Studentische Protestbewegungen

Ein historischer Überblick

Studentische Bewegungen und Proteste bilden ein wiederkehrendes Phänomen politischer Kultur. Oft beherrschen kulturell und medial kolportierte Rezeptionsschemata, meist unterlegt durch Bilderwelten aus dem Kontext der antiautoritären "68er"-Bewegung, die Wahrnehmung dieses Phänomens. Dabei geraten mitunter aufschlussreiche und historisch tief verwurzelte Strukturmerkmale aus dem Blickfeld. Julian Schenke referiert Entstehungskontexte, Erscheinungsformen und Wirkungen der drei großen deutschen Studierendenbewegungen und streicht heraus, aus welchen Quellen studentische Protestenergien fließen.1

Wenn Jugendliche im Allgemeinen und Studierende im Besonderen protestieren, dann genießen sie oftmals die grundsätzlichen Sympathien einer interessierten Öffentlichkeit. Sobald studentische Opposition öffentlich sichtbar wird, deutet so manche*r Kommentator*in sie als sozialkritische Aufmüpfigkeit, als Ausdruck eines erwachenden gesellschaftspolitischen Reformimpulses. Dabei fällt dem historisch informierten Blick auf, dass die Wahrnehmung studentischer Protestphänomene sich häufig auf ein bestimmtes Stereotyp stützt: Die "Chiffre 68"2 überblendet dann die deutlich längere Geschichte von studentischem Protest.

Demgegenüber lohnt sich ein systematischer Blick auf die tatsächlichen historischen Abläufe der großen studentischen Bewegungsphasen:

  • der auf nationale Einheit und liberale Freiheitsrechte zielenden Burschenschafts- und Progressbewegung 1815-1848,
  • der im öffentlichen Bewusstsein kaum präsenten antidemokratischen und militant-antisemitischen Mobilisierung in Weimar 1918-1933 sowie
  • der auf Emanzipation von traditionellen Autoritätsverhältnissen und auf soziale Egalisierung abstellenden westdeutschen Studentenbewegung 1966-1968.

In welchen soziohistorischen Kontexten formierten sie sich, welche Themen und Forderungen trugen ihren Protest und welche Wirkungen konnten sie entfalten? Stellt studentisches Protestpotenzial gar so etwas wie eine historisch wiederkehrende Kontinuitätslinie dar?

Die nationalliberale Burschenschaftsbewegung (1815-1848)

Noch während des 18. Jahrhunderts waren deutsche Studenten primär in regional fragmentierten, traditionalistisch-unpolitischen Landsmannschaften und Korporationen organisiert. Deren Mitglieder genossen ein nachträglich zur "Burschenfreiheit" verklärtes Gewohnheitsrecht, welches bestimmte Verhaltens- und Ehrenregeln vorsah, insbesondere studentische Sitten wie das Duellieren, das ritualisierte Trinken und die vergleichsweise freizügige Sexualmoral - in der Praxis aber offenbar selten "eine alle Gesetze verachtende rohe Willkür" verhinderte.3

Zwischen 1790 und 1819 hielten dann zunehmend neuartige (bildungs)bürgerliche Assoziationsprinzipien und Ideale Einzug in die Reihen der in öffentliche Bedienstung strebenden Studenten: Leistungs- und Verantwortungsethos, Charakterfestigkeit und Affektkontrolle. Das einstmals idealisierte höfische Prinzip verlor jäh an normativer Kraft; stattdessen erwuchs, auch angetrieben durch die neuhumanistische Reformbewegung, das gebildete und sittlich kultivierte, hinsichtlich seiner persönlichen Anlagen voll entfaltete Individuum einer kommenden bürgerlichen Gesellschaft zum Sozialideal des aufstrebenden Bürgertums. Ein nicht geringer Teil der - damals durchweg männlichen - Studenten verstand sich, auch infolge der kollektivierenden preußischen Niederlage gegen Napoleon 1806, als Avantgarde eines Befreiungskampfes des "deutschen Volkes" und als "›Vorhut‹ ihrer eigenen Klasse"4, des deutschen Bildungsbürgertums. So gründeten sie studentische Orden nach Freimaurer-Vorbild, ab 1815 schließlich Burschenschaften, beginnend mit der Jenaer Urburschenschaft. Neu an dieser Bewegung war die überregionale Vernetzung inklusive Dachorganisationen; durch das rasch wachsende Verbindungswesen suchte man, die erstrebte nationalliberale Einheit performativ vorwegzunehmen.

Die Burschenschaftsbewegung kultivierte einen Sittlichkeitskodex von "Bildung, Leistungsethos und Verantwortungsbereitschaft zusammen mit einem erhöhten bürgerlichen Machtanspruch"5, der erst später mit der revolutionären Losung "Ehre, Freiheit, Vaterland" - ursprünglich Wahlspruch der Urburschenschaft - breitenwirksam angereichert wurde. Die Ereignisse von Signaljahren wie 1789 und 1830 erschienen als Aufrufe zur nationalen Erweckung gegen die tradierte Herrschaft von Aristokratie und Großbürgertum. Aus dem Intellektuellenprojekt der deutschen "Kulturnation" erwuchs allmählich die Volksbewegung des deutschen Nationalliberalismus, angeführt von einer antiaristokratischen und leistungsorientierten Beamtenelite.

Gleichwohl zerfiel die Studentenbewegung schon zu Beginn in einen größeren kompromissorientierten "bürgerlich-liberalen" und einen kleineren, aktivistischer orientierten, aber auch öffentlich sichtbareren "radikaldemokratischen" Teil; sie war nie auf einen verbindlichen oppositionellen Kern verpflichtet. Außerdem gliederte sie sich in drei Phasen: Erst von 1815 bis 1819 mit dem Signalereignis des Wartburgfests 1817, dann von 1827 bis 1832 mit der Mobilisierungsspitze des Hambacher Fests 1832, schließlich unter dem Namen der "Progressbewegung" von 1837 bis etwa 1855. Alle drei Phasen standen in enger Korrespondenz mit vergleichbaren europäischen Erhebungen, konnten sich auf wachsende oppositionelle Energien in der Gesamtbevölkerung stützen, wurden aber auch durch wiederholte Repressionswellen, d.h. Zensur, Verbote und polizeiliche Verfolgungen zerschlagen. 6 Während der gesamteuropäischen Revolutionsbewegung von 1848/49 taten sich in Deutschland einzelne Aktionszentren durch Versammlungen, Demonstrationen, Besetzungen und auch bewaffnete Aufstände hervor, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit und den jeweiligen Amtsträgern teils befehdet (Jena, Leipzig, Freiburg, Heidelberg), teils unterstützt (Göttingen, Leipzig) wurden. Alles in allem blieb der größte Teil der Studenten wohlgemerkt in unpolitischer Reserve.

Die demokratisch-nationale Revolution konnte bekanntlich nicht erreicht werden; zu den nichtsdestotrotz errungenen langfristigen Teilerfolgen aber zählt die Nötigung der Herrschaftsträger zu Zugeständnissen bei liberalen Freiheitsrechten und bei der Parlamentarisierung der politischen Kultur.

Die völkische Studentenbewegung in Weimar (1925-1933)

Realisiert wurde der deutsche Nationalstaat erst 1871 in "kleindeutscher" Gestalt, als Kaiserreich unter preußisch-protestantischer Führung. Trotz fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen saßen Kaiser, Militäraristokratie und Großbürgertum an den Hebeln der Macht; das in früheren Jahrzehnten für ein liberales Deutschland optierende Bildungsbürgertum hingegen nahm das Scheitern des Nationalliberalismus mitsamt der weitgehenden politischen Stillstellung hin und erhielt dafür gewissermaßen den glänzenden Status als neue Funktionselite, als kulturhegemonialer "Geistesadel" mit unvergleichlichem Sozialprestige inmitten einer neuen Hochschätzung für Bildung und Wissenschaft.7 Für den akademischen Sektor brach im Kaiserreich zunächst eine neue Zeit an, die durch die allgemeine Hinwendung zur antiliberalen politischen Rechten gekennzeichnet war: Wer in dieser Zeit studierte, war mit der Elterngeneration eines Sinnes, nämlich kaisertreu, konservativ, deutschnational, idealerweise militarisierter Korpsstudent. Die überregionalen Netzwerke, einst von liberalen Burschenschaftern geschaffen und erst nach und nach von konservativen und konfessionellen Korporationen adaptiert, fungierten nun als Kanäle der Bildungsvererbung, Elitenrekrutierung und "Statussicherung" gutsituierter Zirkel.8

Zur herrschenden Sozialmoral der wilhelminischen Studierendenschaft zählte schon zu diesem Zeitpunkt ein robuster Nationalchauvinismus und Antisemitismus; liberale und sozialistische Formationen wie die Freistudentenschaft blieben numerisch und politisch unterlegen. Allerdings zerrann im Zuge eines zunehmend verselbstständigten Bildungswachstums und einer wachsenden Bedeutung technisch-naturwissenschaftlicher Disziplinen allmählich der Führungsanspruch des akademischen Bürgertums. Die Statuskrise war unabwendbar, stieg doch mit dem Bevölkerungswachstum auch die Studierendenzahl rasant. Was sich schon gegen Ende des Kaiserreichs andeutete, schlug mit den Verheerungen des Ersten Weltkriegs und mit der Hyperinflation der 1920er Jahre dann voll durch: Das deutsche Bildungsbürgertum wurde weitgehend sozial entprivilegiert, sein Erbkapital entwertet. Das tradierte Selbstverständnis der vielfach als Soldaten eingesetzten Studenten wurde regelrecht zerschlagen: Sie fanden sich "in einer verkehrten Welt" wieder, "in der ein Facharbeiter mehr verdiente als ein hoher Staatsbeamter", und in der die eigenen Eltern kaum noch das Studium finanzieren konnten.9 Viele von ihnen mussten es unter elenden Bedingungen bestreiten: Etwa ein Drittel bis die Hälfte war trotz Selbsthilfe und Werkstudium unterernährt und in desolaten Wohnverhältnissen Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose ausgeliefert. Dies bildete den Nährboden einer an neuen Formen von Kameradschaftlichkeit und Kollektivität orientierten, mehrheitlich republikfeindlichen akademischen Jugend.

Die hieraus entstandene antidemokratische Studentenbewegung von Weimar hinterließ eine bestürzende Trümmerbilanz. Die antisemitischen Deutungsangebote verfingen nun massenhaft unter den durch neue Entprivilegierungs- und Entfremdungserfahrungen frustrierten Hochschuleliten und Studierenden: Nutznießer der sozialen Kränkung war schon früh die antidemokratische Polemik von rechts mit ihrem Versprechen einer Restitution akademischer Privilegien. Zwar hatten die kriegsgebeutelten Studierenden im demokratischen, unpolitisch auftretenden Dachverband "Deutsche Studentenschaft" (DSt) zunächst nur nach neuen Gemeinschaftsformen gesucht. Jahrelanges relatives Elend, politische Versäumnisse und allmählich tief wurzelnde Staatsverdrossenheit trieben die Studierenden jedoch schließlich den antidemokratischen Vereinigungen zu: erst dem zwischen Jungkonservatismus, Altkonservatismus und völkisch-paramilitärischem Prinzip changierenden "Deutschen Hochschulring" (DHR), dann dem "Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund" (NSDStB).10 Der allmählichen Sammlung der nationalsozialistischen Bewegung an den Universitäten diente sich das studentische Verbandsnetzwerk schließlich als frühe und furchtbar effektive völkische Vorkämpferinstitution an. Schrittweise übernahmen sie die DSt, setzten das Kameradschafts- und Führerprinzip erst im DHR, dann im NSDStB durch und lösten schließlich die Strukturen studentischer Selbstorganisation auf.

Schon ab 1925 verstand sich die studentische Mehrheit als "völkisch-revolutionär"; ab 1927 wurde die studentische Wut auf die republikanischen Institutionen immer offener artikuliert, ihr Prestige- und Privilegienverlust in Ressentiment gegen die älteren Generationen umgemünzt. Durch professionelle Vernetzung und geschickte Basisarbeit erwirkten NSDStB-Kader vielerorts Kundgebungen und Demonstrationen, immer häufiger auch Ausschreitungen, Übergriffe auf Kommilitonen sowie auf jüdisches und liberales Lehrpersonal. Rohe physische Gewalt, ethnisch aufgeladene "wahre Haßorgien" und ein "Radauantisemitismus"11 gegen Mitbürger zählten am jeweiligen Hochschulort zum beinahe täglichen Aktionsspektrum. Auch dieser studentische Aktivismus im Zeichen des Hakenkreuzbanners ist Teil der Geschichte studentischer Protestbewegungen.

Die Außerparlamentarische Opposition (APO, 1966-1968)

Einer völlig anderen Zeit scheint die Bundesrepublik der 1960er Jahre anzugehören. Der berühmte sozioökonomische Fahrstuhleffekt ermöglichte in dieser neuen Angestellten- und Beamtengesellschaft immer mehr Familien einen gehobenen Lebensstandard inklusive des Genusses einer Unterhaltungsindustrie nach US-Vorbild.12 Allmählich wandte sich die Jugend gegen den politisch-moralischen Nachkriegskonsens der Adenauer-Ära, den sie als verkrustet und bieder empfand. Dabei konnte die wachsende Protestbereitschaft bereits ab Mitte der 1960er Jahre auf einem allgemeinen Modernisierungs- und Liberalisierungstrend aufsetzen, gekennzeichnet durch parteipolitische Öffnung, wachsende kulturelle und sexualmoralische Aufgeschlossenheit, eine neue Sensibilität für die Verflechtung amtierender Eliten in nationalsozialistische Verbrechen sowie durch ein allgemeines institutionelles und bildungspolitisches Reformbestreben.

Ja, Fundamentalopposition war modisch: Die vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) getragene und in eine globale Jugendrevolte eingebettete linke Protestkultur erhielt ihren Auftrieb auch durch breit geteilte autoritätskritische Stimmungen. Eine zentrale Rolle spielte außerdem die Medienresonanz von Schlüsselereignissen wie dem Vietnamkrieg ab 1964 oder die Diskussion um die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze.13 Die eigentliche Studentenbewegung war dann Teil eines klar umrissenen, heterogene Strömungen integrierenden Trägernetzwerks unter dem Namen "Kuratorium Notstand der Demokratie", heute nach dem Stichwort Rudi Dutschkes primär als "Außerparlamentarische Opposition" (APO) bezeichnet. Die APO bestand etwa zwischen 1966 und 1968, bezog Legitimität auch aus ihrer Frontstellung gegen die ab 1966 regierende Große Koalition, war aber inhaltlich primär gegen die geplante Notstandsgesetzgebung gerichtet.14 Während die schon seit den 1950er Jahren bestehende Ostermarschbewegung zu diesem Bündnis Mobilisierungsnetzwerke und Organisationswissen beitrug, die Gewerkschaften ihre historisch gewachsenen Strukturen und finanziellen Mittel, bestand die Aufgabe des studentischen SDS in der intellektuellen Verklammerung und rhetorischen Aufbereitung der gemeinsamen Protestziele.15 Ausgehend von Westberlin mobilisierte der SDS in weiteren Aktionszentren wie Frankfurt am Main und Heidelberg.

Obwohl es an vielen Universitäten vergleichsweise ruhig blieb, entfachten einige wenige entscheidende Ereignisse die bis heute medial präsente aktivierende und kollektiverende Wirkung: Zentral ist hier die Zäsur der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg im Nachgang einer Demonstration gegen den Besuch des iranischen Schahs am 2. Juni 1967. Überhaupt ist 1967, nicht 1968, das eigentlich entscheidende Jahr dieser Studentenbewegung. Nach dem 2. Juni verschärfte sich zunächst die ins Grundsätzliche zielende Auseinandersetzung zwischen Studierenden und medialer wie politischer Öffentlichkeit: Demokratiegefährdende Chaoten versus Häscher eines faschistoiden Polizeistaats, so die wechselseitigen Vorwürfe.16

In der Folge wuchs der Kreis der Sympathisierenden, auch in der nichtstudierenden Bevölkerung; der SDS setzte sich als Zentrum des Protests in Szene und wähnte sich als Teil internationaler "Befreiungskämpfe" von Kuba bis Vietnam. Delegiertenkonferenzen, Demonstrationszüge, universitäre Sit-Ins, alternative Wohnprojekte etc. erzielten hohe Medienresonanz. Der Anschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 erhöhte noch einmal die Legitimität des Protests: Parallel zu den französischen Mai-Unruhen und anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetze kam es zum "letzten Mobilisierungshöhepunkt", einem Sternmarsch in Bonn mit über 70.000 Demonstrierenden. Alsbald jedoch sank der Stern dieser Bewegung: Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze hatte das Protestbündnis sein tragendes Thema verloren. Die Gewerkschaften zogen sich aus dem Bündnis zurück und das Momentum erschlaffte; Versuche, mit der Springer-Auseinandersetzung ein neues thematisches Vehikel zu finden, scheiterten. Orthodoxes Kaderprinzip und Spontaneismus fielen in der Folge auseinander. Bei manchen führte das zu Unversöhnlichkeit, politischer Isolierung und Militanz, bei den meisten zum Arrangement mit dem wachsenden akademischen Arbeitsmarkt. 1969 löste sich der SDS auf.

"1968" war ohne Frage ein eindrucksvolles, irritierendes, ja beunruhigendes und polarisierendes Phänomen für die zeitgenössische Öffentlichkeit. Bedeutender aber als die aus heutiger Sicht stark historisch situierten Ereignisse ist wohl das Gerinnen von "68" zu einer kulturellen "Chiffre" (Claussen) im Verlauf der 1980er Jahre, d.h. zu einem mythenumwobenen Artefakt politischer Kultur mit einer Strahlkraft, die bis in die Gegenwart reicht. Zweifellos bewirkten die Ereignisse um "1968" und der damit verbundene konsumgesellschaftliche Lebensstilwandel einen beschleunigenden Ruck für die sich modernisierende politische Kultur der alten Bundesrepublik. In Teilen des gebildeten Bürgertums stehen die "68er" heute häufig als Sinnbild von selbstorganisierter Partizipation und Teilhabe. Eine soziale Bewegung im klassischen Sinn bildeten die "68er" dabei aber wohlgemerkt nicht: Die APO sendete visuelle Codes einer internationalen "counterculture" im noch jungen Fernsehzeitalter. Der Protest erhob sich aus den Reihen einer erstmals massenhaft saturierten und aufstiegsorientierten Mittelschicht, nicht aus subalternen Klassen. Er war bereits moderner Bürgerprotest.

Fazit: Merkmale studentischer Protestbewegungen und Protestpotenzial

Studentenbewegungen wurden historisch gesehen stets durch spezifische historische Bedingungen und Gelegenheitsfenster möglich. Getragen von einem Kern umtriebiger politischer Netzwerker bündelten sie bestehendes Konfliktpotenzial, indem sie eine durch rhetorische Referenzen, Symbole und Parolen durchsetzte Sprache fanden und sich zu einem politischen Vorkämpferkollektiv im Namen anstehenden gesellschaftspolitischen Wandels erklärten. Alle drei Studentenbewegungen begriffen sich grundsätzlich als Pionierkader gesellschaftlicher Transformationsprozesse, beriefen sich insofern durchaus auf ein elitäres Selbstbewusstsein. Als verbindendes Merkmal der beiden in ihrem Selbstverständnis freiheitlich gerichteten Studentenbewegungen von 1817/1848 und 1966-1968 fällt darüber hinaus - trotz aller eklatanten Differenzen - ein Dualismus aus primärem Scheitern und sekundärem Erfolg auf: Beider Bewegungen Ziel war die Mobilisierung breiterer Bevölkerungskreise unter emanzipativen Vorzeichen, während der tatsächlich aktive Teil stets ein Nukleus blieb. Sie erreichten ihre Kernziele nicht, aber agierten als Katalysatoren allgemeiner gesellschaftspolitischer Tendenzen.

Abgesehen davon differierten sowohl die Zielvorstellungen als auch die Auswirkungen dieser Bewegungen auf die nachfolgenden politischen und kulturellen Entwicklungen wie gesehen beträchtlich. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang die strukturelle Ambivalenz studentischer Organisations- und Gesellungsformen: Schon die bekenntnisreligiösen Ausprägungen des liberalen Burschenschafts-Nationalismus enthielten die Tendenz zur demagogischen Raserei, letztere war nicht nur Kennzeichen der völkischen Sammlung in Weimar. Die häufig anzutreffende implizite Annahme einer Neigung studentischen Protests zu freiheitlich-gesellschaftskritischen Bestrebungen hält dem historischen Rückblick so gesehen nicht stand.

Da das Studieren heutzutage keine Angelegenheit klar umrissener Schichten mehr ist, sondern ein dominanter Qualifikationsweg für Berufskarrieren in der modernen Wissensgesellschaft, sind studentische Lebensstile beinahe so ausdifferenziert, so heterogen und so wenig kollektivierend wie diejenigen anderer gesellschaftlicher Gruppen. Parallel ist der relative (hochschul)politische Organisationsgrad stark gesunken. Infolge dieser Entwicklungen gehören ausdauernd mobilisierende und subkulturell durchorganisierte Studentenbewegungen mit apodiktischen hochschul- und allgemeinpolitischen Forderungen höchstwahrscheinlich der Vergangenheit an. Das Potenzial für Studentenprotest jedoch, verstanden als punktuell aufflammender Unmut zu wechselnden Anlässen, wird auch künftig gegeben sein. Dieser könnte sich auch in Zukunft jederzeit erneut bündeln und entzünden, etwa wenn die akademischen Berufsaussichten sich eintrüben oder wenn größere Teile der Studierenden fundamentale Prinzipien der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit ausgehebelt sehen. Zwar werden Gesellschaftskritik und Zielutopien, etwa unter dem Eindruck der Klimakrise, hierbei stets eine tragende und integrierende Rolle spielen. Doch historisch gesehen kam das Rezept des Studentenprotests nie ohne eine Prise des Salzes materiellen und statusbezogenen Eigeninteresses aus.

Anmerkungen

1) Der Aufsatz stellt eine gekürzte und veränderte Fassung eines Beitrags zur Zeitschrift die hochschule, Ausgabe 1/2021, dar, vgl. Julian Schenke 2021: "Studentenbewegung und Studentenprotest. Zum Wandel eines Prägefaktors politischer Kultur", in: die hochschule 1/2021: 99-115, online einsehbar unter: https://www.hof.uni-halle .de/journal/texte/21_1/Schenke.pdf [eingesehen am 06.01.2023] Er präsentiert ausgewählte Argumentationslinien und Resultate meiner Dissertation, die 2020 unter dem Titel Student und Demokratie. Das politische Potenzial von Studierenden in Geschichte und Gegenwart beim transcript Verlag Bielefeld erschienen ist.

2) Vgl. Detlev Claussen 1992: "Chiffre 68", in: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hg.): Revolution und Mythos, Frankfurt a.M.: 219 - 230.

3) Vgl. Friedrich Schulze / Paul Ssymank 1931: Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München: 183.

4) Vgl. Gerda Bartol 1978: Ideologie und studentischer Protest. Untersuchungen zur Entstehung deutscher Studentenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, München: 232.

5) Vgl. Wolfgang Hardtwig 1986: "Studentische Mentalität - Politische Jugendbewegung - Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft", in: Historische Zeitschrift 242: 581-628; hier: 614.

6) Vgl. Heide Thielbeer 1983: Universität und Politik in der deutschen Revolution von 1848, Bonn: 146.

7) Vgl. Fritz K. Ringer 1987: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart: 18 sowie Hans-Peter Ullmann 1995: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M.: 181- 192.

8) Vgl. Manfred Studier 1965: Der Corpsstudent als Idealbild der Wilhelminischen Ära, Erlangen: Vf. sowie Konrad H. Jarausch 1984: Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt a.M.: 67f.

9) Vgl. Andreas Schulz 2014: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. Enzyklopädie Deutscher Geschichte Bd. 75, Berlin: 30.

10) Vgl. Michael H. Kater 1975: Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg: 111-125.

11) Vgl. Hans Peter Bleuel / Ernst Klinnert 1967: Deutsche Studenten auf dem Weg ins Dritte Reich. Ideologien - Programme - Aktionen 1918-1935, Gütersloh: 130f.

12) Vgl. Axel Schildt 2007: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90. Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 80, München: 13-28.

13) Vgl. Philipp Gassert 2018: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart: 129.

14) Vgl. Pavel A. Richter 1998: "Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland 1966 bis 1968", in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 17, Göttingen: 35-55; hier: 36 und 45-47.

15) Ebd.: 36, 45f.

16) Vgl. Gerhard Bauß 1977: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin. Handbuch, Köln: 77-86 sowie Christian Krause / Detlef Lehnert / Klaus-Jürgen Scherer 1980: Zwischen Revolution und Resignation? Alternativkultur, politische Grundströmungen und Hochschulaktivitäten in der Studentenschaft. Eine empirische Untersuchung über die politischen Einstellungen von Studenten, Bonn: 29.

Dr. Julian Schenke ist Bibliotheksreferendar des Landes Niedersachsen und Politikwissenschaftler. Bis 2021 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung in Göttingen. Seine thematischen Schwerpunkte in Forschung und Lehre lagen dort in den Bereichen qualitativer politischer Kulturforschung und kritischer Theorie.