Gengenormtes Leben

Neue Irrwege der Bevölkerungspolitik

Seit jeher beschäftigen sich bevölkerungspolitische Konzepte wie der Sozialdarwinismus nicht nur mit einem "Zuviel" oder "Zuwenig" an Bevölkerung, ...

... sondern auch mit der Produktion einer "qualitativ hochwertigen" Auslese. Diese Tradition droht in modernen Strategien zur Vermeidung von (Erb)-Krankheiten und der Vision von "genetisch optimierter" Nachkommenschaft durch reproduktionsmedizinische Eingriffe fortgeführt zu werden.

Die "präventive Auslese der Minderwertigen und stärkere Vermehrung der Bestgeratenen"1 war für Rudolf Goldscheid, Vorsitzender der Soziologischen Gesellschaft in Wien, der Grundgedanke eines "sozialrevolutionären" Projektes. Er richtete sich explizit gegen die sozialdarwinistische Ansicht, der zu Folge das Elend, das während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert durch Migration und Bevölkerungszuwachs in den urbanen Zentren aufkam, eine "Entwicklungsnotwendigkeit" sei. Eine "Überproduktion" an Bevölkerung galt den frühen Sozialdarwinisten als unabkömmliche Voraussetzung der natürlichen Auslese, als "Grundgesetz des Organischen". Erst später plädierten die Sozialdarwinisten für ein aktives Eingreifen im Sinne von Rassenhygiene. Zugleich übertrugen sie dieses "natürliche Gesetz" auf den Markt und vertraten so den ökonomischen Liberalismus in seiner konsequentesten Form. Goldscheid hingegen stellte Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Vision der eugenischen Verbesserung eben diese Notwendigkeit des Elends für Evolution und wirtschaftliche Entwicklung in Frage. Dabei fühlte er sich einer neuen Sozial- und Gesundheitspolitik mit Kinderschutz, Mutterschaftsversicherung, Jugendfürsorge und Volksbildung verpflichtet. Nicht die Ausmerzung der Minderwertigen war sein Ziel, sondern die Umstrukturierung der Rahmenbedingungen, um die Kosten eines vorzeitigen Erschöpfens menschlicher Arbeitskraft gering zu halten.

Das sozialpolitische Gewand
Goldscheid propagiert eine systematische Familienpolitik und die "Verwaltung der menschlichen Arbeitskraft, der lebendigen Wertquellen" als "innerste(n) Kern der Wirtschaftspolitik". Zum ökonomischen Rentabilitätsprinzip der Sachamortisation gesellt sich die Sozialpolitik in Form des "Personalamortisationsprinzips" (Goldscheid). Ein Jahrhundert später errechnet der Vorsitzende der Ethikkomission der US-amerikanischen Reproduktionsmediziner die Kosten der Präimplantationsdiagnostik (PID) und hält sie den hohen Pflegekosten beispielsweise für einen Mukoviszidose-Patienten gegenüber - mit dem Ergebnis, die PID aus Kosteneffizienzgründen zu empfehlen. Bereits in den 80er Jahren hatte das Bundesministerium für Soziales den Bonner Gesundheitsökonomiepreis für eine Analyse verliehen, die den finanziellen Aufwand vorgeburtlicher Untersuchungspraxis mit dem Kostenaufwand der Behindertenbetreuung vergleicht. Inzwischen mehren sich die Fälle einer Auswahl von künstlich erzeugten Embryonen als optimierte Spender. So wurde in Großbritannien ein durch künstliche Befruchtung erzeugter Embryo mittels PID explizit ausgewählt, um später Stammzellen für eine Gentherapie des an Leukämie erkrankten Bruders gewinnen zu können. Kann also die Regulation der Bevölkerung durch Sozialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den reproduktionstechnologischen Eingriffen der modernen Medizin in eine Reihe gestellt werden? Der Goldscheidsche Mutterschutz gilt ideologisch als Vorläufermodell des Mutterkreuzkultes und mündete später in der Auslese und Aussonderung durch rassenhygienische Maßnahmen. Eingriffe in die Reproduktion dringen immer weiter in die private Sphäre und individuelle Entscheidungsfreiheit von Eltern, Frauen und Kindern ein. Die Sozialpolitik, die gesunde Kinder mittels Mutterschutz gelobt, ist hier nur ein Vorbote mit humanem Antlitz. Verschiedene mehr oder weniger repressive Strategien der Vermeidung von (Erb-)Krankheiten - erst durch genetische Beratung und schließlich durch vorgeburtliche Untersuchungen bis hin zu deren Behandlung mit eigens dafür erzeugtem menschlichem Leben - sind die Fortsetzung. Bei aller Unterschiedlichkeit der Methoden und auch der offenbarten Ziele - mal steht eine stabile Entwicklung der Ökonomie als kollektiver Endzweck, mal die individuelle Vermeidung oder Heilung von Krankheit im Vordergrund - ist ihnen zunächst der humanitäre Spruch gemeinsam, mit dem ein mehr oder weniger tiefer Eingriff in die Reproduktion gerechtfertigt wird. Utopien wie die Verringerung von Krankheiten und Mangel werden jedoch in Koordinaten gedacht, wie das Subjekt effektiver vernutzt werden kann. Die damit verbundene Debatte setzt auf individuelle Menschenrechtsrhetorik. Vorherrschend ist hier die "reproduktive Autonomie des Individuums" als ethisches Prinzip, das zumindest rhetorisch repressive Bevölkerungspolitik des Gebärzwangs und der Zwangssterilisation abgelöst hat. Dabei wird den Frauen eine Befreiung von den biologischen und gesellschaftlichen Zwängen ihrer Fortpflanzungsfähigkeit in Aussicht gestellt. Stattdessen geraten Zeugung, Schwangerschaft und Geburt unter den Zwang zur perfekten Produktion. Frauenkörper werden zunehmend zum Gegenstand von Forschungsinteressen und Perfektionierungsfantasien.

Individuelle Wahl statt kollektiver Zwang?
Die propagierte reproduktive Autonomie der Frau hört auf, wenn etwa die US-amerikanische Gesellschaft für Humangenetik ein Recht des Kindes einklagt, körperlich und geistig gesund geboren zu werden und den Vater zur klageberechtigten Person machen will. Der Schritt, von juristischer Seite das wissentliche oder absichtliche Austragen eines genetisch defekten Fötus als Missbrauch zu bezeichnen, ist hier nicht weit. Ein solcher "vorbeugender Fötusschutz" kann darin münden, Kinderwunsch und Zeugung mit präventiven Maßnahmen zur Sicherung erbgesunder Föten zu kombinieren oder die Lebensgewohnheiten von Schwangeren zu reglementieren.

An Stelle der reproduktiven Rechte und Gesundheit, wie sie aus feministischer Sicht in Verbindung mit einer geburten- und kinderfreundlichen Gestaltung des sozialen und ökonomischen Umfeldes eingeklagt wird, bestimmen gesellschaftliche Zwänge die Reproduktion. Denn zum einen bedingen die gesellschaftlichen Verhältnisse für diejenigen Nachteile, die ihre Zeit der Kindererziehung oder der Betreuung von Kranken widmen. Zum anderen zeichnet sich ein ungleicher Zugang zu den Verheißungen der Repromedizin ab. Es formiert sich eine Klassentrennung zwischen denjenigen, die sich als gut verdienende Paare eine künstliche Befruchtung oder eine Leihmutter leisten können, und jenen Frauen, die in dem Austragen eines genetisch nicht mit ihnen verwandten Kindes die Chance auf einen Zusatzverdienst wahrnehmen und aus ökonomischer Not ihre Gebärmutter "vermieten" oder ihre Eizellen verkaufen. Zudem manifestiert sich eine rassistische Trennung in der Reproduktionsmedizin, wenn Leihmütter aus Entwicklungsländern laut der US-amerikanischen Bionetics Foundation nur halb so viel verdienen wie jene aus Industriestaaten. Das Geschäft mit der Reproduktion zieht aus den sozialen Ungleichheiten der Gesellschaft offenkundig seine Vorteile. Die in den meisten Ländern verbotene Praxis der Leihmutterschaft ist in den USA völlig legal und wird dort mit dem Argument vertreten, "ein freier Markt für Babies erhöht das öffentliche Wohl durch die Umverteilung der Kinder von denen, die sie haben - nämlich primär den Armen - zu jenen, die sie nicht haben aber sich leisten können".2

Die Ethik einer reproduktiven Autonomie des Individuums fördert den absurden Gedanken einer reproduktionstechnisch machbaren "Entlastung" (wohlhabender) Frauen von der Bürde der Schwangerschaft. Zugleich manifestiert sich ein gesellschaftlicher Zwang auf Frauen, die eugenischen und reproduktiven Fantasien einer paternalistischen Gesellschaft zu realisieren (siehe Kasten), der groteskerweise von der Rhetorik einer größeren individuellen Autonomie und Emanzipation der Frauen begleitet wird. Dazu gesellt sich der Transfer von Körperteilen von arm nach reich: Frauen werden als schlecht entlohnte Spenderinnen von Eizellen und Stammzellen oder als Leihmütter auf ihre biologische Funktion reduziert. Ihre Körper dienen als Ressource für ökonomische Geschäfte - für die finanzkräftigen KundInnen aus dem Norden, die sich von der Mühe des Austragens von Kindern freikaufen können.

Bevölkerungspolitisches Qualitätsmanagement
Wesentlich offensichtlicher ist das Missverhältnis von individueller Wahl und kollektivem Zwang in jenen Ländern, denen eine Bevölkerungsexplosion prophezeit wird. Bekannte Beispiele sind der Zwang zur Ein-Kind-Familie in China sowie die Anwendung von Verhütungsmitteln mittels militärischen Zwangs in Indonesien. Die Weltbank und US-Aid unterstützten ein Massensterilisationsprogramm, das Anfang der 80er Jahre mehr als eine Million Frauen betraf, wobei deren Zustimmung auch mal mit Lebensmitteln erkauft wurde: Die Anzahl der Sterilisationswilligen stieg immer dann sprunghaft an, wenn die Ernten aufgebraucht waren. Nach 1995 traf ein Sterilisationsprogramm Fujimoris 270 000 Frauen in Peru - trotz seines Bekenntnisses zu reproduktiven Rechten und Gesundheit auf der Weltfrauenkonferenz in Beijing.3

Während in den 60er Jahren das angeblich explodierende Bevölkerungswachstum die Umsetzung des Planes einer importsubstituierenden Industrialisierung zu verhindern drohte, rückte in den 90er Jahren die Gefährdung des ökologischen Gleichgewichtes in die erste Reihe der Rechtfertigungsrhetorik für Bevölkerungsregulierung. Dabei spielte der alte Streit, ob Verhütung die beste Entwicklung oder aber Entwicklung die beste Verhütung darstellt, auf der letzten Bevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen kaum noch eine Rolle. Konsens ist die Notwendigkeit einer Überwindung der "Überbevölkerung", die für Armut und Umweltzerstörung verantwortlich gemacht wird - egal auf welchem Wege. Doch gerade bei der Wahl der Mittel zeichnet sich neuerlich eine Tendenz in Richtung selektiver Verhütung ab: Angesichts der Möglichkeit, mittels Gentests gerade diejenigen Risikogeburten ausfindig zu machen, die sich die schwachen Ökonomien in den Ländern der Dritten Welt nicht leisten können, erscheint das Ausleseverfahren durch vorgeburtliche Tests volkswirtschaftlich attraktiv. Außerdem ist sie vermutlich (kosten)effizienter als die Gestaltung eines sozioökonomisch sicheren Umfeldes zur Vermeidung von Krankheiten (auf künftige Gesundheitsökonomiepreise für entsprechende Analysen darf man gespannt sein).

Bevölkerungsprogramme, die Sterilisation und Abtreibungspillen einsetzen, oder Forschungsvorhaben, die am Antischwangerschaftsimpfstoff basteln, legitimieren ihr Vorgehen neuerlich auch damit, das Potenzial für erblich bedingte Krankheiten in der Bevölkerung reduzieren zu wollen. Dass schlechte Arbeitsbedingungen, Mangelernährung und fehlende Unterkünfte in aller Regel mehr als genetische Dispositionen zu erhöhten Krebs- und anderen Krankheitsraten beitragen, wird gerne unterschlagen. Vorschnell ist die Zielgruppe "arme und kinderreiche Familie" als Träger von genetisch determinierten Krankheitspotenzialen ausgemacht, obwohl diese Krankheiten zu einem erheblichen Teil das Resultat von Armut sind. Außerdem wird der Befund, dass hohe Geburtenraten sich mit sinkender Armut wieder verringern, verdrängt. Statt dessen wird Besserung durch Maßregelung angestrebt - eine Variante von Bekämpfung der Armen anstatt der Armut.

Globale "Erbgesundheit" durch Klassenbildung
Die aktuelle bevölkerungspolitische Argumentation ("Das Boot ist voll") abstrahiert also nicht nur von sozialen und politischen Zusammenhängen. Sie ist auch verhältnismäßig blind gegen die sich einschleichende Eugenik im Bevölkerungsdiskurs. Die bei Entwicklungsorganisationen traditionsgemäß im Vordergrund stehende Frage nach dem Zuviel oder Zuwenig an Bevölkerung verdeckt, dass es längst auch wieder um "Qualität" geht. Dabei ist diese Tendenz keineswegs neu oder rein den genetischen Einsichten und gentechnischen Möglichkeiten verschuldet. Auch Robert Malthus, der Ende des 18. Jahrhunderts das Wachstum der Bevölkerung den vorhandenen Ressourcen, insbesondere Nahrungsmitteln, rechnerisch gegenüberstellte, hatte durchaus die Qualität im Sinn. Er betonte, dass die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung gleichermaßen zu berücksichtigen sei. Schließlich mag Malthus, der sich als Feind von Hunger und Elend verstand, auf menschliches Leid doch nicht verzichten: Er lehnte die Armenfürsorge mit dem Argument ab, durch staatliche oder kirchliche Umverteilungspolitik würde das Leid als Antrieb für Eigeninitiative zunichte gemacht. Und heute? Eine auf genetischer Beratung und präventiver Vermeidung basierende Familienplanung in den Entwicklungsprogrammen läuft derzeit Gefahr, die (mehr oder weniger freiwillige) "genetische Säuberung" von Krankheiten bei den Armen mit der Notwendigkeit einer restriktiven Geburtenkontrolle zu legitimieren, statt dringend notwendige Therapieformen zu finanzieren oder mit den krankmachenden Verhältnissen aufzuräumen.

Eine Unterscheidung der "Zuwachsraten" nach Klassenzugehörigkeit teilte die Bevölkerung im 20. Jahrhundert in produktive und unproduktive ein: Kinderarmut der Beamtenschaft, Richter und Ärzte wurde gegenüber einem proletarischen Kinderreichtum problematisiert, da man das Aufkommen einer geistig untergeordneten Klasse fürchtete. Nachdem das jeweilige klassentypische Fortpflanzungsverhalten erkannt war, folgte die Trennung in erwünschte und unerwünschte Geburten. Goldscheid wollte, da die Industrialisierung auf gesunde Arbeitskraft angewiesen ist, mit seiner auf Sozialpolitik setzenden Geburtenregulierung den Bevölkerungszuwachs optimal organisieren und zugleich einer Entvölkerung vorbeugen, statt "einer Überflutung des Landes mit Einwanderern tiefstehender Kulturen und fremder Rassenelemente ruhig zuzusehen". Hinter der vorsorglichen Planung gegen Entvölkerung steckt jedoch nur die Angst vor Überfremdung. Die Verquickung eugenischer und rassistischer mit wirtschaftlichen und humanitären (sozialen) Argumenten besticht in ihrer Aktualität. Heute finden sich Daten über "Fruchtbarkeitsraten" in fast jedem Lexikon. Besorgt wird ein durchschnittlich 4,3 prozentiger Zuwachs der Bevölkerung in den Entwicklungsländern zwischen 1995 und 2000 den nur 0,7 Prozent in den Industrieländern gegenüber gehalten. Auf eben dieses Zahlenmaterial stützen sich jene Reproduktionsmediziner, die das Aussterben der Intelligenz beklagen und mit ihren Reagenzglasbabys für Unfruchtbare Abhilfe anbieten.

Stellt man die reproduktionsmedizinischen Eingriffe in den Industrieländern - von den genetischen Beratungsstellen über die (nicht überall gleichermaßen erlaubte) Erzeugung von Wunschbabies bis hin zur Optimierung von Kindern - denjenigen in den Entwicklungsländern gegenüber, so lässt sich zweierlei feststellen: Im Fall der Industrieländer realisiert sich die Reproduktionsmedizin zunehmend über einen marktförmigen Prozess, wobei die sozialen Umstände bestimmen, wer wann welches "Angebot" in Anspruch nehmen oder die Nachfrage bedienen kann und darf. Im Süden beschneiden mehr oder weniger restriktive bevölkerungspolitische Programme nach wie vor die reproduktive Autonomie und die Gesundheit der Frauen. Beiden Situationen ist gemeinsam, dass sich eine eugenische Grundhaltung verbreitet, die dem alten Wunsch nach Volksgesundheit gefährlich ähnelt. So wird insgesamt einem in humanitäre Rhetorik verpackten Streben nach einem - jetzt globalen - "gesunden Volkskörper" Vorschub geleistet. Dabei sind sozial Schwache der Praxis des Aussortierens unerwünschter Eigenschaften ausgeliefert, während Begüterten Zugang zu einer Praxis (vermeintlicher) Qualitätsförderung gewährt wird.

Anmerkungen:
1 Rudolf Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie, Leipzig 1911, zitiert aus Aurelia Weikert: Zu viel oder zu wenig? Alte Ideen vom besseren Menschen und neue Reproduktionstechnologien. In: Journal für Entwicklungspolitik 12/1, 2002.

2 Zitiert aus: Zoe C. Meleo-Erwin: Reproductive Technology: Welcome to the Brave New World. In: Redesigning Life. Brian Tokar, Zed Boods, London 2001.

3 Karin Kozuch: Zwischen Gebärzwang und Zwangssterilisation. Unrast, Münster 1999.

Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w.