Erfundene Überlegenheit

Entstehung und Wandel der rassistischen Ideologie

Bereits seit der Antike gehen Herrschaft und die Abwertung von Menschengruppen Hand in Hand. Der moderne Rassismus systematisiert und radikalisiert dieses Prinzip. Für die rassifizierten Menschen bedeutet dies das Fortleben eines jahrhundertealten Traumas.

»Sehet mich nicht an, weil ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt.« Mit diesen Worten wehrt sich Shulamit im biblischen »Hohelied Salomos« gegen ihre Umgebung. Ihr selbstbewusster Appell »Ich bin schwarz, und gar lieblich …« zeigte offenbar Wirkung: Als Inschrift zierte er seit der romanischen Kunstepoche zahlreiche »schwarze Madonnen« und belegt, dass »Black is Beautiful« über Jahrhunderte hinweg Teil der europäischen Kulturen war. Das römische Reich und das Mittelalter produzierten wertschätzende Mosaike, Skulpturen, Heraldik und Gemälde von Menschen mit dunkler Hautfarbe. Rassismus ist kein historisches Schicksal. Und doch ist Shulamits Verteidigungsrede auch Zeugnis eines antiken Rassismus.

Viele Einführungen zum Thema beginnen dennoch erst im 15. Jahrhundert. Sie ordnen Rassismus und Antisemitismus als Phänomene der Moderne ein. Das historische Material widerlegt diesen Mythos. So hat etwa Benjamin Isaac in seinem Buch »The Invention of Racism in Classical Antiquity« herausgearbeitet, wie präsent Elemente des Rassismus in der Antike waren. Bereits in antiken Gesellschaften kannte man den ethnozentrischen Suprematismus der ‚Zivilisierten‘ gegenüber den ‚Barbarenvölkern‘, glaubte an den angeblichen Einfluss von Landschaft und Klima auf den Charakter und erklärte Menschen anhand äußerlicher Merkmale oder ihrer Herkunft zum Kollektiv. Dunkle Hautfarbe wurde beispielsweise mit Kot und Tod assoziiert. Exemplarisch in diesem Kontext ist Aristoteles Behauptung, dass Sklav*innen und bekriegte Gesellschaften zur Sklaverei geboren worden seien.

Rechtfertigung von Herrschaft

Der Kern des Rassismus lässt sich auch in der Adelsfantasie aufzeigen: Sie erklärt Herrschaft für erblich und überhöht den Herrschenden ästhetisch. Bei antiken und mittelalterlichen Texten spricht man in diesem Zusammenhang oft von »Protorassismus«. Ähnliche Inhalte in der Gegenwart würden wir als rassistisch einstufen.

Dabei ging es damals wie heute um die Rechtfertigung von Hierarchien und Herrschaft. So beantwortet der frühchristliche Gelehrte Origenes schon im 3. Jahrhundert die Frage, warum Gott Menschen im Elend der heidnischen ‚Barbarei‘ zu leben zwinge, wie folgt: Die Wiedergeburt der Menschen in ‚niederen‘ Gesellschaften sei durch ihre eigene Schuld im früheren Leben begründet. Die daraus entstehende Hybris der vermeintlich gottgefälligen Herrschenden gegenüber den gerecht gestraften Unterworfenen findet sich später im Calvinismus ebenso wie in der bürgerlichen Ideologie. Es war für das Christentum nur ein kleiner Schritt, vom Kainsmal der Bibel auf ganze, ‚gezeichnete‘ und durch schlechtere Lebensbedingungen von Gott ‚gestrafte‘ Gesellschaften zu schließen, die ihre Unterwerfung und Versklavung verdienten.

Auch außerhalb Europas finden sich vormoderne Ausprägungen des Rassismus. Der Hinduismus etwa brachte mit dem Kastensystem die Abwertungen dunkler Hautfarbe hervor. Die Sanskritologin Wendy Doniger schreibt in ihrem Buch »The Hindus«: »Britischer Rassismus […] konnte auf bereits bestehende hinduistische Ideen über dunkle und helle Haut aufspringen […] Die indische Kultur hat den Rassismus für sich selbst entworfen, bevor die Briten ihn gegen sie gerichtet haben.« Und im Islam wurden afrikanische Sklav*innen zu härterer Arbeit herangezogen. Deren seit 689 dokumentierten ‚Zanj‘-Aufstände wurden in Mesopotamien niedergeschlagen. Die Schmähwörter ‚Zanji‘ und ‚Abid‘ für Schwarze zeugen bis heute von rassistischer Diskriminierung im Islam.

Die Opfer sind schuld

Rassismus war als Legitimationsmodell für kollektivierende Herrschaft erfolgreich, weil er psychologische Muster anspricht, die überkulturell in früher Kindheit entstehen: pathische Projektion, verfolgende Unschuld, Kastrations- und Inzestphantasien sowie bösartiger Narzissmus. Daraus speist sich die überhistorische Stabilität von Hexereivorstellungen, Antisemitismus und des Rassismus gleichermaßen. Rassismus erlaubt Skrupellosigkeit ohne Empathie, Herrschaft ohne Gewissensbisse. Die narzisstisch kränkenden Schuldgefühle werden auf die Opfer projiziert: die Unterwerfung sei deren eigene Schuld und die Gewalt gegen sie eine gerechte Strafe. Der Rassist sieht sich als generöser Wohltäter. Die Notwendigkeit dieser Rationalisierung spricht dafür, dass Rassismus bewusste Lüge ist – nicht einfach nur Unwissen oder blanke Macht.

Zur verfolgenden Unschuld gehört die Projektion der fremden Übermacht. Im 13. Jahrhundert bezeichnet Walter von der Vogelweide in seinen Polemiken Papst Innozenz III. als Diener des »Höllenmohrs« und vollzieht damit eine ähnliche Dämonisierung wie im Antisemitismus. In Spanien folgten der Reconquista die Zwangstaufen von jüdischen und muslimischen Menschen. Doch die Taufe als Machtdemonstration konnte den Zweifel an der Loyalität der Konvertierten nicht beseitigen. So folgte die »limpieza de sangre« im Wesentlichen einem Verschwörungsdenken, das in den Bekehrten eine Bedrohung sah: Wer nicht »reinen Bluts« war, also keine altchristliche Abstammung nachweisen konnte, wurde von bestimmten Ämtern ausgeschlossen.

Christ*in sein, nichtjüdisch sein und weiß sein bildeten eine Einheit, die über Jahrhunderte gefestigt blieb. Damit verbunden sind Bilder, Sprache und Körpertechniken, mit denen Menschen anderer Hautfarbe unterworfen werden sollten. Bald ist das Stereotypenkabinett komplett. Etwa in Shakespeares »Othello«: Othello wird von seinen Feinden geschmäht als »geiler Mohr«, als »Ding« mit »rußigen Armen«, als böser Zauberer und als einer, der »hier und allenthalben ein Fremdling ist« und »allgemeinen Spott« auf sich ziehe. Sexualängste, Magie, Entmenschlichung, Dreck, Fremdheit und Gelächter – die Parallelen zu anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit sind eindeutig. Hexenprozesse, Antisemitismus, Antiziganismus und der Rassismus gegen Schwarze entstehen in Europa über Jahrhunderte hinweg als »Spektakel des Anderen« (Stuart Hall).

Es ist die Geburtsstunde des wissenschaftlichen Rassismus. In Folge der Aufklärung erfüllte diese neue Begründung für Rassismus eine legitimatorische Funktion: Wie kann die faktische Ungleichheit der Menschen gerechtfertigt werden, wenn eigentlich »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« gelten sollen? Die behauptete Minderwertigkeit Schwarzer rechtfertigte, dass diese weiterhin gewaltsam ausgegrenzt wurden.

In den Worten des Historikers George L. Mosse findet ein ständiges »Überwechseln von Wissenschaft zur Ästhetik« statt. Empirismus, Pietismus und Schönheitsideale der Klassik streben zu einer ästhetischen Gliederung der Gesellschaft. Nach dem Vorbild der Naturkunde entstanden Merkmalkataloge, die zur Klassifizierung von vermeintlichen ‚Rassen‘ aber auch zur Bestimmung von ‚Verbrechern‘ dienen sollte. Diese Rassentheorien führten sich immer wieder ad absurdum und einige Rassenforscher*innen verwarfen ihre Hypothesen angesichts der seriell scheiternden Beweisführungen. Letztlich verließ sich der Rassenantisemitismus selbst im Nationalsozialismus nicht mehr auf die rabulistische Bestimmungsliteratur der ‚Rassenkunde‘. Man kehrte stattdessen zu einem über tausend Jahre alten Mittel zurück, um den fantasierten Unterschied sichtbar zu machen: Den gelben Fleck, der Jüdinnen und Juden bereits von Kalif Umar II im Jahr 717 und von den Christen noch einmal im vierten Laterankonzil 1215 vorgeschrieben wurde.

Antisemitische Irrfahrten

Das Ende der Sklaverei bedeutet dabei keinesfalls ein Abflauen dieses »wissenschaftlichen Rassismus«, vielmehr radikalisiert er sich: In den USA entsteht eine Kultur des Terrorismus durch Ku-Klux-Klan, Lynchmobs und Institutionen, allen voran Polizei und Justiz. In seiner Rede »Black Power« entlarvt der US-amerikanische Bürgerrechtler Stokely Carmichael schließlich den Wandel vom individuellen zum institutionellen Rassismus.

Leider ist Carmichael auch ein prominentes Beispiel für eine andere, beunruhigende Entwicklung. In wirren Reden setzt er Zionismus und Nationalsozialismus gleich und wird zu einem der ersten, großen Agitatoren des »antirassistischen« Antisemitismus. Heute findet sich dieser »antirassistische« Antisemitismus in weiten Teilen der Universitätslandschaft der anglophonen Staaten. Die Staatsgründung Israels wurde hier erfolgreich zum weißen, rassistischen »Siedler-Kolonialismus« umgedeutet. Diese Geschichtsverfälschung entzieht Jüdinnen und Juden Empathie und untergräbt Solidarität. Während in der Nachkriegszeit der Zusammenhang zwischen Rassismus und Antisemitismus noch ausführlich thematisiert wurde (etwa bei Ernst Simmel, Frantz Fanon, León Poliakov), sind heute zwei voneinander getrennte Fächer entstanden, die tendenziell konkurrieren.

Dabei gleichen sich sogar die Abwehrstrategien der rassistischen und der antisemitischen Akteur*innen: Auch Rassismus gilt als vergangenes, von bereits verstorbenen Täter*innen begangenes Verbrechen. Heute gibt es nur noch vorgebliche Liberale, die sich ihre Sprache nicht verbieten lassen wollen. Mit gutem Recht lässt sich nicht nur vom »sekundären Antisemitismus«, sondern auch vom »sekundären Rassismus« sprechen: einem Schuldbewältigungsrassismus. Die ständige feuilletonistische Hinterfragung der »Aktualität« des Rassismus distanziert sich von den Opfern und wendet den Verdacht gegen sie: Erfinden sie etwa ihren Gegenstand?

Ein weiteres Element dieser Abwehrstrategie ist es, die antirassistische Kultur- und Sprachkritik zum überbordenden bürokratischen Regelwerk zu erklären. Cultural Appropriation, White Innocence, Silencing, Privilege, Whitewashing, Oversmiling, Credentialing – wer soll schon verstehen, was sich eine Elite überempfindlicher Akademiker*innen als nächstes ausdenkt. Dass die antirassistische Kritik dabei nur im Zeitraffer verdichten musste, was der Rassismus über ein Jahrtausend lang an Strategien und Stereotypen anhäufte, wird dabei ausgeblendet. Diese antirassistische Kritik wird dann von Weißen empört als Gesetz missverstanden und belustigt durch rechte Foren getrieben: Nun dürfe man an amerikanischen Universitäten als Weißer nicht einmal mehr Tacos essen oder Rastas tragen. Dabei fordert die Kritik nichts Anderes als Reflexion des eigenen situativen Verhaltens und auch der mikroaggressiven Überreaktionen der weißen Antirassist*innen, die den Schwarzen beweisen wollen, dass sie zu den Guten gehören. Ganz ähnlich wird auch die Kritik von codiertem und antiisraelischem Antisemitismus in Deutschland als »überempfindlich«, »kontraproduktiv« und »instrumentalisiert« abgewehrt. Und wie viele Jüdinnen und Juden haben sich auch viele Schwarze Aktivist*innen mittlerweile vom Versuch abgewandt, Rassist*innen aufzuklären.

Das Trauma besteht fort

Wer sich mit Rassismus befasst, stößt auf Müllhalden von Artefakten, Bilderwelten und gesellschaftlichen Praxen eines verinnerlichten Rassismus bei Menschen, die selbst dunkler Hautfarbe sind. Bis zu 40 Milliarden US-Dollar werden jährlich mit Produkten umgesetzt, die dunkle Haut heller machen sollen. In den Gerichten einiger afrikanischer Staaten tragen Richter*innen blonde Perücken, um ihre Autorität zu unterstreichen. Perücken auf afrikanischen Märkten sollen zumeist die natürlichen Haare unsichtbar machen. Wo der Rassismus so tief in die Psyche von Menschen eingegraben ist, dass sie sich selbst schädigen, zeigt er seine volle manipulative Gewalt. Kritik am Rassismus bedeutet daher für viele Aktivist*innen auch den Versuch der Heilung, um die geballte Negativität der geschichtlichen Gewalt mit positiven Gefühlen zu kontern. Das ist grundsätzlich vom esoterischen Charakter der Achtsamkeitsseminare für gestresste Manager*innen zu unterscheiden. Letztere sollen sich entspannter in ihrer Machtposition einrichten – die Unterdrückten hingegen wollen ihre Traumata abstreifen. Das ist auch deshalb notwendig, weil der Rassismus aufgrund des Ausmaßes der historischen Gewalt heute nur noch die Andeutung, den Code, die entfernteste Drohung benötigt, um Traumata zu aktualisieren.

Daher sind insbesondere nicht-weiße Kinder vor Rassismus in Kinderliteratur zu schützen. Unhinterfragt träumt Pippi Langstrumpf davon, ein Kind mit dunkler Hautfarbe zu besitzen, das ihr den Körper mit Schuhcreme einreibe, damit sie ebenfalls schwarz werde. Jim Knopf bekommt von der weißen Frau Waas das Waschen aufgenötigt. Das Marsupilami verprügelt afrikanische Krieger und Pygmäen tanzen wie naive Kinder um die vergötterten Weißen Spirou und Fantasio herum. Das kleine Gespenst verflucht sein Spiegelbild, das in seinem Schwarzsein »schrecklich«, wie ein »Scheusal« aussehe und weinend ersehnt es sich ein Mittel, das einen »hoffentlich« wieder weiß macht.

Diese festverankerten kulturellen Bilder von Schwarzen rechtfertigen und reproduzieren bestehende Unterdrückungsverhältnisse. Eine dunklere Hautfarbe zu haben, bedeutet in fast allen Ländern dieser Welt materielle Einkommenseinbußen, Probleme auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und schließlich auch Kriminalisierung durch die Polizei. Nur weil die »Angst vorm Schwarzen Mann« tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist, kann auch der rassistisch motivierte, tödliche Schuss juristisch als »Notwehr« entlastet werden. An dieser offen rassistischen Polizeigewalt entzündete sich im Jahr 2020 in den USA die Black Lives Matter-Bewegung. Als 2013, nach dem Tod des Teenagers Trayvon Martin und dem Freispruch seines Mörders, der Hashtag BlackLivesMatter das erste Mal bekannt wurde, war das ein weiterer Teil eines jahrhundertelangen Kampfes. »I can’t breathe« war 2014 schon einmal Parole, nachdem Eric Garner von einem Polizisten erwürgt wurde. Die New York Times machte Geschichten von 70 Menschen ausfindig, die in Polizeigewahrsam mit diesen Worten auf den Lippen starben. Das Martyrium George Floyds war somit eine kollektive Erfahrung. Der Rassismus lässt Menschen nicht atmen. Die würgenden Halseisen. Die Sklavenmasken. Der Gestank der Sklavenforts und -schiffe. Das Erhängen durch den Ku-Klux-Klan. Das Ersticken unter dem Knie des Polizisten.

Die Vorbereitung weißer Rechtsextremist*innen auf einen genozidalen ‚Rassenkrieg‘ im Zuge der Klimakrise und der zu erwartenden Massenflucht kann deshalb nicht ernst genug genommen werden – zumal die bürgerliche Mitte Europas eine Abschottungspolitik betreibt, die den Tod von Millionen jenseits der Grenzen kalt einkalkuliert. Dieser tödliche Rassismus ist nicht ‚wichtiger‘ als der kulturelle und institutionelle, er ist die Folge der Abtötung von Empathie durch rassistische Kultur. Black Lives Matter hat das erkannt und begreift Polizeigewalt als Teil einer rassistischen Alltagskultur, darunter vor allem Denkmäler, die Gewalt gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe glorifizieren. Die einzig legitime Frage an die Denkmalstürze ist: Warum haben Weiße das nicht schon längst getan?

 

Felix Riedel ist Ethnologe mit dem Schwerpunkt Gewaltanthropologie und freiberuflicher Referent für politische Bildung.