Derzeit wird in Deutschland intensiv über "Heimat" und "Deutsche Identität" diskutiert. Diese Diskussionen sind von der politischen Rechten geprägt, werden aber zum Teil auch von liberalen und linken Kräften aufgenommen, um für einen "aufgeklärten" und "weltoffenen" Patriotismus zu werben. Joachim Hösler kritisiert diesen Ansatz am Beispiel einer aktuellen Publikation der Schriftstellerin Thea Dorn.
Zur Erinnerung an Eva Chr. Gottschaldt (1.4.1953-13.7.2018), eine beispielhafte Kämpferin für eine bessere Welt
Vor sieben Jahren hat Thea Dorn gemeinsam mit ihrem Kollegen Richard Wagner den Sammelband Die deutsche Seele herausgebracht. Diese Veröffentlichung ist mit höchstem Lob bedacht worden. Nun hat Dorn einen gelehrten, leidenschaftlichen und persönlichen Leitfaden für aufgeklärte Patrioten unter dem Titel deutsch, nicht dumpf vorgelegt. Wozu das Ganze? Wem nützt es?
Thea Dorn hat ihren 334 Seiten starken Leitfaden1 zupackend geschrieben. Sie spricht die LeserInnen, aber auch Personen des öffentlichen Lebens, mit denen sie sich auseinandersetzt, direkt an. Sie beginnt mit den bekannten Statements von Aydan Özoguz und Alexander Gauland während des Wahlkampfs 2017: Die damalige Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration befand, es gebe keine "spezifisch deutsche Kultur, jenseits der Sprache"; der AfD-Spitzenkandidat zur Bundestagswahl ätzte, die "Deutschtürkin" möge ins Eichsfeld kommen, um zu erleben, was "spezifisch deutsche Kultur" sei und dann werde man sie "Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können." (12) Mittels dieser Aussagen verdeutlicht Dorn ihre Linie: Sie kritisiert die aufgekommene Erregungskultur und extrem einseitigen Anwürfe, die ein "destruktiv eskalierendes Gezänk" bildeten. Demgegenüber will sie eine mittlere, differenzierte Haltung einnehmen und herausfinden, "worüber wir eigentlich streiten, wenn wir uns über der Frage entzweien, ob es eine ›spezifisch deutsche Kultur‹ gibt." (13) Ihre Argumentation führt über sieben Stufen.
Sieben Stufen
Erstens begründet sie unter Berufung auf Ludwig Wittgenstein den Begriff einer durchlässigen, veränderbaren und lebendigen, dabei aber auch eindeutig identifizierbaren deutschen Kultur. Warum sie nicht den Begriff "Kultur in Deutschland" verwendet, sondern partout von "deutscher Kultur" sprechen muss, bleibt ein Rätsel.
Zweitens arbeitet sie in kluger Auseinandersetzung mit unergiebigen Leitkulturdebatten der vergangenen zwanzig Jahre und unter Berufung auf Thomas Mann, Heribert Prantl, Norbert Elias und Bassam Tibi einen "entdeutschten" Leitkultur-Begriff (51) heraus, der sich dem Grundgesetz, einer reflektierten Leitzivilität, einer Leitkultur in der Kultur- und Bildungspolitik ("Bildung und Kunst als […] Rosengarten") und dem politischen Liberalismus verpflichtet sieht. (59ff.) Bemerkenswert sind dabei ihre Einblicke in "Abgründe" deutscher Geistesgeschichte (z.B. bei Luther, Kant, Goethe, Th. Mann) und ihre These, es gebe kein helles und dunkles Deutschland, sondern nur das eine Deutschland, das stets gefährdet sei, ins Dumpfe umzuschlagen. Auch deshalb dürften die "Verbrechen unserer Vorfahren" weder kleingeredet noch vergessen werden. "Die Asche israelischer Flaggen, die bei ›antizionistischen‹ Demonstrationen verbrannt werden, vermischt sich hierzulande unweigerlich mit der Asche der von Deutschen im Namen Deutschlands ermordeten Juden." (57, kursiv ebd.)
"Identität" und "Heimat"
Drittens setzt sich Thea Dorn mit dem Terminus "Identität" auseinander. Sie problematisiert dessen Funktion als Waffe (nach D. Diederichsen), kritisiert die Essentialisierung politischer Diskurse, attackiert die Identitäre Bewegung, thematisiert Patchwork-Identitäten und reflektiert kritisch die Übertragung des Identitätsbegriffs aus der Individualpsychologie in gesellschaftliche Diskurse.2 Trotz alledem will sie von diesem Begriff nicht lassen und bezeichnet schließlich "kulturelle Identität" als Synonym für "Heimat". (113)
Indem Dorn sich mit diesem Begriff auseinandersetzt, geht sie zur vierten Stufe ihrer Argumentation über. Mit Edmund Husserl und Bernhard Waldenfels vertritt sie die These, es handle sich um eine anthropologische Konstante, dass alle Menschen sich im Kräftefeld von "Heimwelt" und "Fremdwelt" bewegten; die Heimwelt sei lebensnotwendig, unverzichtbar, aber nicht hinreichend; das Fremde sei Lebenselixier, wenn es dosiert, reflektiert und freiwillig aufgenommen werde. (121) Unter Hinweis auf eine ganze Reihe von Autoren, u.a. Theodor Adorno, Jean Amery und Ernst Bloch, verdeutlicht Dorn die Bedeutung von Heimat als das Verlorene, als Sehnsuchtsort und Utopie. Dabei differenziert sie nun zwischen kultureller Identität und Heimat: jene beruhe eher auf geistigen Erlebnissen, diese sei verbunden mit sinnlichen Erfahrungen. (137)
Fünftens fragt Dorn, ob Europa ein besseres Wir bieten könne. Ihrer Ansicht nach liegt die "ungeheure produktive Kreativität" Europas in der Konfliktfähigkeit der Europäer begründet. (152ff.) Über die von Europa ausgehenden, von Profitgier angetriebenen Entdeckungen, Eroberungen und Ausplünderungen neuer Welten spricht Dorn nicht. Gleichwohl problematisiert sie die Ökonomisierung des europäischen Einigungsprozesses und mahnt mit Ralf Dahrendorf, dies sei zu sehr Kopf- und zu wenig "Herzenssache". (168) Den Kern des Problems, das systembedingte Übergewicht ökonomischer Partialinteressen großer Unternehmen, Banken und Versicherungen auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung thematisiert Dorn nicht. Auch die Prekarisierung großer Bevölkerungsgruppen in südlichen und südöstlichen EU-Staaten infolge der Austeritätspolitik ist ihr nicht der Rede wert.3 Vehement spricht sie sich aufgrund regionaler Konflikte und separatistischer Tendenzen gegen ein "Europa der Regionen" aus. (170 ff.) In diesem Zusammenhang verdeutlicht Dorn nochmals, für wie schädlich sie "sozialen Radikalismus" hält und plädiert für Mäßigung.(177f.) Ihr Plädoyer für Europa bleibt idealistisch: "Wir Europäer müssten begreifen, dass wir tatsächlich ein ›Wir‹ sind. Wir müssten mit Kopf und Herz erfassen, was wir unserem Kontinent an gemeinsamer Zivilität, Zivilisation, Freiheit, Kultur und Geist verdanken." (185) Sie fragt nicht nach den materiellen und politischen Verhältnissen, die notwendig wären, damit die rund 512 Millionen Menschen in den EU-Staaten ein Wir-Gefühl erfahren könnten (zu denken wäre hier z.B. an bezahlbaren Wohnraum, an generativ vollwertige Arbeitsplätze, an wirkmächtige politische Partizipationsmöglichkeiten).
Sechstens geht es um die Frage, ob ein Weltbürgertum "unser bestes Wir" sein könnte. (187ff.) Orientierung findet Dorn in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Auf dieser Grundlage müssten Verbündete im Kampf um Menschenrechte gesucht und "uneingeschränkte Solidarität" mit Menschen wie z.B. dem Publizisten Hamed Abdel-Samad aus Ägypten und Ayaan Hirsi Ali aus Somalia praktiziert werden. In Kants Unterscheidung "vollkommener" und "unvollkommener Pflichten" sieht Dorn die beste Grundlage, um mit Dilemma-Konflikten zurechtzukommen. So sei im Herbst 2015 die unvollkommene Pflicht, Notleidenden zu helfen, überdehnt und die "in unserem Rechtsstaat vollkommene Pflicht", alle Menschen vor Diskriminierung zu schützen, aufgeweicht worden. (213) Wir sollten, wie es Kant, Goethe, Schiller u.a. getan haben, vom Weltbürgertum "munter frisch weiterträumen". (216f.) Zwar merkt Dorn nebenbei an, die Ökonomisierung müsse wieder korrigiert, politische Entscheidungen müssten von gewählten Politikern und nicht von Firmenchefs getroffen werden. (200) Doch dabei leistet sie sich gnadenlose Verengungen: Sie befürwortet Solidarität mit einzelnen Freiheitskämpfern, wenn sie unsere Werte teilen; ausgeschlossen bleiben davon die Massen von Notleidenden, die auch infolge der Waffenexporte, des erzwungenen Freihandels und der Unterstützung kriegführender Staaten durch die EU vor Krieg und Elend fliehen;4 ihnen zu helfen sei nie vollständig möglich, sei eine unvollkommene, nachrangige Pflicht; zudem stellt sie diese Menschen unter den Generalverdacht, verantwortlich für die Diskriminierung Deutscher zu sein. (212f.)
Versagen der Bourgeoisie
Damit erklimmt Thea Dorn siebtens die nationale Ebene, die ihrer Ansicht nach den wichtigsten Identifikationsrahmen bietet. Hier findet sich zunächst ein bemerkenswerter historischer Abriss. (220ff.) Dorn analysiert die Bourgeoisie im deutschsprachigen Raum als sozialen Träger der nationalen Idee und weist - politisch hochaktuell! - deren Prägung durch Migrationserfahrungen und kosmopolitisches Denken nach. Auf eine schiefe Ebene sei die deutsche Bourgeoisie Anfang des 19. Jahrhunderts geraten: Mit der Niederlage Preußens 1806 begannen die "deutschen Befreiungskriege", in denen das deutsch-nationale Denken eng, aggressiv und hasserfüllt wurde, denn es "leckten auch die deutschen Dichter und Denker Blut". (228) Der Sieg 1813 im Völkergemetzel bei Leipzig über die napoleonischen Truppen führte zur Rückkehr des kleinstaatlichen Feudalismus und zu politischer Restauration. Vor diesem Hintergrund waren "die freiheitlich-demokratischen Kräfte" 1848/49 zu schwach, um sich durchzusetzen. Für das Scheitern dieser Kräfte macht Dorn allerdings auch die "revolutionäre Linke" um Georg Büchner, Ludwig Börne, Heinrich Heine, Wulf Wülfing u.a. verantwortlich; sie habe das demokratische Projekt "entnationalisiert" und sich internationalistisch ausgerichtet. (233ff.)
In der Folge hat nach Dorn die deutsche Bourgeoisie weitere vier Mal versagt: 1870/71 - der Nationalstaat wurde von oben, mit "Blut und Eisen", nicht vom Bürgertum, sondern von den Fürsten gegründet; 1914 - den Ton bestimmten "die Thyssens, Krupps und Mannesmanns" und die Bourgeoisie sei ihnen in den Krieg gefolgt; 1933 - das Bürgertum lief Hitler hinterher, weil es glaubte, er schütze "Ordnung, Disziplin und Kultur"; nach 1945 - das letztgenannte Versagen sei vertuscht worden, wie Dorn am Beispiel der Selbstinszenierung Albert Speers als "guter Nazi" mit Unterstützung durch Joachim C. Fest und Wolf Jobst Siedler zeigt.5 Deshalb widerspricht sie der in rechten Kreisen populären Behauptung, die 68er hätten dem Bildungsbürgertum den Garaus gemacht; nein, das Bürgertum habe sich selbst erledigt: "in der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹, indem es dem falschen Deutschland die Treue hielt; in der Bundesrepublik, indem es sein Versagen nicht unumwunden zugab und stattdessen die falschen - wie einen Albert Speer - hofierte." (248) So weit, so hellsichtig.6
Aktiva und Passiva
Dorns Wertungen sind geprägt von der Totalitarismusdoktrin, von der Überzeugung also, die demokratische Mitte werde ein ums andere Mal von totalitären Kräften von der extremen Rechten und Linken in die Zange genommen. Die Gründung des westdeutschen Separatstaates 1949 bezeichnet sie als glücklich, weil der Sozialismus exkludiert wurde; "die Amerikaner" werden idyllisiert, das "Sowjetimperium" verteufelt. Das Aufkommen der Neuen Rechten seit Beginn der 1980er Jahre ist für Dorn kein Thema.7 Sie ist dem damaligen Bundeskanzler Kohl "uneingeschränkt dankbar" für den eingeschlagenen Weg des Beitritts der DDR zur BRD nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes; der "politische Schlamassel" wäre, so Dorn, heute noch größer, hätte man einen "Dritten Weg" gesucht. (264f.)
Auf die fremdenfeindlichen Verbrechen zu Beginn der 1990er Jahre geht Dorn nicht ein. Das schändliche Verhalten des Bundeskanzlers, der die Tatorte und die überlebenden Angehörigen mied, sowie das Einknicken der Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU, FDP und SPD, die das Recht auf politisches Asyl nicht etwa gegen Nationalisten und Rassisten verteidigten, sondern im Kontext der Anschläge im Mai 1993 demontierten, erwähnt sie ebenfalls nicht.8
Beizupflichten ist Thea Dorn, wenn sie das geringe Wissen über Geschichte und Kultur in Deutschland beklagt. Ganz zu Recht mahnt sie eine Aufwertung des Bildungs- und Kulturwesens an. "G10 statt G8!" möchte man ihr zurufen, denn auch hier bleibt ihr Plädoyer verkürzt. Tatsächlich müsste Lernzeit in Schule, beruflicher Aus- und Weiterbildung sowie in der Universität wieder kräftig verlängert und im Hinblick auf geschichtlich-gesellschaftliches Orientierungswissen bereichert werden. Dazu braucht es aber kein Gerede von Leitkultur und deutscher Seele, sondern politische Auseinandersetzung mit denen, die die Unterfinanzierung der Bildung betreiben und von der Kommerzialisierung des Bildungs- und Kulturwesens profitieren.9
In diesem Sinne sollte Thea Dorn auch das Bild Heribert Prantls, an das sie erinnert, ernster nehmen: Prantl hat Deutschland als trockenen Alkoholiker bezeichnet; dieser kann nicht, wie Dorn sich das vorstellt, den Genuss des Suchtmittels dosieren, sondern er muss ganz darauf verzichten. (38f.) Patriotismus und Nationalismus sind Blindmacher, die dazu dienen, soziale Konflikte zu verschleiern und in ein Innen-Außen-Gegensatzpaar umzumodeln; es sind Mobilisierungsideologien, die in einer Bevölkerung Opferbereitschaft im Interesse der Herrschenden erhöhen sollen, was in Deutschland vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung eine besondere Brisanz hat.10 Längst ist nachgewiesen, dass auch der von Dorn als "Partyotismus" verharmloste Fußballpatriotismus, der ihr bei weitem nicht genügt, demokratietheoretisch keine positiven Effekte hat, wohl aber Fremdenfeindlichkeit verstärkt.11 Bezeichnend ist z.B. die Karriere von Xavier Naidoo: 2006 sang er für die Fußballnationalmannschaft Deutschlands, zehn Jahre später für die neofaschistische Gruppe der "Reichsbürger".12
Dorn warnt vor der Spaltung der Gesellschaft. Doch das wirkliche Ausmaß der Entsolidarisierung und Verrohung der Gesellschaft13 scheint ihr ebenso wenig klar zu sein wie die Ursachen dieser Entwicklung. Als fehlte es an Heimatliebe und Nationalstolz! Reinhard Kühnl hat bereits 1986 überzeugend dargetan, dass es nach der Krise 1973 zu einer ideologischen Wende kam: Die neue, stärker auf Durchsetzungschancen international agierenden Kapitals abzielende Wirtschaftspolitik wurde begleitet von der Intensivierung des nationalen Diskurses; die Ideologie der "Freiheit" trat gegenüber der Ideologie der "Nation" in den Hintergrund.14 Inzwischen wissen wir genauer, was vor sich ging. Der nationale Diskurs war ideologische Begleitmusik, Ablenkungsmanöver und Beruhigungspille, während "Gegenreformer" sich daran machten, mit marktradikaler, neoliberaler Wirtschaftspolitik die Krise des Fordismus zu überwinden. Den inhaltlichen Kern der "Gegenrevolution" bilden die Liberalisierung der Handelsströme, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Schwächung des Staates und die Privatisierung staatlicher Unternehmen.15 Von oben wurde Solidarität aufgekündigt, nicht von unten, nicht von Extremen links oder rechts. Die Folgen: Vermarktlichung gesellschaftlicher Verhältnisse, Privatisierung sozialer Risiken, Zunahme sozialer Ungleichheit, Ethnisierung sozialer Konflikte. Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, in einer "Postdemokratie", in einer "Gesellschaft der Angst", in einer "Abstiegsgesellschaft" zu leben.16 Wir sind gefangen in einer "imperialen Lebensweise", die uns Produktions- und Reproduktionsprozesse aufzwingt, in deren Folge die Aneignung von Arbeitskraft und Natur immer ungleicher, ungerechter und kritischer wird.17 In der Reaktion auf diese multiple Krise kommt wie vor 1933 auch heute die Hauptgefahr für Demokratie und Menschenrechte nicht, wie Dorn glauben machen will, von den Rändern der Gesellschaft, sondern aus deren Mitte. Es sind gut bestallte, weithin anerkannte Personen des öffentlichen Lebens, wie z.B. Hans-Olaf Henkel, Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk und Friedrich Merz, welche die Kommerzialisierung und Ethnisierung der gesellschaftlichen Beziehungen betreiben.18 Dorn scheint das Geschäft der Konstruktion von "Volk" und "Gegenvolk" nicht zu durchschauen, letztlich betreibt sie es in einer gemäßigten Variante selbst.
Wozu das Ganze?
All dessen ungeachtet plädiert Thea Dorn für einen dreifachen Patriotismus mit positiven Bezügen auf Verfassung, Kultur und Opferbereitschaft. Verfassungspatriotismus nach Dolf Sternberger und Jürgen Habermas sei notwendig, aber unzulänglich. Die Gefühle würden hiermit nicht angesprochen, davon könne niemandem "warm ums Herz" werden. (288) Dorn hält daher die Aufwertung des Bildungs- und Kulturwesens für notwendig, um "die Geschichte des abendländischen Geistes und der europäischen Kunst leidenschaftlich zu vermitteln". (312) Die "Kulturnation" solle wieder belebt werden, um emotionale Bindungen zu Deutschland zu generieren. Hierzu bemüht Dorn auch Kurt Tucholsky mit dessen sarkastischem Bilderbuch "Deutschland, Deutschland über alles" aus dem Jahr 1929, großartig illustriert von John Heartfield, mit dem er sich über Nationalisten lustig machte und die Faschisierung der Gesellschaft zu demaskieren versuchte. Tucholsky schließt mit einer Liebeserklärung an das Land und die Landschaft: "Wir pfeifen auf die Fahnen - aber wir lieben dieses Land." (296). Als drittes Element hält Dorn eine patriotisch motivierte Opferbereitschaft für unverzichtbar. Zwar sei es eine Befreiung, "wenn kein Gott und kein Vaterland" den Menschen mehr zu Selbstaufopferung zwingen könne; aber wie der Mainstreampolitologe Herfried Münkler bezeichnet Dorn es als Verlust, "keine Ideale, keine Werte" mehr zu kennen, für die Menschen "im Extremfall sogar zu sterben bereit wären". (328) Der vermeintlich moderne Patriotismus, für den Dorn plädiert, erweist sich wie der Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert als Letztwertideologie: Die Nation bildet den "obersten Legitimationsquell für Forderungen jedweder Art."19
Thea Dorns Plädoyer ist im Kern ein verzweifelt anmutender Warnschrei: Als Vertreterin des Bildungsbürgertums warnt sie vor der Spaltung der Gesellschaft. Sie mahnt ihre Klasse, nicht nochmals zu versagen und die Demokratie zu verspielen, und sie schlägt - wenig originell - vor, es wieder einmal mit mehr "Lob der Nation" zu versuchen, um die sozialen Gegensätze zu kitten: "Das einzige Mittel, unsere Gesellschaft vor einer gravierenderen und irgendwann nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren, scheint mir das Bekenntnis zur Nation zu sein." (274) Zu dieser Einschätzung kann nur kommen, wer nicht über die Widersprüche bürgerlicher Herrschaft und kapitalistischer Produktionsweise sprechen will und hinter jedem Vorschlag, die kritisch gewordene soziale Ungleichheit20 zu lindern, Sozialismus befürchtet. Der Leitfaden Dorns hat die schlichte Funktion, Kapitalismus zu rechtfertigen und Sozialismus zu diskreditieren.
Seit geraumer Zeit ist der Marktradikalismus, wie ihn maßgeblich die Mont Pèlerin Society befürwortet, hegemonial.21 Systematisch werden politisches Denken und Handeln extrem verkürzt. Um unter diesen Bedingungen bessere Orientierung darüber zu bekommen, wo Probleme und Lösungsansätze liegen, sollten m. E. folgende Aspekte intensiver studiert und erforscht werden:
- die Faschisierung der Weimarer Republik seit Beginn der 1920er Jahre,22
- die Probleme des antifaschistischen Widerstands,23
- das Aufkommen des Nationalismus seit Beginn der 1980er Jahre im Kontext der sog. Neoliberalisierung,24
- das gegenwärtige "Zusammenspiel völkisch-nationaler, patriotischer Deutscher mit einem autoritären, die demokratischen ›Spielregeln‹ peu à peu außer Kraft setzenden Staat und der Erzeugung von Bildern eines ›Gegenvolks‹".25
Das Land, in dem man sich heimisch fühlt, und die dort lebenden Menschen zu mögen, ist so selbstverständlich wie schön.26 Dafür braucht es keine deutsche Seele und keine Identitätsdiskurse. Wir benötigen vielmehr vernunftgeleitetes, herrschaftskritisches und konsequent demokratisches Denken und Handeln.
Anmerkungen
1) Thea Dorn 2018: deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten, München. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
2) Vgl. Lutz Niethammer 2000: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek; Joachim Hösler 2007/08: "Identität und Ethnizität. Erkenntniskategorien oder Blindmacher?", in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 9/10: 185-213.
3) Siehe z. B. Winfried Wolf 2016: "EU - Zentrum und Peripherie", in: Lunapark21, Heft 33: 29-31.
4) Siehe Winfried Wolf 2018: "Rechtsentwicklung und Migration in Europa", in: Lunapark21, Heft 42: 6f.
5) Vgl. Isabell Trommer 2016: Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik, Frankfurt/New York; Magnus Brechtken 2017: Albert Speer - eine deutsche Karriere, München.
6) Implizit folgt Dorn hier der Sonderwegstheorie; siehe Reinhard Kühnl 1996: Deutschland seit der Französischen Revolution. Untersuchungen zum deutschen Sonderweg, Heilbronn.
7) Vgl. Martina Koelschtzky 1986: Die Stimme ihrer Herren. Die Ideologie der Neuen Rechten, Köln; Reinhard Kühnl 1986: Nation - Nationalismus - Nationale Frage. Was ist das und was soll das?, Köln.
8) Siehe Rolf Gössner 2018: "›Erst stirbt das Recht…‹. Auszüge aus der Rede von Rolf Gössner am 24. Mai 2018 in Solingen", in: antifa Juli/August: 8f.[/i]
9) Vgl. Jochen Krautz 2009: Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München; Memorandum 2018: Preis der "schwarzen Null": Verteilungsdefizite und Versorgungslücken, hrsg. von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Köln: 241ff.
10) Kühnl 1986 (siehe Fn. 7): 21f.
11) Tanja Dückers 2008: Fußball-Patriotismus. Nicht nur harmlos, in: https://www.zeit.de/online/2008/27/fussball-patriotismus-dueckers (Zugriff am 26.07.2018), resümiert Untersuchungen von Wilhelm Heitmeyer, Elke Wittich und der Friedrich-Ebert-Stiftung.
12) Klaus Weber 2018: Resonanzverhältnisse. Zur Faschisierung Deutschlands. Politisches Tagebuch, Regensburg: 188.
13) Hierzu jüngst die ARD-Dokumentation "Das verrohte Land - wenn das Mitgefühl schwindet" vom 23.7.2018 (44 Min.).
14) Kühnl 1986 (siehe Fn. 7): 8ff.
15) Siehe Frank Deppe 2016: Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Band 3.1. Im Kalten Krieg - Konfrontation der Systeme: 179-191; 235-257; sehr erhellend auch die Dokumentation "Let’s make money" von Erwin Wagenhofer (2008, 107 Min.).
16) Colin Crouch 2008: Postdemokratie, Frankfurt/M.; Heinz Bude 2014: Gesellschaft der Angst, Hamburg; Oliver Nachtwey 2016: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt/M.
17) Siehe Ulrich Brand/Markus Wissen 2017: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München.
18) Vgl. Lorenz Jäger 2011: "Adieu, Kameraden, ich bin Gutmensch", in: FAZ, 5.10.: 29; Weber 2018 (siehe Fn. 12).
19) Dieter Langewiesche 2000: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München: 16.
20) Vgl. Thomas Piketty 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München; Heinz-Josef Bontrup 2014: Pikettys Krisen-Analyse. Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, Bergkamen.
21) Vgl. Bernhard Walpen 2004: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg; Deppe 2016 (siehe Fn. 15): 240-269.
22)] Vgl. Reinhard Opitz 1984: Faschismus und Neofaschismus, Frankfurt/M.: 5-191; Reinhard Opitz 1994: Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900-1945, Köln: 467ff.; Reinhard Opitz 1999: Liberalismus, Faschismus, Integration, Band I: Liberalismus, Integration, hrsg. v. Ilina Fach, Marburg: 465-495; Guido Speckmann/Gerd Wiegel 2012: Faschismus, Köln: 61-78.
23) Vgl. Thomas Doerry 1985: Marxismus und Antifaschismus. Zur theoretischen und politischen Auseinandersetzung des Marxismus, des Sozialismus und der internationalen Arbeiterbewegung mit dem Faschismus an der Macht (1920-1984), Köln; Eva Gottschaldt 1985: Antifaschismus und Widerstand. Der Kampf gegen den deutschen Faschismus 1933-1945, Heilbronn.
24) Vgl. Opitz 1984 (siehe Fn. 22): 297ff.; Kühnl 1986 (siehe Fn. 7); Koelschtzky 1986 (siehe Fn. 7).
25) Weber 2018 (siehe Fn. 12): 552.
26) Kühnl 1986 (siehe Fn. 7): 110.
Dr. Joachim Hösler ist apl. Prof. für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Philipps-Universität Marburg und Lehrer für Geschichte und Politik/Wirtschaft an der Carl-Strehl-Schule.