Richtung Kanaky

Ein Referendum entscheidet über die Souveränität Neukaledoniens

Neukaledonien ist nominell eine französische Überseegemeinschaft mit besonderem Status (collectivité sui generis). Am 4. Oktober 2020 werden die Neukaledonier*innen zum zweiten Mal zu ihren Unabhängigkeitswünschen befragt. Dies ist das Ergebnis eines Dekolonisierungsprozesses, der von der lokalen Bevölkerung und der Kolonialmacht Frankreich vor mehr als 30 Jahren angestoßen wurde. Dennoch bleiben die wirtschaftlichen und strategischen Interessen Frankreichs um die Inselgruppe im Südpazifik groß.

»Als Frankreich am 24. September 1853 die Grande Terre, die James Cook ‚Neukaledonien‘ genannt hatte, in Besitz nahm, eignete sie sich ein Territorium nach den damals von den Nationen Europas und Amerikas anerkannten völkerrechtlichen Bedingungen an, sie knüpfte keine Rechtsbeziehung mit der einheimischen Bevölkerung. Die Verträge, die 1854 und in den folgenden Jahren mit den traditionellen Führern geschlossen wurden, waren keine ausgewogenen Vereinbarungen, sondern in Wirklichkeit einseitige Akte.

Nun aber war das Gebiet nicht leer.

Grande Terre und die Inseln waren von Männern und Frauen bewohnt, die KANAK genannt wurden. Sie hatten ihre eigene Zivilisation entwickelt, mit ihren Traditionen, Sprachen und Bräuchen, die den sozialen und politischen Bereich organisierten. (…)

Die Kanaken wurden an den geographischen, wirtschaftlichen und politischen Rand ihres eigenen Landes zurückgedrängt, was nur Aufstände eines stolzen Volkes, das nicht frei von kriegerischen Traditionen war, provozieren konnte, was zu gewaltsamer Niederschlagung führte, die Ressentiments und Missverständnisse verschärften.

Die Kolonisierung hat die Würde des kanakischen Volkes beeinträchtigt und seiner Identität beraubt. Männer und Frauen haben in dieser Konfrontation ihr Leben oder ihre Daseinsberechtigung verloren.«

 

So lautet die Präambel des Abkommens von Nouméa, das der französische Premierminister Lionel Jospin sowie Vertreter*innen politischer Parteien 1998 in der neukaledonischen Hauptstadt unterzeichneten. Damit erkannten sie die Unrechtmäßigkeit des Kolonisierungsaktes an, durch welchen die Inselgruppe im Südpazifik 1853 in französischen Besitz kam – auch wenn sie sich von Paris aus gesehen am anderen Ende der Welt befindet. Das Gebiet wurde zuerst Strafkolonie für Verurteilte aus der französischen Metropole und den französischen Kolonien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden große Nickelvorkommen entdeckt, was westliche Kapitalgeber und asiatische Arbeitskräfte nach Neukaledonien brachte. Daraus resultiert eine sehr gemischte Bevölkerung: Bei der Volkszählung 2014 bezeichneten sich 40 Prozent der circa 265.000 Einwohner*innen als Kanaken (melanesische Ureinwohner*innen), 27 Prozent als Europäer*innen, neun Prozent als »Kaledonier*innen«, neun Prozent als »Metis« (Menschen gemischter Ethnien), acht Prozent als Wallisianer*innen und Futunianer*innen, die massenhaft nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten, und drei Prozent als Angehörige verschiedener asiatischer Gruppen.

Aus Sicht der Unterzeichnenden des Nouméa-Abkommens werden all die unterschiedlichen Einwohner*innen durch ihre Teilhabe am Aufbau von Neukaledonien als legitim und wichtig für die Entwicklung wahrgenommen. Sie betonen aber, dass die Anerkennung und die Beachtung der kanakischen Identität mit ihrem besonderen Verhältnis zum Land notwendig ist. Die Dekolonisierung sei auch dazu gedacht, eine dauerhafte Verbindung zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften zu etablieren.

Übertragung von Kompetenzen

Neben dieser symbolischen Anerkennung hatte das Abkommen von Nouméa auch konkrete Folgen und beschleunigte den Prozess in Richtung Autonomie. Es war der Rahmen für die Beziehungen zwischen Neukaledonien und Frankreich für die folgenden zwanzig Jahre bis 2018. Es regelte die Übertragung von Kompetenzen auf lokaler Ebene wie beispielsweise die Verantwortung für die Grundschulen, das Arbeitsrecht und den Außenhandel. Das Abkommen sieht vor, dass die Bevölkerung nach zwanzig Jahren über die Übertragung von hoheitlichen Zuständigkeiten (Justiz, öffentliche Ordnung, Verteidigung, Währung und auswärtige Angelegenheiten), zur vollen internationalen Anerkennung und zur Staatsbürgerschaft befragt wird. Neukaledonien könnte dann »Kanaky« werden.

Deshalb wurde im November 2018 ein erstes Referendum organisiert, bei welchem die Neukaledonier*innen1 folgende Frage beantworten sollten: »Wollen Sie, dass Neukaledonien volle Souveränität erlangt und unabhängig wird?« Damals nahmen mehr als 80 Prozent der registrierten Wähler*innen am Referendum teil – 56,7 Prozent stimmten dagegen. Somit war der Sieg der an Frankreich orientierten »Loyalist*innen« zwar deutlich, aber schwächer als die Prognosen erwarten ließen, die zwischen 63 und 75 Prozent der Stimmen erwartet hatten. Wie vom Nouméa-Abkommen vorgesehen, wird dieses Jahr ein zweites Referendum organisiert, das aufgrund der Corona-Pandemie auf den 4. Oktober verschoben wurde. Sollte wieder mit »Nein« gestimmt werden, wird 2022 ein drittes und letztes Referendum stattfinden.

Das »kanakische Wiedererwachen«

Der Ursprung des aktuellen Prozesses und des Nouméa-Abkommens liegt im »kanakischen Wiedererwachen« (réveil kanak) der 1970er Jahre. Glanzpunkt war das Festival melanesischer Kunst »Mélanésia 2000«, das 1975 in der Hauptstadt Nouméa stattfand. Das Ziel der Veranstaltung war explizit politisch, wie der Organisator Jean-Marie Tjibaou beim Festival sagte: »Wir wollen Mélanésia 2000 so gestalten, dass die Kinder wissen, dass es in diesem Land eine Kultur gibt. Dass unsere europäischen Freunde, die hier sind, wissen, dass wir auch Menschen mit einer Kultur sind. Diese Kultur müssen wir zeigen. Wenn wir sie nicht zeigen, denken sie, dass wir nicht existieren.« Mélanésia 2000 setzte mit der Definition einer kanakischen Identität eine beispiellose Dynamik in Gang, die für die Zukunft entscheidend sein wird. Auf Geheiß von Jean-Marie Tjibaou wurde beispielsweise Neukaledonien 1986 wieder in die Liste der zu dekolonisierenden Länder der Vereinten Nationen aufgenommen.

Kurz davor wurde die separatistische Front (Front indépendantiste) 1979 gegründet und später durch die Kanakisch-sozialistische Front der nationalen Befreiung (Front de libération nationale kanak et socialiste, FNLKS) 1984 ersetzt – mit Tjibaou an ihrer Spitze. Der Konflikt zwischen Kanaken und Caldoches (Neukaledonier*innen europäischer Herkunft) fand einen Höhepunkt in den 1980er Jahren mit den sogenannten »Ereignissen« (Evénements). Die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gipfelten 1988 in der Geiselnahme von Ouvéa: Militante Separatist*innen griffen einen Posten der Gendarmerie an; vier Polizisten wurden dabei erschossen und 27 als Geiseln genommen. Bei der Befreiung der Geiseln starben 19 Geiselnehmer sowie zwei Einsatzkräfte der Spezialverbände. Die Kämpfe schockierten die Öffentlichkeit und es war von einem Massaker die Rede, doch die genauen Umstände blieben unklar. Alle Involvierten wurden durch das Abkommen von Matignon amnestiert, das 1988 von Loyalisten und Separatisten in Paris unterzeichnet wurde. Damit begann der offizielle Autonomieprozess in Neukaledonien, der 1998 mit dem Nouméa-Abkommen fortgesetzt wurde, aber auch fatale Folgen hatte: Elf Monate später wurde Tjibaou von einem Separatisten ermordet.

Französische Interessen in Neukaledonien

Dieser Prozess, der zu einer gewaltlosen Dekolonisierung führen könnte, ist beispiellos in der französischen Geschichte. Dennoch bleiben Frankreichs Interessen in Neukaledonien präsent. Auch wenn sich die französische Regierung offiziell nicht in die Wahl einmischen will, sagte Präsident Emmanuel Macron im Mai 2018 in Nouméa: »Frankreich wäre nicht dasselbe ohne Neukaledonien.« Tatsächlich würde Frankreich ohne Neukaledonien etwa ein Viertel der weltweiten Nickelreserven nicht mehr zur Verfügung stehen. Frankreich ist weltweit fünftgrößter Nickelproduzent, das Erz wird zur Weiterverarbeitung von Edelstahl benötigt. Der Verlust Neukaledoniens würde außerdem den Wegfall der riesigen »ausschließlichen Wirtschaftszone« im südlichen Pazifik bedeuten – also das neukaledonische maritime Hoheitsgebiet jenseits des Küstenmeeres. Mit 1,4 Millionen Quadratkilometern ist diese Zone halb so groß wie das Mittelmeer, sie verfügt über ein immenses wirtschaftliches Potenzial durch Fischerei, erneuerbare Meeresenergie, Bergbaureserven und Mikroalgen.

Mit der Unabhängigkeit Neukaledoniens würde Frankreich also zwölf Prozent seiner ausschließlichen Wirtschaftszone und fast drei Prozent seines Territoriums verlieren – und auch einen strategischen Standort im Pazifik. Seit dem Brexit ist Frankreich dort das letzte EU-Land mit einer Präsenz, was für den Aufbau der von Macron gewünschten »Indopazifik-Achse« eine zentrale Rolle spielt.

Anmerkung

1   Da die Unabhängigkeit des Landes von dem Referendum abhängt, ist die Definition der Wählerschaft eine zentrale Frage. Gemäß dem Nouméa-Abkommen wurde eine Wählerliste eigens für das Referendum geschaffen. Sie schließt circa 35.000 Menschen von der Wahl aus – vor allem Europäer*innen, die erst nach 1994 in Neukaledonien angekommen sind.