Deutschland kriegstüchtig?

Boris Pistorius (SPD), derzeit Verteidigungsminister, forderte am 29. Oktober im ZDF: „Wir müssen kriegstüchtig werden.“ Interessant der Pluralis majestatis, sein „Wir“. Er betonte, „in der Truppe“ vollziehe sich das bereits, „in der Politik“ auch, nun aber müsse auch „die Gesellschaft“ kriegstüchtig werden. Das brauche einen „Mentalitätswechsel“. Die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit schrieb: „Deutschland müsse sich an den Gedanken eines Krieges in Europa gewöhnen.“ Wörtlich hatte Pistorius gesagt: Wir müssten uns „wieder“ an diesen Gedanken gewöhnen. Anders gesagt, diese Regierung will die Bevölkerung an diesen Gedanken gewöhnen.

Die „Zeitenwende“ der Ampel-Regierung wird so gedeutet, jetzt sei „viel mehr Tempo“ bei der Aufrüstung der Bundeswehr vonnöten, nicht bei der Sanierung von Schulen und Brücken. Die vergangenen dreißig Jahre ohne Blockkonfrontation, die eigentlich eine Friedensdividende nach dem Kalten Krieg und eine historische Chance waren, werden von Pistorius in ein militärpolitisches Versäumnis uminterpretiert: „Das alles lässt sich, was in 30 Jahren verbockt worden ist, sorry wenn ich das so sage, und runtergewirtschaftet worden ist, nicht in 19 Monaten wieder einholen.“ Dass der Westen, insbesondere die NATO auf Betreiben der USA, maßgeblich dazu beigetragen hat, diese Chance auszuschlagen, wird tunlichst verschwiegen. Pistorius‘ Verweis auf Nahost und Russlands Krieg in der Ukraine ist wichtig, aber nicht hinreichend. Der Westen hat im Osten Europas wie im Nahen Osten zu den Kriegskonstellationen aktiv beigetragen.

Deutschland soll nun also wieder „kriegstüchtig“ werden. Das klang an einer anderen historischen „Zeitenwende“ schon einmal recht ähnlich. Bernhard von Bülow, damals noch Graf und Staatssekretär des Auswärtigen und noch nicht Fürst und Reichskanzler, meinte am 11. Dezember 1899 im Deutschen Reichstag, andere Strömungen und Völker fänden, „dass der Deutsche bequemer war und dass der Deutsche für seine Nachbarn angenehmer war in jenen früheren Tagen, wo trotz unserer Bildung und trotz unserer Kultur die Fremden in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht auf uns herabsahen wie hochnäsige Kavaliere auf den bescheidenen Hauslehrer. Diese Zeiten politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher und politischer Demut sollen nicht wiederkehren.“ Daher folgte, drei Jahrzehnte nach der ersten deutschen Vereinigung: „Wir werden uns aber nur dann auf der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, dass es für uns ohne Macht, ohne ein starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt.“

Heute, drei Jahrzehnte nach der zweiten deutschen Vereinigung, klingt das – in anderen Worten – wieder so. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, Deutschland war damals eine der stärksten europäischen Mächte, auch in militärischer Hinsicht, und selbständig kriegsführungsfähig. Jeder Krieg zwischen Großmächten heute kommt am Ende in Eskalationslogiken, die in den Atomkrieg münden. Auf dieser Stufe in Bezug auf Europa stehen nur die USA und Russland. Insofern wäre der Platz eines kriegstüchtigen Deutschlands nur der eines Kriegswilligen der USA, wieviel auch aufgerüstet wird. Ein eigenständiger Beitrag zur Verhinderung eines großen Krieges in Europa entstünde nur dann, wenn Deutschland eine eigene politisch-diplomatische Rolle in einer Kriegsverhinderungspolitik einnimmt statt neuer Kriegstüchtigkeit. Dem entzieht sich die Ampel-Regierung seit der Verkündung der „Zeitenwende“.

Der eigentliche Punkt ist, ob das Volk, die Bevölkerung, „die Gesellschaft“ sich zur Kriegstüchtigkeit umerziehen lässt. Aus der Sicht von dreißig Jahren nach der ersten deutschen Vereinigung 1871 hatte Preußen-Deutschland drei Kriege gewonnen – gegen Dänemark 1864, Preußen gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/71. Kriege gehörten zu den üblichen Dimensionen internationaler Politik. Die staatliche Vereinigung erfolgte aus eigener Kraft und Macht. Die Bevölkerung hatte Jahre des industriellen Aufschwungs, des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels erlebt. Der wirtschaftliche Aufstieg und die militärische Machtentwicklung gingen Hand in Hand. Nur die Sozialdemokratie stand auf dem Standpunkt August Bebels: „Und je eher wir uns des Militarismus entledigen, desto besser für uns […]. Bis dieses Ziel erreicht ist, werden wir dem Militarismus gegenüber unserer Devise […] unverbrüchlich treu bleiben: Keinen Mann und keinen Groschen!“ Große Teile der Bevölkerung unterstützten jedoch das kaiserliche Flottenrüstungsprogramm. Die Bilder von kleinen Kindern in Matrosenuniform waren die staatspolitische Bekundung dessen.

Die zweite deutsche Vereinigung 1990 erfolgte nach der Niederlage Deutschlands in zwei Weltkriegen. Nach Befreiung vom Faschismus und bedingungsloser Kapitulation 1945 stand Deutschland in Gestalt der beiden deutschen Staaten unter Kontrolle der vier Siegermächte. Mit den Umbrüchen in der DDR 1989 ergab sich die Möglichkeit einer zweiten deutschen Vereinigung. Sie erfolgte letztlich nicht aus eigener Kraft, sondern durch Zustimmung der Besatzungsmächte, darunter der Sowjetunion, und sie konditionierten die deutsche Vereinigung mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 abschließend. Dass „von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen“ dürfe und das Tor zu eigenen Atomwaffen verschlossen bleibt, waren zwei der Kernbedingungen. Deutschland war „von Freunden umgeben“, wie es damals hieß; es gab keinen Grund, Pistorius‘ Kriegsertüchtigung bereits seit 1990 zu betreiben. Sie widersprach dem Geist der Zeit und den Bedingungen der deutschen Vereinigung.

Ein „Mentalitätswechsel“ aber ist – zumindest für die Bevölkerungsmehrheit – nicht zu erwarten. Bereits der Mentalitätswechsel „in der Truppe“ zeitigt Probleme. Die Bundeswehr hat der NATO zugesagt, eine deutsche Kampfbrigade in Litauen zu stationieren. Dazu wird nicht eine geschlossene, bestehende Brigade des Heeres, so wie sie ist, nach Litauen verlegt, sondern die Brigade soll aus Freiwilligen zusammengestellt werden, wofür nicht nur 3500 Männer und Frauen gebraucht werden, sondern die müssten auch passgenau den notwendigen Dienstposten entsprechen. Litauen soll dazu Wohnungen und die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung stellen. Um den Reiz für die Freiwilligen nebst Familien zu erhöhen, soll die Stationierung nahe der Hauptstadt Vilnius oder der zweiten Großstadt Kaunas erfolgen. Die neue Brigade soll 2025 offiziell in Dienst gestellt werden. Sollten sich aber nicht genug Freiwillige melden, werde die Bundeswehr auch Pendler akzeptieren, die in Litauen Dienst tun, aber weiter zu Hause wohnen und nach Dienstschluss nach Deutschland pendeln. Die Bundeswehrzeitschrift Europäische Sicherheit und Technik witzelte: „Litauen-Brigade: Verband wird zusammengewürfelt und neu aufgestellt“. Kampfkraft entsteht anders.

Auch die „Anträge auf Kriegsdienstverweigerung“ sprechen eine deutliche Sprache. Gemäß der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linke-Fraktion gab es 2020 insgesamt 142 Anträge, 2021 209 Anträge und 2022 schon 1123 Anträge, davon 450 von Ungedienten, 235 von Soldaten und 438 von Reservisten. Damit hatte sich angesichts des Ukraine-Krieges die Zahl der Kriegsdienstverweigerer verfünffacht. 2023 gab es bis 31. Juli 856 Anträge. Das bedeutet, wenn Boris Pistorius die Kriegstrommel rührt, laufen ihm nicht mehr Leute zu, sondern sie laufen weg.

Egon Bahr hatte vor etlichen Jahren gesagt: „Die Deutschen sind nicht mehr kriegsverwendungsfähig. Die Regierenden wissen das nur nicht.“ Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel wussten das wohl noch. Die heutige Politiker-Generation nicht mehr. Sucht sich die Regierung nun ein anderes Volk? Oder das Volk eine andere Regierung? Damit Deutschland nicht kriegstüchtig wird, sondern friedenstüchtig.