"Das Gut-Böse-Schema ist Blödsinn"

Ein Gespräch über die Möglichkeiten udn Grenzen gesellschaftskritischer Spielfilme mit Martina Backes, Rosaly Magg, Christian Stock und Alexander Sancho-Rauschel

iz3w: Welcher politische oder gesellschaftskritische Spielfilm hat euch besonders beeindruckt?

Rosaly Magg (RM): Sowohl filmisch als auch inhaltlich hat mich »Die Fremde« (2010) von Feo Aladag gepackt, weil dieser Film sich vielschichtig mit dem Thema Ehre und so genanntem Ehrenmord auseinandersetzt. Er beginnt mit dem vermeintlichen Ende – das ist ein gelungener Kunstgriff, denn das Wiederholen der Schlussszene wird von den ZuschauerInnen am Ende ganz anders eingeordnet. Der Film arbeitet mit langen Einstellungen und wenigen Dialogen. Das Stilmittel des Filmes sind Blicke – vor allem solche, die zwischen den männlichen Familienmitgliedern gewechselt werden und entscheiden sollen, wer mit dem so genannten Ehrenmord beauftragt wird. Das Unglück aller ProtagonistInnen steht im Vordergrund. Niemand wird verurteilt, Aladag arbeitet nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Auch der Titel passt hervorragend zum Film: Die Hauptfigur Umay wird im Laufe des Filmes immer mehr zur Fremden in der eigenen Familie. Einer der Dialoge, die mir im Kopf haften bleiben, war: »Wenn deine Eltern wählen müssten zwischen dir und der Gesellschaft, würden sie sich nicht für dich entscheiden.« Umay antwortet darauf nur: »Doch«.

Christian Stock (CS): »Die Fremde« ist auch für mich einer der eindrücklichsten Filme der letzten fünf Jahre, obwohl er als Lehrstück mit pädagogischem Anspruch aufgezogen ist. Nicht umsonst wird er in der Erwachsenenbildung gezeigt, nicht von ungefähr haben ihn Moralapostel wie Ulrich Wickert gelobt. Dass der Film dennoch gut ist, liegt an der großartigen Hauptdarstellerin. Sibel Kekilli hat ja bereits in «Gegen die Wand« absolut überzeugt. Es ist auch bei einem Film mit gesellschaftskritischem Anspruch zwingend notwendig, dass er packend erzählt und bis zur letzten Sekunde spannend ist, dass er mitreißt mit voller emotionaler Wucht.

Alexander Sancho-Rauschel (ASR): Ein Klassiker, den ich beim zweiten Ansehen fast noch lieber mochte, ist »TGV-Express – der schnellste Bus nach Conakry« (1998) von Moussa Touré. Er zeigt eigentlich nur eine Busreise quer durch den Kontinent, bei der mehrere Grenzen überwunden werden müssen. Der Busfahrer, der regelmäßig die Strecke durch Bürgerkriegszonen und unklare Grenzgebiete fährt, erledigt das in stoischer Gelassenheit. Es ist ein typischer Roadmovie: Im Bus sitzt eine zusammengewürfelte Gesellschaft, die aus ganz unterschiedlichen Motiven eine Reise macht und so eine verschworene Gemeinschaft wird. Ab und an wird an der Grenze jemand rausgezogen, der dann nicht weiterfahren kann, trotz allen Protesten ist da nichts zu machen. Es gibt also einen gewissen Schwund an Fahrgästen. Witzig ist, dass in diesem Bus auch ein französisches Ethnologenpaar mitfährt. Sie haben diese Ethnologen- und Forscherbrille auf und sind absolut daneben. Sie kapieren nicht richtig, was um sie herum passiert, glauben aber, immer alles analysieren und einordnen zu müssen. Das ist eine gar nicht so gehässige Art, sich beiläufig über EuropäerInnen lustig zu machen, die das Gefühl haben, in Afrika irgendwas erforschen zu müssen. Allein das macht den Film wunderbar.

Martina Backes (MB): Ein Film, der mich in letzter Zeit beeindruckt hat, war die kenianische Produktion »Something Necessary« (2013) von Judy Kibinge. Anne hat die gewaltsamen Ausschreitungen in Kenia nach den Wahlen 2007/08, bei denen rund 1.500 Menschen zu Tode kamen, knapp überlebt und sucht nun nach Wahrheit und Wegen der Versöhnung. Ihr Ehemann wurde getötet, ihr Sohn liegt im Koma. Sie selbst hat extreme, auch sexualisierte Gewalt erlebt. Kibinge schafft es, Gewalt in dem persönlichen Drama in einer Form zu verhandeln, bei der klar wird, dass es nicht allein um die individuelle Erfahrung geht. Transportiert wird anhand der persönlichen Geschichte vielmehr die Wirkung gesellschaftlicher struktureller Gewalt. Zugleich wird die Frage an die – durchaus selbst betroffenen – ZuschauerInnen gestellt: Wie kommt eine Gesellschaft darüber hinweg? Kann man das, darf man das vergessen? Was bedeutet eigentlich Versöhnung? Was heißt Verzeihen? Die Charaktere – männliche Peiniger wie auch Frauen, die Opfer ihrer Brutalität wurden – sind nicht glatt, nicht nur gut oder nur böse, sondern immer auch gebrochen und widersprüchlich in ihren Reaktionen und Gedanken. Der Film lässt kein Entrinnen vor der Frage, welche Rolle vorherrschende Männlichkeitsbilder in der kenianischen Gesellschaft generell und für den Ausbruch des gewaltsamen Konfliktes gespielt haben.

Wodurch unterscheidet sich ein guter politischer Film von einem gut gemeinten?

CS: Ein gut gemeinter Film ist »Hotel Ruanda« (2004). Das Setting, das Genozid in Ruanda, ist erschreckend, die Sinnlosigkeit des Gewaltgeschehens kommt gut raus. Es geht um einen Hotelmanager, der 1.200 Menschen das Leben rettet. Er wird aber so penetrant als Held inszeniert, dass es einen schon beim Schauen des Films nervt, obwohl er von Don Cheadle gut gespielt wird. Schon im Film selber ist unglaubwürdig, dass er so altruistisch handelt, wie das niemand in solch einer extremen Situation tut. Wie schon zu erwarten war, ist die Geschichte nicht so geschehen wie dargestellt. Nach Erscheinen des Filmes warfen viele Stimmen aus Ruanda dem Film vor, er beschönige. In Wahrheit habe sich der Hotelmanager an den Flüchtlingen bereichert. »Hotel Ruanda« wurde für das Mainstreamkino zurechtgeschneidert, eine angemessene Beschäftigung mit dem Genozid in Ruanda sieht anders aus. In diesem Spielfilm wird trivialisiert.

MB: In »Hotel Ruanda« erfährt man kaum etwas über die Stufen der Gewalteskalation, die dem Genozid vorausgingen, nichts über die historischen und gesellschaftlichen Ursachen. Zugegeben, das ist nicht Thema des Films, aber hier stellt sich die generelle Frage, ob es legitim ist, einen Genozid als Hintergrundszene für eine Heldengeschichte herzunehmen – und das in einer Zeit, in der noch Millionen Menschen von diesem Genozid und seinen Folgen sehr direkt betroffen sind und eigene Gewalterfahrungen gemacht haben. Aus der Perspektive der Opfer halte ich es für unsensibel. Auf diese Weise wird mit »Hotel Ruanda« zudem das in Europa verbreitete Stereotyp von den außer Kontrolle geratenen, bestialischen und marodierenden Hutu-Milizen bedient, die zwar zu dieser Zeit zweifelsohne so brutal gehandelt haben wie dargestellt. Doch bedient wird der (europäische) Blick auf die 'entgrenzten Wilden' in Afrika.

Unglaubwürdig und geradezu betäubend ist die dichotome Einteilung in »Gut« und »Böse«, die »Hotel Ruanda« stark betont. Der Film erinnert sehr vorsichtig daran, dass die UN durch ihre mangelnde Präsenz in Ruanda eine Art «Unterlassungssünde« begangen hat, wie ein erhobener Zeigefinger, gut gemeint in diesem Punkt, aber keinesfalls filmisch gut umgesetzt. Denn der Plot gibt keine Denkanstöße, die das Handeln der Personen oder politisches Handeln in seinen Konsequenzen und Widersprüchen in Frage oder zur Debatte stellen. Der Filmemacher und die SchauspielerInnen betonen in Interviews, sie wollten daran erinnern, dass es dieses Genozid überhaupt gab, weil viele nichts davon wissen. Mir ist das zu wenig für einen guten Film.

ASR: Das Gut-Böse-Schema, das bei »Star Wars« wunderbar funktioniert, ist bei den meisten politischen Themen einfach Blödsinn, weil auch die Bösen ihre Motive haben. All diese Ereignisse haben eine Vorgeschichte, ohne die es nicht funktioniert. Es gibt drei große Fallen beim filmischen Erzählen: Erstens hat man eine so glasklare Botschaft, dass die ZuschauerInnen sich zu Tode langweilen. Dass sie das Gefühl bekommen, alle Dialoge seien nur Staffage, weil jemand seine Message verkaufen will, dafür aber zwei Stunden braucht. Zweitens: Notwendige Nebengeschichten oder interessante Nebencharaktere kommen zu kurz oder fehlen. Drittens: Das Grauenhafte an historischen Romanen und Filmen ist der Drang, die großen Höhepunkte der Ereignisse zu erzählen. Die wenigen gelungenen historischen Romane, etwa von Umberto Eco, sind die, wo man sich Nebenfiguren ausdenkt und deren Geschichten erzählt. Filme sollten nicht die Geschichte des Staatschefs erzählen, über den man Protokolle hat, die langweilig oder zensiert sind, sondern von jemanden, der »zufällig« in die Geschichte stolpert, sei es nun ein Hausdiener oder wer auch immer. Gerade bei politischen Filmen muss diese Kulisse da sein, über die kann viel transportiert werden.

MB: Nur wenig später verhandelte »Shooting Dogs« (2005) erneut das Genozid in Ruanda. Auch hier lautet meine Kritik: Der Film verspricht, ein riesiges politisches Versagen zu verhandeln, doch eigentlich geht es primär um die moralische Frage: Wie verhalte ich mich als Weißer in dieser eskalierenden Situation? Die beiden Protagonisten sind ein weißer, junger »Gutmensch«, der in einer Schule unterrichten will, und ein älterer, weißer Pater, der schon immer dort zu leben scheint. Letzterer spielt den »weißen Helden« in einer Schule, in der Tutsi – und wenige Hutu – Zuflucht gesucht haben. Am Ende überleben die Geflüchteten nicht. Der Film verhandelt die Frage, wie die weiße Gesellschaft, verkörpert in den beiden Protagonisten, mit »fremder« Gewalt umgeht und wie die UN scheitert. Auch hier dient das Genozid in Ruanda primär als Hintergrundszenerie. Es ist nicht in Ordnung, einen Film über diese kaum als historisch geltenden Geschehen zu produzieren, in dem fast keine Schwarzen in Hauptrollen auftauchen.

RM: Was mich an allen genannten Filmen stört, ist der weiße Blick auf Afrika. Immer wieder wird Afrika nur als Kontinent zitiert, nur ganz selten werden die Länder, in denen die jeweiligen Filme spielen, einzeln benannt. In »Der ewige Gärtner« (2005) beispielsweise erzählt die männliche Hauptfigur Justin über seine verstorbene Lebensgefährtin Tessa, sie wolle »hier in Afrika« begraben werden, das konkrete Land – Kenia – wird nicht genannt. In den meisten Projektionen über Afrika wird das so verhandelt, auch in Filmen jenseits des Mainstreams wie »Schlafkrankheit« (2011) von Ulrich Köhler. Der Film erzählt von Willkür und Ohnmacht. Köhler beruft sich auf Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, das er in die Gegenwart übersetzen will, meiner Meinung nach jedoch mit den falschen filmischen Mitteln. Denn so ambitioniert der Film in seiner Kritik am internationalen Hilfsbusiness ist, so unmotiviert ist der Plot und am Ende werden die Klischees vom »dunklen Kontinent« einfach nur reproduziert.

CS: Genau dieses Stereotyp von Afrika ist doch das Thema von »Schlafkrankheit«, der Film ist gewissermaßen mit allen postkolonialen Wassern gewaschen. Das Außergewöhnliche an ihm ist, dass er kein Identifikationsangebot macht. Angefangen beim weißen Entwicklungshelfer, der sich in neokolonialer Manier aufführt, bis hin zum französischen Arzt mit schwarzer Hautfarbe, der als Experte nach Kamerun geschickt wird, dort aber hilflos und überfordert ist. Keiner von ihnen ist sonderlich sympathisch, alle haben massive Probleme mit sich und der Welt. Wie das im Film verhandelt wird, ist deshalb gelungen, weil die Brüche klar werden. Afrikabilder werden unterlaufen, etwa durch die absurde Jagdszene am Schluss oder die Inkarnation des Protagonisten als Flusspferd. Das verarscht doch das Bild vom dunklen, schwarzen Kontinent Afrika.

MB: Zum Thema Afrika als Szenerie: »Der ewige Gärtner« (2005) von Fernando Meirelles hätte auch in einem anderen Land als Kenia spielen können. Hauptthema des Films ist, wie große Hilfswerke und internationale Pharmakonzerne am Leid der Welt verdienen. Die Buchvorlage von John le Carré beschreibt ursprünglich eine Situation aus Kambodscha. Hier wird ganz klar die kapitale Macht, die an den Armutsverhältnissen im Globalen Süden verdient, angegriffen. Im Film geht es um Medikamententests in Slums und ihre tödlichen Nebeneffekte für die Testpersonen. Der Film zeigt, wie das funktioniert und wer darin verwickelt ist, auf höchster politischer Ebene, von kenianischer wie europäischer Seite. Gleichzeitig ist er an westliche SpenderInnen adressiert und kritisiert ihre Einstellung »wenn jeder etwas gibt, ist denen da unten geholfen«. Hier funktioniert es, dass Nebenfiguren eines politischen Geschehens ein Thema aus ihrer persönlichen Sicht verhandeln. Der Film verhandelt auf einer komplexen Ebene, wie strukturelle Gewalt funktioniert und postkoloniale Verhältnisse diese ermöglichen, obwohl er eine Liebesgeschichte erzählt und dazu einlädt, sich mit einzelnen Personen zu identifizieren.

RM: Immer wenn es um »Afrika« geht, wird es laut, hektisch und bunt – alle Klischees werden bedient. Ganz anders arbeitet hier »TGV« von Moussa Touré aus dem Senegal, der eine vollkommen andere Darstellung von Lebenswelten findet. Touré sagte einmal über sein filmisches Arbeiten: »Ich bin Afrikaner mit einem afrikanischem Blick, ich mache afrikanisches Kino. Aber nicht jenes afrikanische Kino, das die Europäer meinen, das der Folklore, der Exotik, der Langsamkeit; nicht dieses lachende, naive Afrika. Dem verweigere ich mich kategorisch. Ich versuche Kino zu machen, mit dem man sich identifizieren kann.« Das ist der Hauptunterschied: Moussa Touré oder Ousmane Sembène machen kein Mainstreamkino; sie vermitteln andere Botschaften. Bei keinem der bisher erwähnten Filme war es den Machern wichtig, das Afrikaklischee deutlich zu hinterfragen.

Warum verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilmen zunehmend, gerade bei politischen Filmen? Wie wird der Fetisch der Authentizität hinterfragt?

ASR: Die Genres nähern sich einander immer weiter an, vor allem durch neue Produktionsmöglichkeiten und Digitalkameras, die man immer bei sich tragen kann. Durch den Trend hin zur Handkamera, Lars von Trier sei gedankt, haben wir immer mehr Bilder, die authentisch aussehen, auch wenn sie inszeniert sind. Das führt zu einer Vermischung. Ich muss an den mexikanischen Regisseur Alejandro Iñárritu denken, der einen harten Realismus in seinen Filmen fährt. Seine Spielfilme sind vor allem Episodenfilme, allen voran sein erster Film »Amores Perros« (2000), in dem wir unter anderem Hundekämpfe sehen. Da weiß man gar nicht, ob er tatsächlich mit seiner Kamera ein reales Geschehen gefilmt oder ob er das inszeniert hat. Welche Auswirkungen das hat, ob das gut oder schlecht ist...?

CS: Dass diese Grenzen verschwimmen, finde ich gut, weil viele Dokumentarfilme mehr über das Denken der Filmemachenden als über ihren Gegenstand sagen. Der Irrglaube, dass dokumentarische Bilder die Realität zeigen, ist noch immer weit verbreitet. Spielfilme waren gerade bei politisch denkenden Menschen eher verpönt. Goutiert wurden politische fiktionale Filme nur, wenn sie der eigenen Meinung emotionales Futter boten. Das löst sich seit zehn Jahren erfreulicherweise langsam auf. Das Künstliche, Artifizielle nimmt das vermeintlich Authentische in den Blick. Außerdem sind fiktionale Filme intelligenter geworden. Die Drehbücher von vor zwanzig Jahren würden heute durchfallen. Selbst bei mittelmäßigen Filmen würden sie heute nicht mehr realisiert werden können, weil sie zu holzschnittartig sind.

ASR: Eine Verbesserung ist auch, dass man immer mehr on location drehen kann und von den Studios wegkommt. Damit sind die Drehorte auch häufiger die tatsächlichen Handlungsorte; vor allem für Filme, die internationalen Stoff behandeln, ist das eine Verbesserung. Eine Szene, die in Afrika spielt, kann auch dort gedreht werden, nichts muss mehr nachgestellt werden.

RM: Die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm sind immer fließend. JedeR FilmemacherIn bedient sich der Stilmittel des jeweils anderen Genres. Was mich in letzter Zeit sehr beeindruckt hat, ist die Tradition der Mondo-Filme: Sie mischen Elemente des Spielfilms und des Dokumentarfilms mit historischem Material. Da kommt eine wilde, oft brutale Mischung heraus. Die Filme wirken sehr direkt auf das Publikum, vor allem durch die dokumentarischen Teile. Sie lassen einen verwirrt zurück, mit dem Gefühl, man hätte einen Spielfilm gesehen, kann aber nicht genau sagen, was nun inszeniert, was historisches Material war und was nicht. Das ist zwar eine sehr rigide Art Filme zu machen, aber auf jeden Fall einen Blick wert.

MB: Mit dem Genre Dokumentarfilm wird gerne assoziiert, dass es ein realistisches, authentisches Thema eher trocken verhandelt. Klar, in Spielfilmen wird viel mehr experimentiert, aber es gibt auch unkonventionelle Dokumentarfilme, die eine Realität sehr emotional transportieren: »Miners Shot Down« (2014) zum Beispiel rekonstruiert die Geschichte des Bergarbeiterstreiks in Marikana in Südafrika, bei dem 34 Menschen getötet wurden. Ein Dokumentarfilm, der aus sehr dokumentarischem Material geschnitten wurde, unter anderem aus Rohmaterial von Polizeikameras und von Medien wie Al-Jazeera. Diese Clips wurden also nicht gedreht, um einen Dokumentarfilm zu machen. Und doch – oder gerade deswegen – kommt eine Nähe zum Geschehen und eine Energie auf wie in einem Spielfilm.

Wie beeinflussen die materiellen Produktionsbedingungen politische Filme?

ASR: Auf Filmfestivals fällt auf, dass fast jeder afrikanische Film eine französische Koproduktion ist. Die Fernsehsender Arte oder Canal Plus geben das Geld. Eine Produktion auf Kinolevel aus dem subsaharischen Afrika kommt kaum zustande, weil die Filme so teuer sind, dass sie nicht ohne Zuschuss gedreht werden können. Selbst wenn ein afrikanischer Regisseur wie Touré oder Sembène einen Film macht, kommen die Geldgeber aus dem Westen. Es führt dazu, dass zum Beispiel Identifikationsfiguren untergebracht werden, dass bestimmte Erzähl- und Dramaturgiemuster kommen, die in Europa anders sind.

MB: Oft werden Low-Budget-Produktionen gedreht, um ein Thema in der eigenen Gesellschaft bekannt zu machen – zum Beispiel »Call Me Kuchu« (2012) aus Uganda, in dem das Thema Homophobie verhandelt wird. Diese Filme laufen aber hier nur auf Festivals oder bei Sondervorstellungen, zum Beispiel von Amnesty International. Das ist gut und wichtig, aber wie viele Möglichkeiten gibt es vor Ort, überhaupt solche Filme zu sehen? Zumal wenn sie auch noch verboten sind? Wer kann solche Filme sehen – in einem Kino oder einer Atmosphäre, in der es möglich ist auch nach der Vorstellung noch darüber zu sprechen? Ist es möglich, dass der Film in die Presse kommt? Auch das hat Bedeutung, denn wer mit einem Film ein politisches Thema verhandelt, möchte auch, dass es auch in einer Medienöffentlichkeit bekannt gemacht wird. Das fällt in einigen Ländern leider weg.

ASR: Filme werden gemacht, um gesehen zu werden, aber gerade in Subsahara-Afrika gibt es Länder, in denen es gar keine Kinos mehr gibt. In Cannes haben viele afrikanische Regisseure gesagt, dass sie Filme drehen, die ihr Publikum nicht finden. Sie erzählen Geschichten vor Ort, die das Publikum vor Ort nicht erreichen. Dass vielerorts die Kinos verschwunden sind, hat viele verschiedene Gründe: In einigen Ländern fehlt vielen Menschen das Geld, sie haben andere Sorgen, als ins Kino zu gehen, oder sie sehen mehr Fernsehen. Große Multiplex-Ketten wie Virgin oder andere US-Studioketten bringen die kleinen Kinos um. Das geschieht weltweit, in der EU genau so wie in afrikanischen Ländern. Das schlimmste ist, wenn US-Studios Multiplexketten betreiben und nur ihre eigenen Produktionen abspielen. Die lassen keine Independentfilme mehr rein. In Frankreich setzt sich die Initiative Cinema pour Afrique, bestehend aus afrikanischen FilmemacherInnen und französischen AktivistInnen, dafür ein, Kinos auf kommunaler Ebene wieder zu eröffnen.

CS: Deshalb: Schafft zwei, drei, viele Kommunale Kinos!

ASR: Filmförderung soll nicht nur Produktion ermöglichen, sondern auch Filmvertrieb. Selbst ein noch so tolles KoKi kann keine Filme zeigen, die es nicht kriegt.

Martina Backes, Rosaly Magg und Christian Stock sind MitarbeiterInnen des iz3w. Alexander Sancho-Rauschel gestaltet bei Radio Dreyeckland eine Sendung über Film und im AKA-Filmclub ein nichtkommerzielles Kinoangebot. Eine Langfassung dieses Gesprächs steht auf www.iz3w.org

 

 

 

»Das weiße Band«

Wo fängt ein Spielfilm an, politisch zu sein? Eine inhaltlich deutlich erkennbar politische Produktion ist Michael Hanekes »Das weiße Band«. Der Film spielt in einem protestantischen Dorf im nördlichen Deutschland 1913/14. Retrospektiv erzählt darin ein junger Lehrer von einer Reihe mysteriöser Unfälle und Verbrechen. Zunächst sorgt ein gespannter Draht dafür, dass das Pferd des Dorfarztes zu Fall kommt und dessen Besitzer ins Hospital muss. Dann verunglückt eine Arbeiterin in einem Sägewerk und eine Scheune fängt Feuer. Nachdem sein Sohn misshandelt aufgefunden wurde, fordert der Gutsherr nach dem Gottesdienst die DorfbewohnerInnen dazu auf, wachsam zu sein und die Schuldigen zu denunzieren. Eine angespannte Stimmung macht sich breit. Doch die Verbrechen gehen weiter, auch der behinderte Sohn der Dorfhebamme wird grausam gequält. Hinter den Vorfällen scheint eine systematische Bestrafungsmethode zu stecken.

Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass die Untaten im Zusammenhang stehen mit den im Film eindringlich gezeigten Autoritätsstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen. Sie charakterisieren das alltägliche Dorfleben und reichen bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen der BewohnerInnen. Vor allem die Kinder sind stark von den demütigenden Straf- und Erziehungsmethoden der Erwachsenen beeinflusst.

Der sympathische, aber weniger als Identifikationsfigur gezeichnete Dorflehrer verdächtigt schließlich eine Gruppe von Kindern als TäterInnen. Beim Dorfpastor stößt er aber auf taube Ohren, er solle sich aus der Affäre heraushalten. Auch die Hebamme glaubt, die TäterInnen zu kennen. Doch auf dem Weg zur Gendarmerie verschwindet sie spurlos, und auch der Arzt, mit dem sie eine von einem klaren Machtgefälle bestimmte Affäre hat, sowie dessen Kinder und ihr behinderter Sohn sind nicht mehr aufzufinden. Der Dorflehrer verlässt das Dorf schließlich, ohne die Taten aufzuklären. »Das weiße Band« endet, indem die Botschaft vom Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand im Dorf die Runde macht.

Im Film wird nicht aufgelöst, wer die Untaten verübt hat. Doch wird nahegelegt, dass es die vom Lehrer verdächtigten Dorfkinder sind, die sich Ventile für die selbst erlebte Gewalt und Demütigungen suchen, indem sie sich vor allem an Schwächeren vergehen – eine konformistische Rebellion, die genau jene Strukturen und Zwänge reproduziert, gegen die auf grausame, falsche Weise aufbegehrt wird. »Das weiße Band« eignet sich hervorragend für politische Bildungsarbeit. Und auch wenn es in einem spezifischen historischen Setting im wilhelminischen Norddeutschland spielt, lassen sich die gezeigten Verhaltensweisen durchaus auf andere Kontexte übertragen, in denen autoritäre Charaktere am Werk sind.

Die meisten DorfbewohnerInnen werden im Film übrigens als genussfeindlich dargestellt. Wenn Menschen erfüllende Momente erleben, wird ihnen das erbarmungslos geneidet – mit fatalen Konsequenzen. Als etwa der androgyne Sohn des Gutsherren vergnügt und am Bach liegend auf einer selbst geschnitzten Flöte spielt, wird ihm diese von den anderen Kindern weggenommen und er verprügelt. Solche Szenen machen »Das weiße Band« zu einem eminent politischen Film, der auf mehreren Ebenen der Vorgeschichte des Nationalsozialismus nachgeht.

Till Schmidt

 

Das weiße Band. Michael Haneke, D/F/I/Ö 2009, 144 Min. DVD über X-Verleih