Die Protestaktionen der Jahre 1967/68 werden überwiegend als studentische Bewegung interpretiert. Diese Deutung mag zwar mit Blick auf die beteiligten AkteurInnen sozialstrukturell unvollständig sein, dennoch trifft sie im Kern zu. Die studentische Bewegung entstand mithin in einem weitgehend feindlichen, konservativen akademischen Umfeld. Umso bedeutsamer waren die wenigen ProfessorInnen, die sich an ihre Seite stellten, oder die Inspirationen für emanzipative Gesellschaftskritik lieferten. Das Verhältnis dieser "MentorInnen" zu den Studierenden war dabei nicht frei von Konflikten, wie Dieter Boris analysiert.
Gemäß dem intelligenten Diktum, wonach Jubiläen und Jahrestage "die Herzschrittmacher des Kulturbetriebs" sind, läuft die mediale Massenproduktion über "68" schon seit dem Vorjahr "des Ereignisses" auf Hochtouren. Eine Beschreibung und Analyse der Vorgänge von damals jenseits von Polemik oder Nostalgie, von Verdammung oder Heroisierung, von Personalisierung und Verschwörungstheorien, Konfessionen späterer Renegaten oder antikommunistischer Verdächtigungen etc. scheint - mit Blick auf die Fülle der Veröffentlichungen - kaum möglich zu sein. Dennoch sind manche interessante Aspekte kaum oder überhaupt noch nicht aufgegriffen worden. Die Frage beispielsweise, welche Sicht der Prozesse um "68" bedeutende theoretisch-politische "Ziehväter" oder "Mentoren" dieser Protestbewegung hatten.1 Denn letztlich kam auch für sie das Entstehen, schnelle Wachstum und die erhebliche politische Breitenwirkung dieser Jugend- und Studierendenrevolte in einem bis dahin traditionell konservativen Land und einem ebenso konservativ-autoritären Universitätsmilieu2 durchaus überraschend. Und wie die wenigen progressiven HochschullehrerInnen und Intellektuellen diese Bewegung in ihrer Entfaltung sahen und mit ihr umgingen, scheint in mehrfacher Hinsicht erhellend zu sein. Einige typische, exemplarische Zitate aus einschlägigen Schriften von "Mentoren" der 68er und ein paar Reflexionen dazu sollen hier genügen.
Denn es ist bemerkenswert, dass es Fehldeutungen der "68er-Bewegung" auf beiden Seiten gab (die hier nur in knappen Ausschnitten und exemplarisch angedeutet werden können) und die Konflikte zwischen beiden Seiten auch aus unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und differierenden Seins- und Bewusstseinslagen resultierten und daher keineswegs als eine Art von versuchtem "kollektivem Vatermord" gedeutet werden können.
Als herausragende "Ziehväter" der Studierendenbewegung werden hier Werner Hofmann, Soziologe an der Universität Marburg von 1966-1969; Jürgen Habermas, Philosoph und Soziologe an der Frankfurter Universität in der zweiten Hälfte der 60er Jahre sowie Wolfgang Abendroth, Politikwissenschaftler an der Marburger Universität von 1951-1972 vorgestellt.
Die allgemeinen, nationalen Rahmenbedingungen für die Entstehung der westdeutschen Studierendenbewegung3, wie ein autoritäres, postfaschistisches Gesellschaftsklima innerhalb wie außerhalb der Universitäten, große Auseinandersetzungen um die Einführung einer "Notstandsgesetzgebung" (die 1968 auch erfolgte), Bildung einer "Großen Koalition", Identifikation der Regierungen mit neokolonialen Potentaten und Interventionen (Vietnam, Iran, Kongo usw.) werden als Hintergrund von den "Mentoren" mehr oder minder allesamt erwähnt, ohne dass ihnen ein entscheidendes Auslösungs- und Wirkungsmoment zugewiesen würde.
Werner Hofmann
Für Werner Hofmann (WH) liegen die wichtigsten, unmittelbaren Entstehungsgründe für die Studierendenrevolte in dem Umstand begründet, dass es sich um ein in der gesellschaftlichen Wertung und Bedeutung absteigendes Sozialstruktursegment handelt (was übrigens auch für den universitären Widerpart der Studierenden, die Professoren, seiner Ansicht nach genauso gilt). Der soziale Abstieg (gegenüber einer bildungsbürgerlichen Position des gehobenen Bürgertums) liege im sehr wahrscheinlichen Gang in die Unselbständigkeit, der Verringerung der Wirkungsmöglichkeiten im späteren Berufsleben, dem Einkommens- und Ansehensverlust und einer entsprechenden Arbeitsplatzunsicherheit begründet.4 Bewusst oder unbewusst erfolge daraufhin eine Reaktion, die von einem irrationalen und rückwärtsgewandten Utopismus geprägt sei. "Es kennzeichnet […] den wirklichen gesellschaftlichen Standort der Studentenbewegung, den bürgerlichen Charakter der Auflehnung eines Teils der sinkenden Intelligenz, dass sie Züge jenes Aufbegehrens wiederholt, wie es in geschichtlicher Zeit sinkende gewerbliche und bäuerliche Schichten des frühen Industriekapitalismus an den Tag gelegt haben. Die Maschinenstürmerei, die auf ihre Weise eine dinglich betrachtete Produktivkraft stilllegen wollte, der Glaube an die Möglichkeit, ›Modelle‹ einer besseren Gesellschaft inmitten einer ganz anderen Gesetzen folgenden Umwelt aufbauen zu wollen - Modelle, die durch bloße Überzeugungskraft weiterwirken und schließlich die ganze Gesellschaft durchsetzen werden, haben in den Vorstellungen mancher Gruppen des ›Sozialistischen Deutschen Studentenbundes‹ fröhlich Urständ gefeiert."5 Gleichzeitig gehe aber damit eine eigentümliche Kurzatmigkeit einher, eine Neigung zur Gewaltsamkeit und ein individualisierter Anarchismus, was alles zusammen auf eine politische Perspektivlosigkeit hinausläuft, da dadurch potenzielle BündnispartnerInnen innerhalb wie außerhalb der Universität abgeschreckt werden. Es werde nicht wahrgenommen, dass es sich um einen abgeleiteten Konflikt handele, gegenüber dem zentralen zwischen Kapital und Arbeit; die falsche Analogie zur Arbeitswelt und die daraus entspringende falsche Selbsteinschätzung erkenne nicht, dass in den Hochschulen kein Gewinn gemacht wird oder Kapital gebildet und die Hochschulen "Zuschussgebilde" oder "Kostgänger" seien, die sich aus Leistungen speisen, die außerhalb der Universität erbracht werden. "Das blinde Revoluzzertum ist am Ende. Was einzig bleibt, ist der Weg zu jenen Gruppen der Gesellschaft, die unser Dasein wahrhaft tragen und die zugleich die Leidenden der Verhältnisse sind. Erst in der Begegnung mit der Arbeiterschaft vollendet sich der Prozess einer Selbsterziehung der jungen akademischen Intelligenz zum verantwortlichen Handeln."6 Die Demokratisierung der Universität ist lediglich als ein "Teilstück" einer weitergehenden Demokratisierung anderer Gesellschaftsbereiche, vor allem im Produktionsbereich, zu begreifen. Erst wenn dies erreicht wird oder zumindest in Angriff genommen wird, können auch im akademischen Bereich neue Verhältnisse von Öffentlichkeit und Kontrolle sowie neue Lehr- und Lernformen Platz greifen. "Die ständige kritische Durchmusterung von überkommenem wie von neuem Lehrgut tut not, auch die Entwicklung neuer Formen einer gemeinsamen Auseinandersetzung von Lehrenden und Lernenden an der Sache, im Unterschied zum Monolog der Vorlesungen. Wir brauchen Formen der Wissenserprobung, die der Bestreitbarkeit der Wissenschaftsinhalte selbst entsprechen; die es erlauben, nicht an unseren Maßstäben die Sache, sondern an der Sache unsere Maßstäbe zu prüfen. Wir brauchen das fundierte Gespräch, die Auflösung des starren Gegenüber von Gebenden und Nehmenden im Hörsaal, die Wiederbegegnung am wissenschaftlichen Werkstück - die Wiederbegegnung von Menschen, die um ihre gemeinsame Wissensbedürftigkeit, um ihre gemeinsame geistige Not wissen. Wir brauchen, mit einem Wort, Dialektik im Hörsaal."7 Es ist verständlich, dass WH mit derartigen, teilweise recht "altfränkisch" anmutenden Formulierungen Studierende eher reizen konnte, wenn sie wussten, das hinter diesen frommen Worten seine Verteidigung der ordinarialen Sonderstellung stand, die aufzugeben er um keinen Preis bereit war. Mit dem eigentümlichen, widersprüchlichen Zusammentreffen seines eher traditionellen Selbstverständnisses vom Beruf des Hochschullehrers mit den voraus weisenden Inhalten seiner Gesellschaftslehre und dem daraus folgenden unerschrockenen politischen Engagement konnten große Teile der Studierendenbewegung kaum umgehen; davon irritiert, gab es nicht wenige, die in ihm einen besonders raffinierten und schwierigen politischen Gegner sahen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit diesen wenigen Zitaten und Reflexionen über sie sollen keineswegs die scharfsinnigen Analysen WHs zum Hochschulkonflikt im allgemeinen und seine Prognosen über die weitere, zukünftige "Indienstnahme" der Universität durch äußere, vor allem kapitalbestimmte Kräfte (1968/69) relativiert oder in den Hintergrund gedrängt werden. Die Voraussagen sind leider fast alle eingetroffen.8 - Die protestierenden Studierenden und die junge Intelligenz werden gelegentlich sogar als "Initialzündung" und als "bedeutungsvolle moralische Absicherung" eines vorwärtstreibenden Veränderungsprozesses recht positiv qualifiziert; auch Hinweise zur Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Studierenden finden sich vereinzelt bei ihm. Allerdings blieben diese Bemerkungen - im Unterschied zu den Referierten - sehr knapp und insgesamt weit weniger gewichtig. Insofern scheint es berechtigt, sich vorwiegend auf die entscheidenden Konfliktlinien gegenüber der Studierendenbewegung zu beziehen.9
Jürgen Habermas
Jürgen Habermas (JH), der sich schon zu dieser Zeit anschickte zum - neben Adorno und Horkheimer10 - einflussreichsten und wissenschaftlich wie politisch präsentesten Vertreter der "Frankfurter Schule" zu werden, hielt sich in seinen berühmten Thesen zur Studentenrevolte11 mit sozialstrukturellen Erörterungen über die Zusammensetzung und Herkunft der aktuell Studierenden kaum auf, sondern konzentrierte sich auf ihre vermeintlichen, expliziten und impliziten Zielvorstellungen sowie auf ihre politischen Kampfformen. Auch JH zeigt sich dabei relativ überrascht von dieser Entwicklung, die sich noch zu Beginn der 1960er Jahre keineswegs abzeichnete; ganz zu schweigen von den 50er Jahren, für die er gemeinsam mit anderen in Student und Politik (1961) das überwiegend konservative und apolitische Bewusstsein der Studierenden erforscht hatte. Die um die Mitte der 60er Jahre eintretende Kumulierung unterschiedlicher Momente ließen die Unmutsgefühle bei einer zunächst kleinen bewussten Minderheit von Studierenden wachsen. Deutlichere autoritär-repressive Tendenzen, das allmähliche Gewahrwerden der Massenmorde im Faschismus, sowie die internationalen Interventionen der "demokratischen Führungsmacht" USA in Ländern der "Dritten Welt", die kaum nachvollziehbar waren, und schließlich auch die fortdauernde konservativ-repressive Atmosphäre in den Universitäten, all dies führte zu zunächst bescheidenen Aktionen des Protests und zu Demonstrationen, deren gelegentlich überproportional heftige "Beantwortung" durch die Gegenseite alsbald zu Solidarisierungseffekten und einer näheren analytischen Beschäftigung mit diesen Themen führte. Das bis Mitte der 60er Jahre kaum vorstellbare, fast explosionsartige Anwachsen und die Breitenwirkung der Studierendenbewegung waren sicherlich auch durch Impulse aus dem Ausland, wo es zahlreiche analoge Prozesse gab, verstärkt worden.
Die Sechs Thesen über Taktik, Ziele und Situationsanalyse der oppositionellen Jugend von JH, die einen breiten Widerhall von links bis weit nach rechts fanden und intensiv diskutiert wurden12, beginnen zunächst mit einer gewissen Anerkennung des Erfolgs der Protestbewegung von StudentInnen und SchülerInnen, die trotz aller Beschränkungen "eine neue und ernsthafte Perspektive für die Umwälzung tiefsitzender Gesellschaftsstrukturen eröffnet" habe.13 Allerdings hätten verschiedene Faktoren zu Handlungen geführt, die einen langfristigen Erfolg der Protestbewegung - nach Auffassung von JH - verringern werde; dieses Verhalten des SDS sei der Anlass für seine kritischen Thesen gewesen. Die ersten drei Thesen beschreiben Ziele, Erfolge und Motivationen der Bewegung, die beiden folgenden beschäftigen sich mit Strategien und den ihnen zugrunde liegenden Theorien und Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse, national und international. Die sechste These soll adäquate, alternative Strategien andeuten.
Während die erste These die "Politisierung der Öffentlichkeit" als legitimes und notwendiges Ziel der Protestbewegung anerkennend unterstreicht, schildert die zweite die "phantasiereiche Erfindung neuer Demonstrationstechniken", die die Erfolge bewirkt hätten. Da die SchülerInnen und Studierenden eine gesellschaftlich privilegierte Gruppe seien - so die dritte These - müsse der Protest sozialpsychologisch erklärt werden; allerdings gehe dieser Konflikt über den "normalen Generationenkonflikt" insofern hinaus, als angesichts des Reichtums der Gesellschaft und des hohen Produktivkraftstands das "Diktat der Berufsarbeit" und der scharfe Leistungswettbewerb in den Augen der jungen Leute immer weniger legitimiert erscheine.
Die Thesen vier und fünf verlassen diese Argumentationsebene, um die analytisch-theoretisch gewonnenen Überzeugungen der Studierenden als Hintergrund ihres Handelns zu überprüfen. (Die sozialpsychologische Erklärungsebene wird damit abrupt verlassen). Drei Thesen, die die Inhalte der Politik und die Formen des Handelns der Studierenden bestimmen, seien nach JH falsch: 1. Dass der Kapitalismus ständig wiederkehrende Verwertungsprobleme hätte, diese nicht lösen könne und daher immer nur eine zeitweise Stabilität erreichen könne. 2. Dass der Klassenantagonismus aktuell und zukünftig aus seiner zeitweisen Latenz heraustreten könne und eine Re-Politisierung des Klassengegensatzes durchaus möglich wäre. 3. Dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der ökonomischen Stabilität/Prosperität in den Metropolen und der Ausbeutung der "Dritten Welt" bestehe.
JH unterstellt hier den Theoretikern und Strategen des SDS a) eine plumpe Zusammenbruchstheorie, die wohl kaum einer vertreten hat; b) eine Auffassung von Klassenantagonismus, die sich durchaus - zumindest in den folgenden Jahren - bestätigen sollte (Frankreich Mai 1968 größter Generalstreik seiner Geschichte, Septemberstreiks in Deutschland 1969, ebenso große Streikwellen in diesem Jahr in Großbritannien) und c) die Behauptung eines engen Zusammenhangs zwischen erster Welt und Dritter Welt, den in dieser extremen Form kaum jemand im SDS und seinem Umkreis vertreten hat.14 Aus diesen - nicht zutreffenden - Grundüberzeugungen der Studierenden resultierten nach JH die Missverständnisse in den Situationseinschätzungen und ihrer Praxis, die völlig falsch und irreal seien, so z.B. die Annahme einer aktuell "revolutionären Situation" und die einer internationalen Einheit des anti-kapitalistischen Protests. Diese Fehleinschätzungen, die JH unterstellt, die sich aber nirgendwo nachweisen lassen (von individuellen, raren Ausnahmen abgesehen) seien so gravierend, dass sie zu völligem Realitätsverlust, zur Verwechslung von Symbolen und Wirklichkeit geführt hätten, ja sogar den klinischen Tatbestand von "Wahnvorstellungen" und "Potenzphantasien" hervorgerufen hätten.15 Die "Scheinrevolution" könne nicht mehr zwischen "Gewaltausübung" und "Provokation" unterscheiden, sei nur noch kurzatmig und auf ständige Polarisierung aus und damit objektiv ein Hindernis für eine breite Bündnispolitik, auch gegenüber der "Arbeiterschaft". In einem Redebeitrag auf dem Kongress im Juni 1967 in Hannover hatte sich Habermas zu seiner berüchtigten Formulierung des "linken Faschismus" verstiegen. "Ich bin der Meinung, er (Rudi Dutschke, D.B.) hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat und der unter heutigen Umständen - jedenfalls ich glaube, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen - linken Faschismus nennen muss."16
In der sechsten These stellt JH diesen Fehldeutungen und Fehlorientierungen der Studierenden eine "langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung" entgegen, die bezüglich des Zeitraums von Veränderungen, der zu verteidigenden demokratischen Positionen, bezüglich der Anerkennung der erzielten Fortschritte und im Hinblick "auf die Grenzen des Aktionsspielraums" realistisch sein bzw. werden müsse. Die Frage, wer AdressatIn der "massenhaften Aufklärung" sein solle und wie sie sich vollziehen solle, beantwortet JH - wenn überhaupt - dahingehend, dass vor allem "Gruppen mit privilegierten Einflusschancen" in geduldiger Überzeugungsarbeit gewonnen werden müssten. Angesichts der damaligen Struktur der großen Masse von Medien (und ihrer JournalistInnen), von großen Teilen des Gewerkschaftsapparats, der Repräsentanten politischer Parteien sowie der großen Mehrheit konservativer oder höchstens liberaler Intellektueller etc. schien diese Empfehlung JHs eher als Aufruf zur Resignation, oder wie Arnhelm Neusüss es mit beißender Ironie formuliert: "Als aufklärerischer Rest der Habermas’schen Strategie bleibt dann die weniger massenhafte als elitäre Tätigkeit in ebenso kritischen wie hermetischen Seminaren."17
Wolfgang Abendroth
Die Analyse und Einschätzung der studentischen Protestbewegung in der BRD seit Mitte der 60er Jahre durch Wolfgang Abendroth (WA) teilt zwar einzelne Aspekte mit denen der zuvor behandelten "Ziehväter", weicht aber in grundsätzlichen Punkten, der Akzentsetzung und vor allem im praktisch-politischen Umgang mit Vertretern dieser Bewegung deutlich von den beiden anderen ab.
Vorab scheint es nicht unwichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass WA die längsten und intensivsten Erfahrungen mit Analysen (und Praktiken) sozialer Bewegungen, vor allem der Arbeiterbewegung, gegenüber WH und JH hatte, aber er dennoch in seinen Thesen und Urteilen sehr viel vorsichtiger und weniger dezidiert zu Werke geht. Noch Jahre später, nach dem Höhepunkt der Studierendenbewegung, in seinem langen Interview über seinen Lebensweg (1975/76) formuliert er mehrfach, welche Vermittlungen und Zusammenhänge noch intensiver untersucht werden müssten. Er erwähnt, dass noch in einer Dissertation von 1963/64 über das politische Bewusstsein von Studierenden und Abiturienten ein wesentliches Ergebnis war, dass ein konservatives Bewusstsein bei ihnen eindeutig dominierte. "Im Laufe von zwei Semestern änderte sich dies rasch: Plötzlich kam es zu einer Kehrtwendung der jungen Intelligenz, eine Kehrtwendung, die auf kritisches Denken hin orientiert war. Die wirklichen Gründe für diese Veränderung sind bisher noch nicht aufgearbeitet, zur Zeit verfügen wir nur über Ansätze und Hypothesen, die zur Klärung beitragen könnten."18 Ähnliche Passagen finden sich bei WA häufig19; bei WH und JH in ihren Texten, die ein Gefühl der persönlichen Verletzung vermitteln - da sie sich auch persönlich von den Attacken der Studierenden gekränkt fühlten - sind derartige zurückhaltende und vorsichtige Formulierungen kaum zu finden. Die klare und sofortige Einordnung (um nicht zu sagen: Aburteilung): Zum Scheitern verurteilte Rebellion junger Kleinbürger bzw. Ausdruck von einem zu bekämpfenden "Linksfaschismus" dominieren hier.
Im Unterschied zu Habermas’ These, dass der Kapitalismus im Prinzip stabilisiert sei und tiefe Krisen der Vergangenheit angehören und nicht zuletzt infolge der lang andauernden Nachkriegsprosperitätsphase Klassenkampf höchstens noch latent bzw. völlig abwesend sei, insistiert WA auf der grundsätzlichen Krisenhaftigkeit auch des gegenwärtigen Kapitalismus. Und: Die Nachkriegskonjunktur und ihre "Wohlstandswelle" könnten historischen Ausnahmecharakter tragen und die Klassengegensätze könnten wegen ihrer strukturellen Verankerung in der kapital- und profitbestimmten Wirtschaftsweise durchaus wieder aufbrechen und zudem neue Kategorien von Lohnabhängigen mit einbeziehen. In diesem letzten Punkt ist WA sogar noch deutlicher und expliziter als WH, der ansonsten ähnlich wie sein Marburger Kollege argumentiert.
Besonders beeindruckend sind aber seine sozialstrukturellen und generationssoziologischen Hinweise zur Zusammensetzung und den Perspektiven der aktuellen Studierenden. Hier wird einerseits die falsche Sicht WHs vom absinkenden Bürgertum/Kleinbürgertum implizit korrigiert, andererseits werden dadurch Leerstellen bei JH gefüllt. Das enorme Anwachsen der Studierendenzahlen war - wie er zutreffend analysiert - begleitet davon, dass die Abkömmlinge des gehobenen Bildungsbürgertums zunehmend von Studierenden ergänzt, teilweise zahlenmäßig schon übertroffen werden, die aus Sektoren mittlerer Angestellten- und Beamtenfamilien stammen, sehr viel seltener (zu dieser Zeit noch) aus Arbeiterhaushalten. Dies hatte WA zufolge zweierlei Konsequenzen. Einmal, dass "ständische" Vorurteile und konservative Ideologien bei großen und wachsenden Teilen der Studentenschaft weit weniger verbreitet waren als je zuvor in der deutschen Geschichte.20 Zum anderen aber auch im Hinblick auf spätere Berufsaussichten und Perspektiven schien vielen das Erreichen von "Selbständigkeit" und einer "herausgehobenen Sonderstellung" in der Gesellschaft immer weniger wahrscheinlich gegenüber einem etwas angehobenen lohn- bzw. gehaltsabhängigen Abhängigkeitsverhältnis. Dies hat er explizit gegen JH und implizit gegen WH eingebracht, indem er formulierte: "Ist der objektive Abstand zwischen diesen beiden Gruppen - den Studenten und Schülern auf der einen, den Arbeitern und Angestellten auf der anderen Seite - wirklich so ›immens‹, wie Habermas annimmt? Objektiv sind die heutigen Schüler und Studenten ihrer übergroßen Majorität nach unterprivilegierte oder doch nur gering privilegierte Arbeitnehmer von morgen. Technische ›Revolution‹ und Zentralisation des Kapitals, die Erweiterung des Verwaltungsbereichs und die - nur widerwillig akzeptierte im Nachzug hinter den objektiven Notwendigkeiten - Erweiterung des Bildungsapparats der Gesellschaft und des Staates des staatsmonopolistischen Kapitalismus haben einen umfangreichen Bedarf an wissenschaftlich geschulten abhängigen Arbeitskräften geschaffen, dass der Jungakademiker von heute wenig Aussichten hat, in die höheren Stäbe des Systems aufzusteigen. Die junge Generation weiß um ihre Lage."21 Insofern kann auch die (teilweise symbolische) Übernahme von Losungen und Kampfformen der Arbeiterbewegung ("Streik", "Besetzung" etc.) als Antizipation späterer Soziallagen und Konstellationen begriffen werden, und keineswegs bloß als Ausdruck von "Wahnvorstellungen"( JH) oder eines "individualisierten Anarchismus" (WH).
Abendroth geht sogar so weit, die Hypothese aufzustellen, dass infolge völlig verschiedener Erfahrungen in der Nachkriegszeit und während des "Wirtschaftswunders" die bewusstseinsmäßige Differenz junger Arbeiter zu älteren Arbeitskollegen größer sei als "diejenige zwischen den Studenten und großen Teilen der jüngsten Generation unter den Mitgliedern und Funktionären der gewerkschaftlichen Arbeitnehmerorganisationen."22
Nach Kenntnisnahme dieser Prämissen bezüglich einer von seinen Kollegen differierenden Zugangsweise und theoretischen Erklärung des studentischen massenhaften Protests kann es nicht überraschen, dass WA auch praktisch-politisch anders als diese mit den Aktionen und Parolen der Studierendenbewegung umging. Zwar kritisierte auch er manche Aktionen und Theoreme, die die Studentenrevolte begleiteten, aber er begriff diese nicht als Ausweis völliger Unglaubwürdigkeit ihrer Ziele oder als Ausdruck narzisstischer Wichtigtuerei, sondern als widersprüchliche Momente eines unvermeidlichen und lange andauernden Lernprozesses, in den man (bzw. er) helfend eingreifen muss - auch wenn man selbst heftig attackiert wird. Die typische Reaktionsweise WAs geht aus bestimmten Passagen in seinem autobiographischen Interview hervor, in denen er selbst seine Unterschiede zu WH und implizit auch zu JH reflektiert. "Die erste Ausweitung der studentischen Opposition zu einer Massenbewegung an fast allen deutschen Universitäten hatte spontanen utopischen Charakter; Kader marxistisch geschulter Intelligenz gab es viel zu wenige, als dass sie eine solche Massenbewegung hätten beeinflussen können. Als die Studentenbewegung in eine radikal-demokratische Massenbewegung umschlug, wurden in Frankfurt die Frankfurter Schule, in Marburg Werner Hofmann und ich als erste zu Angriffsobjekten für spontane Aktionen der Studenten. In Marburg kam es zur Besetzung meines und des Instituts von Werner Hofmann, in Frankfurt wurde das Institut für Sozialforschung besetzt. In Marburg verlangten die Studenten von mir, ich sollte ihnen das Rezept für die Revolution von morgen früh sagen. Weil ich dazu nicht in der Lage war, meinten sie, ich sei ein Verräter am Sozialismus. Ich musste tagelang mit ihnen diskutieren, um ihnen klarzumachen, dass es dieses Rezept nicht geben kann. Die Diskussionen in Frankfurt verliefen ähnlich. Ich hatte es in diesen Diskussionen leichter als Werner Hofmann, denn er kannte solche utopische Massenbewegungen nicht aus der Praxis, sondern nur aus der Theorie. Ich hingegen kannte sie aus eigener Erfahrung, aus dem Revolutionsprozess von 1918 und aus der Zeit nach 1923. In Marburg gelang es uns jedenfalls, mit den Studenten ins Gespräch zu kommen und sie zu rationalerem Verhalten zu bewegen. Festzuhalten ist, dass wir immer damit rechnen müssen, dass es in bestimmten Perioden zu utopischen, ultralinken Ausbrüchen kommt. Man muss aber wissen, dass auch in ihnen ein zu entwickelndes Moment enthalten ist, auf dessen Rationalität man insistieren muss."23
Im Unterschied zu WH und vor allem JH gebrauchte er in seinen kritischen Bemerkungen zur studentischen Revolte nie Begriffe und Formeln, die von der Gegenseite, dem autoritären, konservativen, aber auch dem liberalen Establishment begierig hätten aufgegriffen werden können, was leider mit nicht wenigen Ausdrücken aus den entsprechenden Schriften von WH und JH geschah.
So lässt sich resümieren, dass das Verhalten der aufbegehrenden und protestierenden Studierenden zwischen ca. 1965 und 1969/70 zu wichtigen Repräsentanten ihrer theoretisch-politischen Bildung, ihren "Ziehvätern", durchaus konfliktreich verlief; wobei es dabei deutliche Abstufungen und Unterschiede hinsichtlich der Intensität dieser Auseinandersetzungen zwischen den drei hier kurz vorgestellten Figuren in ihrem Verhalten gegenüber den Studierenden gab. Paradoxer- und ironischerweise stand dabei der älteste der drei (WA, geb. 1906) - gegenüber den beiden deutlich jüngeren (1922/WH und 1929/JH) Kollegen - den Studierenden in mancherlei Aspekten näher als diese. Dies mag nicht nur mit anderen praktisch-politischen Erfahrungen und theoretischen Zugängen zu sozialen Bewegungen zu tun haben, sondern auch mit persönlichen Sozialisationsprozessen und differierenden Persönlichkeitsstrukturen, aus denen ganz verschiedene Vorstellungen z.B. über die Stellung und Rolle eines "Ordinarius" ("ordentlicher Professor") an einer Universität resultierten. Die Glaubwürdigkeit von allgemein gebrauchten politischen Begriffen und Formeln (wie z.B. Demokratisierung, soziale Transformation der Gesellschaft, Abbau von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung etc.) im linken Lager war ziemlich auseinander weisend bei den hier wenigstens schlaglichtartig präsentierten "Mentoren" der Studierendenbewegung.
Anmerkungen
1) Eine deutliche Ausnahme gegenüber dieser allgemeinen Feststellung bildet die Studie von Lothar Peter über die "Marburger Schule", die innerhalb eines Abschnitts, der dem Vergleich der "Marburger" mit der "Frankfurter Schule" gewidmet ist, auch wichtige Ausführungen zu diesem Aspekt enthält. Siehe: Lothar Peter 2014: Marx an die Uni. Die "Marburger Schule". Geschichte, Probleme, Akteure, Köln: 84-89.
2) Mit vielen Kontinuitätsmomenten und personellen Verbindungen zur NS-Zeit!
3) Die internationalen Dimensionen der "68er-Revolte" müssen hier außen vor bleiben. Siehe dazu insbes.: Norbert Frei 2008: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München.
4) Im Nachhinein wird man diese These WHs stark relativieren müssen, da die Prämissen nicht zutreffen. In einer Zeit rasch wachsender Studierendenzahlen waren unter diesen immer geringere Teile Abkömmlinge eines gehobenen höheren Bildungsbürgertums, sondern stammten vielmehr zunehmend aus mittleren Angestellten- und Beamtenhaushalten, ja sogar - leicht steigend - aus höheren Arbeiterschichten. Diese sahen das Universitätsstudium und die damit verbundenen Berufs- und Einkommenschancen in dieser Zeit zu Recht eher als sozialen Aufstieg an.
5) Werner Hofmann (1969): "Zur Soziologie der Studentenrevolte", in: Ders. 1970: Abschied vom Bürgertum. Essays und Reden, Frankfurt/M.: 84f.
6) Ebenda: 89.
7) Ebenda: 90.
8) Siehe hierzu im Überblick: Andreas Keller 1999: "Hochschulreform und Studentenbewegung - Zur Aktualität von Werner Hofmanns hochschulpolitischen Schriften", in: Herbert Claas, u.a. (Hg.): Werner Hofmann. Gesellschaftslehre in praktischer Absicht, Marburg: 211-219.
9) Siehe: Werner Hofmann 1970: "Hochschule und Herrschaft", in: Ders.: Abschied vom Bürgertum, Frankfurt/M.: 53-75; hier: 74 und 63.
10) Diese beiden "Oberhäupter" der sog. "Frankfurter Schule" (oder "Kritischen Theorie") haben sich interessanterweise kaum schriftlich zur Studierendenbewegung geäußert; ihre überrascht-ablehnende Haltung - ganz im Unterschied zu ihrem früheren Weggefährten und ehemaligen Institutskollegen Herbert Marcuse - war aber kaum zu übersehen.
11) Jürgen Habermas 1968: "Die Scheinrevolution und ihre Kinder", in: Wolfgang Abendroth u.a.: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt/M.:5-15.
12) Siehe den in Anm.11 zitierten Sammelband.
13) Siehe ebenda: 5.
14) Vgl. z.B. Arnhelm Neusüss 1968: "Praxis und Theorie", in: Die Linke antwortet Habermas, a. a. O.:48-58.
15) Speziell hierzu kritisch: Klaus Dörner 1968: "Über den Gebrauch klinischer Begriffe in der politischen Diskussion", in: Die Linke antwortet Habermas, a. a. O.: 59-69.
16) Zitiert in: Florian Butollo u. a. 2008: "40 Jahre 1968. Die Rolle des SDS", Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2008: 49; man kann sich vorstellen, dass vor allem konservative und liberale Hochschullehrer und Publizisten etc. darüber frohlockten, dass sogar die "Verführer" (so die damalige Terminologie) der progressiven Studenten derart heftig mit ihnen zusammenstießen. Vgl. hierzu: Uta Stolle 1970: "Die Ursachen der Studentenbewegung im Urteil bürgerlicher Öffentlichkeit", in: Das Argument H. 58, 1970: 375-394; hier 389ff. - Es scheint im Nachhinein kurios zu sein, dass JH sich in späteren Stellungnahmen zum Ausdruck "linker Faschismus" in Bezug auf den SDS weitgehend davon distanziert hat ( Jürgen Habermas 1969: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/M.: 149f. sowie 151f), einer der damaligen Hauptprotagonisten der Bewegung aber, Daniel Cohn-Bendit später diesen, damals Empörung auslösenden Terminus gut geheißen hat (vgl. Redaktion Sozialismus, Supplement d. Zeitschrift Sozialismus 3/ 2001: 61).
17) Arnhelm Neusüss, a. a. O.: 57.
18) Wolfgang Abendroth 3 1981: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von B. Dietrich und J. Perels, Frankfurt/M.: 262.
19) "Diese Studentenbewegung entstand praktisch aus dem Nichts. Ich möchte unbedingt weitere Arbeiten zu diesem Problemkomplex anregen: Um die eigentlichen Ursachen für den Stimmungsumschwung breiter studentischer Schichten herausfinden zu können, sind noch viele eingehende sozialhistorische und sozialpsychologische Untersuchungen notwendig." Ebenda: 266.
20) Diese Tendenz führte langfristige und kurzfristige Implikationen mit sich: "Die Studentenzahlen wuchsen rasch an. Die ›unteren Mittelschichten‹, die nicht akademisch ausgebildeten Angestellten und Beamten, aber ebenso (wenn auch immer noch weit unterrepräsentiert) Teile der industriellen Arbeiterklasse stellten nun einen ständig erheblicheren Anteil an den Eltern der stetig steigenden Zahlen der Studenten, also soziale Gruppen, die nicht gleich selbstverständlicher Weise die früheren Formen der Ideologie des Obrigkeitsstaates und der Verachtung der Nichtakademiker auf ihre Kinder übertrugen, wie das für die bisherige Majorität der Eltern der Studenten charakteristisch gewesen war. Diese Tendenz der Veränderung lief mit einer Generationsgrenze parallel, die alle Studenten betraf. Diejenigen Studenten, die während der kurzen und im Westen Deutschlands bekanntlich normalerweise […] ergebnislosen Entnazifizierungsperiode ihrer Eltern […] erwachsen geworden waren, hatten das Totschweigen der Vergangenheit des deutschen Faschismus (und also die Thesen ihrer akademischen Lehrer) ruhig hingenommen […] Bei der jungen Generation, die seit Mitte der sechziger Jahre aufstieg, war das anders: Sie war auf die Vergangenheit des Dritten Reichs (wie sie die Schule und die Universitäten sorgfältig verschwiegen hatten) neugierig geworden, auch auf die Publikationen und das Verhalten ihrer Professoren in dieser Zeit. Und damit waren an den Hochschulen seit 1964/65 die ersten Konflikte eingeleitet." (Wolfgang Abendroth (ursprüngl. 1978): "Der Weg der Studenten zum Marxismus", in: Z 113, März 2018: 104 f.
21) Wolfgang Abendroth 1968: "Demokratisch-liberale oder revolutionär-sozialistische Kritik? Zum Konflikt zwischen der studentischen Opposition und Jürgen Habermas", in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, a. a. O.: 131-142; hier: 139.
22) Ebenda: 140.
23) Wolfgang Abendroth 3 1981: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, a. a. O.: 271f.
Dieter Boris war Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Marburg von 1972 bis 2008.