Nicht nur koloniales Erbe

Rassismus gegen Schwarze in Marokko

Die Proteste der Black Lives Matter-Bewegung 2020 fanden auch in Marokko Resonanz, vor allem in den Sozialen Medien. Kommt Rassismus in der marokkanischen Öffentlichkeit zur Sprache, so sprechen Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft in der Regel selbst als Opfer von europäischem Rassismus. In den letzten Jahren begann jedoch eine Auseinandersetzung mit eigenen rassistischen Strukturen, Kontinuitäten und Alltagspraktiken.

Viele Marokkaner*innen haben Rassismus am eigenen Leib erfahren, sei es als Migrant*innen in Europa, als Dienstleistende für westliche Tourist*innen in Marokko oder nicht zuletzt durch die Kolonialherrschaft Frankreichs und Spaniens bis 1956 und deren institutionelle Kontinuitäten. Doch in den letzten Jahrzehnten spielt das Land selbst eine immer wichtigere Rolle für Migrationsprozesse aus dem subsaharischen Afrika, von wo aus immer mehr Menschen versuchen, über Marokko nach Europa zu gelangen. In steter Regelmäßigkeit führen schockierende Bilder die Funktion Marokkos im europäischen Migrationsregime vor Augen: Überwiegend dunkelhäutige Menschen, die an den einzigen afrikanisch-europäischen Landesgrenzen, den Enklaven Ceuta und Melilla, versuchen, hohe Stacheldrahtzäune zu überwinden; die beim Versuch, über den Seeweg auf spanisches Territorium zu gelangen, umkommen oder aber das Glück haben, gerettet zu werden. Was dabei oft vergessen wird: Marokko ist selbst ein Einwanderungsland. Sein Territorium dient nicht nur zum ‚Transit‘ auf der Route nach Europa: Viele subsaharische Migrant*innen sind gekommen, um zu bleiben.

Der Begriff des ‚Transits‘ vertieft die implizite Grundannahme, die Neuankömmlinge blieben nicht lange. In der Konsequenz dient er dazu, sie vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen und ihnen ihre Rechte zu verweigern, erklärt der Soziologe Mehdi Alioua1. Im Gespräch mit der iz3w betont er den engen Zusammenhang zwischen der Frage des Rassismus gegen Schwarze und dem Wandel Marokkos zu einem Einwanderungsland, der eine eigene Migrationspolitik und eine Veränderung des gesellschaftlichen Selbstbildes notwendig macht. Diese Notwendigkeit der Thematisierung des Rassismus gegen Schwarze wurde unter anderem in Bezug auf die Black Lives Matter-Proteste sichtbar: Einige Influencer*innen malten sich etwa ihre Gesichter mit schwarzer Farbe an, um ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen. Über den individuellen Fauxpas des Blackfacings hinaus verweist dieses Phänomen auf ein geringes gesellschaftliches Problembewusstsein, kommentiert die Kommunikationswissenschaftlerin Célia Sadai in ihrem Artikel »Anti-Schwarzer Rassismus im Maghreb: Enthüllung(en) eines Tabus«.

Die eigene afrikanische Identität

Als Gründungsmitglied und ehemaliger Präsident der Assoziation GADEM (Antirassistische Gruppe zur Begleitung und Verteidigung von Ausländer*innen und Migrant*innen) verfolgt Alioua intensiv die Entwicklung der marokkanischen Migrationspolitik seit Anfang der 2000er-Jahre. Er stellt zwei Schlüsselmomente heraus: Die marokkanische Monarchie erließ 2013 ein Dekret, das rund 25.000 Migrant*innen einen regulären Aufenthaltsstatus ermöglichte. Trotz gewisser rassistischer Ressentiments und Widerstände, etwa in der Verwaltung oder der Öffentlichkeit, sieht er in diesem Prozess einen großen Erfolg, der teilweise auf die Arbeit der antirassistischen Bewegung zurückgeht. Ein zweiter Schlüsselmoment ist seiner Meinung nach der Wiedereintritt Marokkos in die Afrikanische Union im Jahr 2017. Marokko hatte die Gemeinschaft 33 Jahre lang boykottiert, nachdem die Polisario-Bewegung Mitglied geworden war, mit der Marokko sich im Konflikt um das Territorium der Westsahara befindet.

Der Wiedereintritt habe dazu geführt, dass sich die Gesellschaft stärker mit der eigenen afrikanischen Identität auseinandersetzte und beginne, das Verhältnis zu subsaharischen Gesellschaften neu zu definieren: »Ungefähr fünf der rund 37 Millionen Marokkaner*innen leben im Ausland. Entsprechend stark hat das Thema Migration viele Familiengeschichten geprägt. Insofern können sich viele in die Menschen aus der Subsahara einfühlen, die über Marokko den Weg nach Europa suchen oder hierbleiben. Die Routen, auf denen Migrant*innen heute ihren Weg nach Europa suchen, wurden in den 1990er-Jahren von Marokkaner*innen geöffnet, als insbesondere Spanien und Italien noch keine so restriktive Einwanderungspolitik hatten. Manche beschuldigen heute die subsaharischen Migrant*innen, die Migration für Marokkaner*innen zu erschweren.«

Religion als Marker

Der Wandel einer ehemaligen Kolonie zur Migrationsgesellschaft wird laut Alioua besonders am Beispiel der Kirchen sichtbar: Ursprünglich unter der Kolonialherrschaft für französische und spanische Gläubige erbaut und lange Jahre nur wenig besucht, füllen sie sich nun insbesondere am Sonntag mit Christ*innen aus der Subsahara. In den Medien wird mit Verweis auf diese Präsenz oftmals behauptet, die subsaharischen Christ*innen passten nicht zur marokkanischen Kultur.

Abgesehen von der kolonialen Vergangenheit äußert sich Rassismus gegen Schwarze in der marokkanischen Öffentlichkeit im Wesentlichen durch ähnliche Ressentiments wie in Europa: Man könne nicht »das ganze Elend Afrikas aufnehmen«; von einer »schwarzen Gefahr« ist die Rede, oder Schwarze werden in der Corona-Pandemie pauschal als Virusträger*innen verdächtigt und als Gefahr für die öffentliche Gesundheit dargestellt. Trotz solcher Tendenzen gibt es laut Alioua kaum konzertierte rassistische Kampagnen. Es gibt lediglich vereinzelte Gruppen, die eine ‚Marokkanität‘ konstruieren, aus denen Schwarze rassistisch ausgeschlossen sind. Diese eher marginalen Gruppen sind in den Sozialen Medien überdurchschnittlich aktiv, intervenieren koordiniert in Foren und hetzen gegen Schwarze und Migrant*innen.

Seit einiger Zeit suchen jedoch immer mehr von Alltagsrassismus und rassistischer Diskriminierung betroffene Migrant*innen und auch Schwarze marokkanische Staatsangehörige die Öffentlichkeit: Im Jahr 2014 etwa startete GADEM mit anderen Organisationen die landesweite Kampagne »Ich heiße nicht ‘azzi« womit sich die Aktivist*innen gegen eine gängige Bezeichnung für Schwarze wehren, die in ihrer Bedeutung und diskriminierenden Wirkung in etwa dem N-Wort gleichkommt. ’Abid, ein anderer Begriff, mit dem Schwarze im Alltagssprachgebrauch oft bezeichnet werden, steht im Arabischen für ‚Knecht, Sklave‘.

In vielem gleichen die Stereotype, mit denen Schwarze sich in Marokko belegt sehen, denen des europäischen Rassismus: Helle Haut und glatte Haare werden mit Reinheit und kultureller Überlegenheit in Verbindung gebracht, dunkle Hautfarbe und krause Haare hingegen mit Zivilisationsferne. Aufgrund dieser Parallelen zum europäischen Rassendenken scheint es, insbesondere für ein durch die Postcolonial Studies informiertes Publikum zunächst naheliegend, im anti-Schwarzen Rassismus in Marokko ein Relikt westlicher Kolonialherrschaft zu sehen. Zum Beleg dieser Genealogie wird mitunter auf eine vermeintlich arabisch-muslimische Tradition der Gleichheit verwiesen, oft unter Berufung auf bestimmte Hadithen, überlieferte Aussagen des Propheten Muhammads, die eine Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe ächten. Doch dieses Narrativ wird seit einigen Jahren von verschiedenen Autor*innen kritisiert.

Sklavenhandel in der islamischen Welt

In seinem Buch »Der verschleierte Völkermord« (Le genocide voilé) zeichnet etwa Tidiane N’Diaye die historische Kontinuität des trans-saharischen Sklavenhandels nach, an dem arabische Händler seit Jahrhunderten beteiligt waren. Er verweist auf die lange Tradition der Diskriminierung Schwarzer in den Gesellschaften des Maghreb (iz3w 363). Sklaverei war im gesamten Mittelmeerraum eine weit verbreitete Form der Ausbeutung, wobei insbesondere Kriegsgefangene versklavt wurden, auch Weiße. Allerdings, so etwa Chouki El Hamel in seinem 2013 erschienen Buch »Black Morocco: A History Of Slavery, Race, And Islam«, gab es eine spezifisch rassistische Komponente gegen Schwarze. Andere verweisen auf historische Quellen, die auch muslimischen Denkern aus vorkolonialer Zeit Rassismus gegen Schwarze attestieren: Bereits im 14. Jahrhundert habe etwa Ibn Khaldun, der große Vordenker der Soziologie, Schwarze als unterwürfig und zu komplexer sozialer Organisation unfähig bezeichnet und damit ihre Versklavung legitimiert.

Doch so wichtig die Diskussionen um die Genealogie rassistischer Denkweisen in diesem Kontext auch sein mögen: Ohne eine kritische Analyse der Rolle des Türstehers, die Marokko für die EU einnimmt, ist die soziale Lage von subsaharischen Migrant*innen und der Rassismus, der ihnen in Marokko mitunter entgegenschlägt, wohl kaum zu verstehen. Zu beachten ist dabei ferner, dass die öffentliche Auseinandersetzung über diese Verhältnisse nicht im Rahmen der uneingeschränkten Meinungsfreiheit stattfindet, sondern dass Marokko seit 2017 unter anderem verstärkt gegen Journalist*innen vorgeht. Es bleibt abzuwarten, wie die Debatte über Rassismus gegen Schwarze unter diesen Bedingungen weitergeht und ob sie in politische Veränderung mündet.

Anmerkungen

1  Alioua, Mehdi: Africains subsahariens au Maroc, de la clandestinité à la reconnaissance ou le renouveau du cosmopolitisme. In: Hespéris-Tamuda LV (3), 2020, S. 255 – 274

 

Christoph Schwarz forscht am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster zu politischer Sozialisation in der (Post)Migrationsgesellschaft.