Stände, Klassen, Kunst

Zum gesellschaftlichen Status und Gebrauch symbolischer Güter.

Stände, Klassen, Kunst. [1] In seinem Essay Die künstlerische und literarische Noblesse aus dem Jahre 1863 entwirft Xaxier Heuschling das Bild einer dem Adel allein zukommenden zivilisatorischen Mission und den Adelsstand auszeichnenden Standes-Ethos: „Diese durch und durch zivilisatorische Mission besteht darin, von Generation zu Generation Traditionen von Vornehmheit, des guten Tons, der Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang, des guten Geschmacks in den Künsten, der geistigen Vervollkommnung, der Verfeinerung der Gefühle […] [zu gewährleisten].“ [Übers. F.S.] Heuschling spricht den bürgerlichen Klassen aufgrund ihrer Verstrickungen in die Notwendigkeiten materieller Daseinsvorsorge und vulgären Aktivitäten jedwede Neigung und Eignung für die Pflege der höheren zivilisatorischen Werte und Aufgaben, darunter insbesondere die Pflege der Künste, per se ab. Dies erklärt sich in erster Linie durch die für das Ethos vormoderner Eliten geradezu selbstevidente Unterscheidung von vornehmen Müssiggang als einzig standesgemässer Lebensführung hier und Mühsal der Arbeit im Dienste Anderer und der eigenen Daseinsvorsorge dort.
Doch parallel zu einem solchen zivilisationskritisch-nostalgischen Bild eines post-heroischen bürgerlichen Zeitalters, in dem ein von seinen weltlichen Gütern und politischen Herrschaftsmitteln beraubter Adel die Fahnen der Zivilisation gegen den anbrandenden Ungeist der seelenlosen Moderne hochzuhalten trachtet, entwickelte sich ein neues Narrativ. Es führt die Kritik am kulturlosen Bourgeois und seinem geistigen Dingen abholden vulgären Materialismus fort, bringt aber eine andere Akteursgruppe mit ins Spiel, nämlich die Künstlerschaft, der nun gewissermassen eine neue Noblesse und damit zivilisatorische Mission zugestanden wird.

Von der Kunst „tätig“ zu sein ohne zu „arbeiten“

Honoré de Balzac lieferte 1830 in seinem Traité de la vie élégante nicht nur einen Katalog der Etikette für Eliten im Nouveau Régime des bürgerlichen Zeitalters und der ihnen angemessenen Regeln sozialer Distinktion, sondern zugleich auch ein für den Status des Künstlers innerhalb dieser Eliten als Hybrid zwischen Müssiggang des Adels und aktivem Leben der Werktätigen programmatische Definition und Legitimation: „Der Künstler ist eine Ausnahme: sein Müssiggang ist Arbeit, und seine Arbeit Erholung; er ist elegant und nachlässig je nach Fall, er kleidet sich je nach Laune mit dem Mittel des Arbeitens oder entscheidet sich für den Frack des Mode-Mannes. Er unterliegt keinen Gesetzen – er oktroyiert sie.“[2]

Honoré de Balzacs Steckbrief des Künstlers als Ausnahmeerscheinung stellt gewissermassen selbst ein Hybrid dar. Auf der einen Seite handelt es sich um ein Manifest eines für die bürgerlichen Kultureliten kennzeichnenden „Pathos der Distanz“ (Nietzsche) und des legitimen Anspruchs Teil der gesellschaftlich herrschenden Klasse in den Fußstapfen der Noblesse des Ancien Régime zu sein. Der Begriff des „eleganten Lebens“, der in der Juli-Monarchie (1830−1848) zum Leitmotiv des Selbstverhältnisses wie auch der Selbstinszenierung der Bourgeoisie wurde, wird hier ganz gezielt auf die Distinktion von „leisure class“ (Veblen) avant la lettre und Arbeit hin ausgerichtet. Auf raffinierte Weise vollzieht Balzac hier die Nobilitierung künstlerischen Tätigseins, indem er es vom Geruch der Notwendigkeit und des Mittels zum Zweck der Daseinssicherung befreit und als dem Lebensstil des Müssigganges zugehörig beschreibt. Der Künstler erscheint hier als „Nomothet“ (Barthes), der sich selbst Gesetze gibt und gegenüber den Notwendigkeiten und Abhängigkeiten der Normalsterblichen erhaben ist.
Auf der anderen Seite liefert uns dieses janusgesichtige Porträt des Künstlerstatus eine quasi soziologische Definition von den in dieser Periode emergenten Klassenstrukturen. Die von seinem Traité gebotene Gesellschaftsanalyse unterscheidet drei Klassen, um im Sprachgebrauch zu dieser Zeit und ihren frühsozialistischen Diskursen zu bleiben. Eigentlich wäre das Konzept „Stand“ angemessener, zieht man in Betracht, dass es Balzac ja um ein Ethos und Formen sozial distinktiver Lebensführung, also nicht um „rein ökonomisch bestimmte Klassenlage“, sondern „eine typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifisch positive oder negative Einschätzung der ‚Ehre‘ bedingt ist, die sich um irgendeine Eigenschaft vieler knüpft.“[3] In dieser Gesellschaftsdiagnose erscheint der arbeitende Mensch als für „elegantes Leben“ und den Status des „Ehrenmannes“ ungeeignet.
Wir finden also gewissermassen bei Balzac im Jahre 1830 ein Manifest, dass die Baudelaire zugeschriebene Gründungsakte des „L’art pour l’art“ der freien Kunst vorwegnimmt und in einer Mischung von selbstbewusster Unabhängigkeitserklärung und elitärem Herrschaftsanspruch hier und sozioanalytischer Beschreibung eines neuen gesellschaftlichen Regimes dort eine originelle Radiographie emergenter sozialer Ordnung bietet.
Tätig, aber nicht „arbeitend“, „schöpferisch“, aber nicht als „Mittel“ im Dienste von Notwendigkeiten der Daseinsfürsorge, aus sich heraus in freier Kreativität „neue Ideen“ schöpfend – das ist für Balzac der Ausnahmestatus des Künstlers.
Nur zwei Jahrzehnte später wird die „impressionistische Revolution“ (Bourdieu) das revolutionäre Programm Balzacs in Taten umsetzen und die Idee eines gesellschaftlichen Feldes der Kunst als gegenüber der Ökonomie relativ autonomer Sphäre durchsetzen.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 43, Sommer 2017, „Class Matters“.


Franz Schultheis ist Professor für Soziologie und Dekan der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen, http://www.franzschultheis.ch

 

[1] Unter dem Titel „Stände, Klassen, Religion“ entwickelte Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft eine Gesellschaftsanalyse im Zusammenhang mit den je spezifischen „religiösen Heilsbedürfnissen“ sozialer Klassen. Ausgehend von Pierre Bourdieus These, nach der Kunst in modernen Gesellschaften ein funktionales Äquivalent von Religion repräsentiert, postulieren wir hier den Fortbestand vormoderner Formen ständischer Unterscheidung in Gestalt der symbolischen Distinktionsmacht von Kunst.

[2] H. de Balzac: Traité de la vie élégante, Paris 1830, La Pléiade, Bd. 3, S. 188 (Übers. F.S.)

[3] Weber Max (Hg.) (1980 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr, S. 534.