapital die Löhne gedrückt hat, um zu versuchen, dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken. Hochtechnologische digitale Maschinen sind teuer. Setzt sich dieser Trend fort, so können wir weitere Versuche des Kapitals erwarten, die Lohnquote, also den Anteil der Lohnsumme am produzierten Gesamtwert, zu drücken. Lohndrückerei im Zusammenhang mit der Industrie 4.0 ist der Versuch, dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken. Technologische Hypes haben sich oft als reine Ideologien herausgestellt, die Kapitalinvestitionen in bestimmte Wirtschaftssektoren fördern wollen, aber die realen Krisentendenzen des Kapitalismus unterschätzen. So hat zum Beispiel der erste Internetboom in den 1990er-Jahren zur Dotcom-Krise des Jahres 2000 geführt, in der viele Internetkonzerne zusammenbrachen. Es wird heute viel darüber gemutmaßt, welche Potentiale Industrie 4.0-Technologien angeblich haben, um das Wirtschaftswachstum massiv zu steigern, während kaum über mögliche Auswirkungen auf die fixen Kapitalkosten gesprochen wird.

Warum nicht Joseph Schumpeter, sondern Karl Marx der Theoretiker des digitalen Zeitalters ist

Joseph Schumpeter und seine Theorie der langen Wellen sind die besten Freunde der Ideologen der Industrie 4.0. Diese gehen mit Schumpeter davon aus, dass neue Technologien eine neue lange Welle der Wirtschaftsentwicklung einleiten müssen. Aber Schumpeter wird bis heute vom Gespenst Karl Marx heimgesucht. In den Jahren 1845 und 1846 schrieben Karl Marx und Friedrich Engels Die Deutsche Ideologie, in der sie einige der damals führenden deutschen Philosophen, wie zum Beispiel Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und Max Stirner, für die Vernachlässigung des Kapitalismus kritisieren. „Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen.” (Marx & Engels 1845/46, 20)

Mehr als 170 Jahre später leben wir im Zeitalter des digitalen Kapitalismus, der eigentümliche Formen der Ideologie geschaffen hat. Industrie 4.0 ist die neue deutsche Ideologie, die digitale deutsche Ideologie. Ist es keinem der Berater und Ideologen der Industrie 4.0 eingefallen, nach dem Zusammenhang deutscher Ideen mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhang ihrer Ideologie mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen. Sie propagieren Industrie 4.0 als neues kapitalistisches Allheilmittel, als neue digitale Version von Gott, von der gesagt wird, dass sie alle wirtschaftlichen (und andere) Probleme löst. Die reale widersprüchliche Klassenstruktur des Kapitalismus und seine divergierenden Interessen werden dabei ignoriert. In der Deutschen Ideologie heißt es weiter: „Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.“ (Ebd., 26) Industrie 4.0 ist eine ideologische Nebelbildung, die dem kollektiven Bewusstsein der heutigen Bourgeoisie entspringt. Es geht dabei darum, neue Formen der Akkumulation, der Kontrolle und des Klassenkampfes von oben voranzutreiben.

Marx und Engels argumentieren, dass die deutsche Ideologie „vom Himmel auf die Erde herabsteigt“, während ihre Kritik „von der Erde zum Himmel“ aufsteigt, indem „von den wirklich tätigen Menschen” und „ihrem wirklichen Lebensprozess“ (ebd.) ausgegangen wird.

Der wirkliche Lebensprozess so vieler Menschen ist von prekärer Arbeit, sozialer Unsicherheit und Ungerechtigkeiten zwischen den Reichen und dem Rest geprägt. Kapitalismus bedeutet einen Kampf zwischen Kapital und der Menschheit, es ist ein Kampf zwischen Entmenschlichung und Humanität. Im digitalen Kapitalismus versucht das Kapital, sich digitale Maschinen als Instrumente der politischen Kontrolle, der wirtschaftlichen Akkumulation und der ideologischen Manipulation anzueignen. Zu den gesellschaftlichen Kämpfen gehört im Kapitalismus der Kampf um die Kontrolle und die Gestaltung der digitalen Maschinen. Nur wenn die zum digitalen Proletariat erniedrigte Menschheit sich das fixe digitale Kapital aneignen kann, um es aufzuheben und in Mittel zur Verwirklichung und Erfahrung des humanistischen Sozialismus und des sozialistischen Humanismus verwandeln kann, wird es gelingen, digitale Technologien aus den fetischistischen und ideologischen Formen, für die das Konzept der Industrie 4.0 steht, zu befreien und die gesamte Menschheit zu bereichern. „Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums. […] Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer [der gesellschaftlichen] Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.” (Marx 1857/58, 604, 105)

Literatur

Aichholzer, Georg et al. 2015. Industrie 4.0. Foresight & Technikfolgenabschätzung zur gesellschaftlichen Dimension der nächsten industriellen Revolution. Zusammenfassender Endbericht. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften.

Austrian Institute of Technology, WIFO & Fraunhofer Austria Research. 2017. Beschäftigung und Industrie 4.0. Wien: Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie.

Bitkom. 2015. Umsetzungsstrategie Industrie 4.0. Ergebnisbericht der Plattform Industrie 4.0. Berlin: Bitkom.

Brödner, Peter. 2015. Industrie 4.0 und Big Data. Kritik einer technikzentrierten Perspektive. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 103: 75-84.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales. 2015. Grünbuch Arbeiten 4,0. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Bundesministerium für Bildung und Forschung. 2013. Zukunftsbild „Industrie 4.0“. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. 2015. Industrie 4.0. Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland. Eine Studie im Rahmen der Begleitforschung zum Technologieprogramm AUTONOMIK für Industrie 4.0. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

Butollo, Florian & Thomas Engel. 2015. Industrie 4.0 – arbeits- und gesellschaftspolitische Perspektiven. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 103: 29-41.

Dörre, Klaus. 2016. Industrie 4.0 – Neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen? DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften Working Paper 02/2016. Jena.

Dörre, Klaus. 2015. Digitalisierung – Neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen? In: Digitalisierung industrieller Arbeit: Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, ed. Hartmut Hirsch-Kreinsen, Peter Ittermann and Jonathan Niehaus, 269-284. Baden-Baden.

Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft & Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. 2013. Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Frankfurt am Main: Plattform Industrie 4.0.

Hirsch-Kreinsen, Hartmut und Michael ten Hompel. 2016. Digitalisierung industrieller Arbeit. Entwicklungsperspektiven und Gestaltungsansätze. In Handbuch Industrie 4.0: Produktion, Automatisierung und Logistik, Hrsg. Birgit Vogel-Heuser, Thomas Bauernhansel, Michael ten Hompel, 1-20. Berlin.

Holtgrewe, Ursula, Thomas Riesenecker-Caba und Jörg Flecker. 2015. „Industrie 4.0“ –eine arbeitssoziologische Einschätzung. Endbericht für die AK Wien. Wien.

Igelsböck, Judith et al. 2016. Bestandsaufnahme Arbeitspolitik in Oberösterreich: Herausforderungen und Perspektiven im Kontext von Industrie 4.0 und veränderten Marktanforderungen. Linz: Institut für Arbeitsforschung und Arbeitspolitik an der Johannes Kepler Universität Linz.

Marx, Karl. 1857/58. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In Marx-Engels-Werke (MEW) Band 42, 47-770. Berlin.

Marx, Karl &Friedrich Engels. 1845/46. Die deutsche Ideologie. In Marx-Engels-Werke (MEW) Band 3, 5-530. Berlin.

Pfeiffer, Sabine. 2017. The Vision of “Industrie 4.0” in the Making – a Case of Future Told, Tamed, and Traded. Nanoethics 11: 107-121.

Pfeiffer, Sabine & Anne Suphan. 2015. Der AV-Index. Lebendiges Arbeitsvermögen und Erfahrung als Ressourcen auf dem Weg zu Industrie 4.0.Universität Hohenheim Lehrstuhl für Soziologie Working Paper 2015/1. Hohenheim.

Schwarzbach, Marcus. 2018. Ausbeutung 4,0: Intensivierung der Arbeit durch Digitalisierung. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 113: 68-71.

Spath, Dieter et al. 2013. Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Stuttgart.

 

 

[1]   Im Englischen spricht man von „Monetary Expression of Labour Time” (MELT).

[2]   Kritische Überlegungen zur Industrie 4.0 finden sich zum Beispiel in den folgenden Publikationen: Brödner (2015), Butollo & Engel (2015), Dörre (2016, 2015), Hirsch-Kreinsen & tenHompel (2016), Igelsböck et al. (2016), Pfeiffer (2017), Pfeiffer & Suphan (2015), Schwarzbach (2018).