Zeitenwende ohne Vierte Gewalt

„Derzeit verhält sich Deutschland, einschließlich der sogenannten Qualitätsmedien, als ob wir im Krieg wären“, stellte der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck kürzlich fest. Nachzulesen in der Wiener Zeitschrift für internationale Politik International. Die „kriegerische Disposition“ sieht er vor allem bei den deutschen Grünen. „Moralischer Universalismus ist immer mit der Versuchung verknüpft, die Welt mit Gewalt in Ordnung bringen zu wollen, besonders bei einer Generation, die keine Ahnung hat, was Krieg bedeutet: ein mit der Zeit zunehmend sinnloses Abschlachten, gespeist aus Angst, Hass und Rachsucht auf allen Seiten.“ Der US-amerikanische Messianismus – die Armee sei dafür da, Freiheit und Demokratie zu verteidigen – scheine „nach Europa eingewandert zu sein“. „Viele Grüne scheinen heute an die Möglichkeit gerechter Kriege zu glauben, die wie eine klinische Operation durchgeführt werden und einem moralisch überlegenen Zweck dienen.“

Der alte Begriff vom „gerechten Krieg“ hat eine bemerkenswerte Wiederauferstehung gefeiert. Das Römische Reich ging davon aus, dass seine Kriege „gerecht“ seien (bella iusta), weil die Pax Romana, der vom Reich der erreichbaren Welt oktroyierte Friede, die natürliche Ordnung sei – das tritt uns heute als die Forderung nach einer den westlichen Regeln gemäß funktionierenden Weltordnung entgegen. Daher war jeder Krieg gegen das römische Imperium aus dessen Sicht ein „ungerechter“ Krieg (bella iniusta), wodurch sich die Herren des Reichs zu den drastischsten Maßnahmen und Mordtaten ermächtigt sahen: Am Ende wurde das einst reiche Karthago dem Erdboden gleichgemacht.

Durch das christliche Mittelalter geisterte die Idee des „gerechten Krieges“ dann als der Krieg, nicht für das Imperium, sondern im Dienste Gottes, und der Papst, der Kaiser oder der jeweilige König entschied, worin die gerechten Ziele bestanden. In diesem Sinne war das Recht der Herrscher, Kriege zu führen (ius ad bellum), an Kriterien gebunden, unter denen dem „gerechten Grund“ (causa iusta) zentrale Bedeutung zukam. Im Leninismus wurde daraus der „gerechte“ Krieg im Dienste der Arbeiterklasse bzw. der sozialistischen Revolution, und der jeweilige Generalsekretär der Kommunistischen Partei entschied, was denn gerecht sei. USA-Präsident George W. Bush (2001-2009) hatte bei der offiziellen Begründung seiner Kriege „gegen den Terrorismus“, insbesondere gegen Irak, diese Argumentationsfigur aufgenommen: „Wir haben einen gerechten Grund (just cause), der uns leitet.“ So Bush am 31. März 2003. Wenige Wochen später am 24. April: „Welche Anfechtungen auch immer kommen mögen (whatever challenge may come – original, E.C.), wir können voller Zuversicht sein, unsere Nation ist stark, unsere Bestimmung fest und unsere Sache gerecht (our cause is just – original, E.C.).“

Das Problem mit der „gerechten Sache“ ist nur, dass die Argumentationslinien sich gegenseitig ausschließen und sich gerade deshalb zugleich wechselseitig voraussetzen: Der „gerechte Krieg“ der Katholiken gegen die Protestanten hatte im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) den „gerechten Krieg“ der Protestanten gegen die Katholiken bzw. der Schweden gegen „die Papisten“ (die Anhänger des Papstes) zur Voraussetzung und umgekehrt. Wie für die Religionskriege gilt dies auch für Nationalkriege: deutsche gegen französische Nation, Türkei gegen Griechenland und so weiter. Eben weil die Ermessensgründe zum Kriege sich jeweils gegenseitig ausschließen beziehungsweise in die Willkür der Kriegsherren gegeben sind, schlug der Philosoph Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift „Zum ewigen Frieden vor, eine internationale Rechtsordnung zu schaffen, die den Frieden sichert. Die sollte an das Recht gebunden sein, nicht an politische oder weltanschauliche Wertinterpretationen der beteiligten Mächte. Dieses Herangehen wurde – gleichsam als Schlussfolgerung aus den Lehren des zweiten Weltkrieges – Grundlage der UNO-Charta. Dort heißt es in Artikel 1, dass es Ziel der Vereinten Nationen ist, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Das Gewaltverbot, die Pflicht zur Wahrung des Friedens wurde zur entscheidenden Bestimmung des modernen Völkerrechts, das ius ad bellum durch ein ius contra bellum abgelöst. Dagegen hat Russland jetzt ebenso verstoßen wie in vielen anderen Fällen die USA, Großbritannien, Frankreich und andere.

Während des Kalten Krieges konnte die Friedenssicherung durch die UNO nicht so funktionieren, wie es institutionell angelegt war, weil angesichts zweier Blöcke jede Seite einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates durch das sogenannte Veto blockieren konnte. Dennoch wurde das Prinzip der „Friedlichen Koexistenz“ realisiert, wonach das friedliche Nebeneinander von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gegenseitig anerkannt wurde; das trug zur Verfriedlichung des Ost-West-Konflikts bei.

Nach der „Zeitenwende“ dagegen „ist mit Kriegen ständig zu rechnen“, so weiter Streeck, „und wir müssen auf sie vorbereitet sein. Dabei soll es uns helfen, dass die von ‚Werten‘ […] getriebenen Kriege des Reichs der Tugend gerecht sein müssen, sind sie doch solche gegen das Böse.“ Diese Weltsicht ist nicht eine sozialdarwinistische des Überlebens der Stärksten), „sondern eine manichäische. Danach ist Geschichte ein endloser Kampf zwischen Gut und Böse und die Kräfte der Tugend müssen alles geben, um jene des Bösen zu besiegen.“ In diesem Sinne ist Annalena Baerbock nicht nur die Erbin von Hillary Clinton, auf die sie sich ausdrücklich bezieht, sondern auch von George W. Bush. Wer dagegen „die uneingeschränkte Unterstützung der ultra-nationalistischen ukrainischen Regierung und Bidens in Zweifel“ zieht, wird als „Putinversteher“ gebrandmarkt, „was für jüngere Journalisten oder politische Wissenschaftler das Ende ihrer Karriere bedeuten kann“.

Wendelin Ettmayer, ehemaliger ÖVP-Abgeordneter des österreichischen Nationalrates und Botschafter seines Landes in verschiedenen Ländern, macht in derselben Ausgabe von International darauf aufmerksam, dass Studien in Frankreich und den USA schon lange vor diesem Krieg ergaben, der Journalismus ist inzwischen eine Ideologie geworden, die festlegt, „was und wie gedacht werden darf“. Aus Information wurde Indoktrination, aus Autoren wurden „Prediger“, die „immer auf der Seite des Guten stehen und gegen das Böse kämpfen. Abweichende Meinungen sind nicht mehr erlaubt.“ Objektivität führe zu einer „falschen Ausgewogenheit“ und sei abzulehnen, „wenn eine Seite das Gute, die andere aber das Böse verkörpert“.

In Köln gibt es inzwischen eine Professur für „Medienpsychologie“, was meint: Wie erreichen Medien welche Wirkungen? Der dazugehörige Interpretationsstrang heißt „konstruktiver Journalismus“. Journalismus soll nicht nur Probleme und Konflikte, Dilemmata und negative Entwicklungen darstellen, sondern zugleich „positive Aspekte“ hervorheben und „Verbesserungsvorschläge“ (Originalton Wikipedia) machen. Also das, was sich die SED-ZK-Sekretäre Joachim Herrmann und Günter Schabowski in der DDR unter dem „Partei- und Klassenauftrag“ des sozialistischen Journalisten vorstellten – nur unter umgekehrten Klassenverhältnissen.

Seit einem Jahr wurde der Gleichklang stärker, der Druck der Medien größer, damit Deutschland mehr schwere Waffen liefert und ukrainische Soldaten ausbildet. Die Neue Rundschau (Fischer Verlag) veröffentlichte kürzlich eine empirische Studie von dem Soziologen Harald Welzer und dem Internet-Analytiker Leo Keller zum Thema: „Die veröffentlichte Meinung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg“. Die wurde in den „Leitmedien“ und von allen einschlägigen Bellizisten unisono verschrien. Das soll hier nicht weiter detailliert werden. Interessant am Ende ist zweierlei. Zunächst der Befund, dass auf Seiten des politischen Journalismus der Anspruch deutlich wird, die politische Debatte über den Ukrainekrieg „leiten zu wollen. Damit wäre dem Journalismus eine Rolle zugewiesen, die ihm demokratietheoretisch nicht zukommt: von der kritischen Berichterstattung und Kommentierung hin zum politischen Aktivismus, von der Kontrolle zur Beeinflussung.“ Dies sei „Übergriffigkeit“ und als solche „besonders fatal“.

Entscheidend jedoch das friedenspolitische Fazit: „An der seit Kriegsbeginn stattfindenden normativen Umformatierung zentraler gesellschaftlicher Ziele und zivilisatorischer Minima – von Frieden auf Rüstung, von Klimapolitik auf Verteidigungspolitik, von diplomatischen Konfliktlösungsstrategien auf militärische – hat der politische Journalismus […] einen guten Anteil. Bleibt zu hoffen, dass die große Eskalation eines entgrenzten Kriegs oder eines Atomkriegs auch dann ausbleibt, wenn so viele ihre Aufgabe darin zu sehen scheinen, sie herbeizuschreiben.“