Die ganz normale Gewalt

Polizeigewalt ist keine Ausnahme

Im Lauf der letzten Jahren hat es vermehrt Debatten um (rassistische) Polizeigewalt gegeben. Während in den USA im Zuge der Black Lives Matter Bewegung zumindest die Forderung »Defund the Police« aufkam, bleibt es hierzulande meist bei der Rede vom »Einzelfall«. Dass die Polizei Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses ist, wird wenig beachtet.

von Eric von Dömming

Unbestritten machen Zwang und Gewalt ein zentrales Merkmal, wenn nicht den Kern polizeilichen Handelns aus. Der Polizei kommt als Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols die Aufgabe zu, staatliche Zwecke notfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Doch wovon reden wir dann, wenn wir Polizeigewalt kritisieren? Eine klassische bürgerliche Kritik an Polizeigewalt versteht darunter gesetzeswidrige Übergriffe durch die Polizei. Sie akzeptiert als Grundannahme, dass die Polizei mit der Ausübung des Gewaltmonopols betraut und deshalb rechtlich legitimiert ist, Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen anzuwenden. Dagegen stehen Kritiken, welche auch die rechtmäßige Ausübung von Gewalt durch die Polizei problematisieren und infrage stellen, ob eine trennscharfe Abgrenzung zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Polizeigewalt überhaupt möglich ist.

In seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« unterscheidet Walter Benjamin zwei Arten der Rechtsgewalt: eine rechtsetzende, die das Recht überhaupt erst konstituiert und eine rechtserhaltende, welche die rechtliche Ordnung aufrechterhalten soll. In einem normalen rechtsstaatlichen Verständnis würde man die Polizei der rechtserhaltenden Gewalt zuschlagen. Sie soll nicht neues Recht setzen, sondern als vollziehende Gewalt streng an Gesetz und Recht gebunden sein. Für Benjamin stellt sich aber die Frage, ob die Dinge wirklich so einfach liegen. Weil die Polizei Sicherheit und Ordnung auch dort garantieren soll, wo die Rechtsordnung keine konkreten Vorgaben macht, lassen sich die Handlungsformen der Polizei nur begrenzt und in allgemeinen Bestimmungen durch den Gesetzgeber antizipieren. Gefahrenlagen können ausgesprochen vielgestaltig sein. Gesetze zeichnen sich zudem auch grundsätzlich dadurch aus, dass sie allgemein und abstrakt formuliert sind. Bei ihrer Anwendung muss die Polizei auf der einen Seite das Gesetz und auf der anderen die Wirklichkeit interpretieren.1

Das Handeln der Polizei ist also nie vollständig gesetzlich vorbestimmt, sondern beinhaltet immer einen gewissen Spielraum. Liberale Rechtsstaaten versuchen, diesen Spielraum zu reduzieren und die Polizei möglichst weitgehend ans Gesetz zu binden. Dafür werden Gesetze möglichst bestimmt formuliert und die Polizei wird weitreichenden Limitierungen und Kontrollen unterworfen. Dennoch verbleibt immer ein Grenzbereich, in dem die Polizei selbst Recht auslegt und fortentwickelt, indem sie es praktisch konkretisiert.

Wie nutzt die Polizei diese Spielräume? Welche Zwecke setzt die Polizei oder anders gefragt: Was ist die Policy der Polizei? Die Debatten der letzten Monate, auf welche die anderen Beiträge in dieser Ausgabe ein Schlaglicht werfen, lassen diesbezüglich wenig Gutes erwarten: Seien es rassistische Tötungen von Personen of Color in den USA (Seite 35) und anderen westlichen Ländern, sexualisierte Gewalt durch Polizisten in Indien (Seite 27) oder illegale Pushbacks (Seite 38) an der europäischen Außengrenze – polizeiliche Gewalt verbindet sich regelmäßig mit Rassismen, patriarchalen Strukturen und anderen Herrschaftsideologien. Woran liegt es, dass die Polizei auch in Ländern, die sich Freiheit und Gleichheit auf die Fahnen geschrieben haben, immer wieder in solche reaktionären Muster zurückfällt?

Sicherheit als bürgerliche Vorstellung

Die Funktion der Polizei ist eng verknüpft mit einem spezifischen Verständnis von Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Sicherheit bedeutet demnach vor allem Sicherheit für die eigene Person, die eigenen Rechte und das eigene Eigentum – in Abgrenzung zu den anderen. Dem britischen Sozialphilosophen Mark Neocleous zufolge ist Sicherheit das zentrale Paradigma liberaler Theorie. Freiheit lasse sich in ihr nur vor der Folie der Sicherheit begreifen und sei mit dieser untrennbar verknüpft. Für die bürgerliche Ideologie ist ohne gewaltsam durchgesetzte Sicherheit nicht vorstellbar, wie sich individuelle Freiheit verwirklichen soll. Deshalb wird individuelle Sicherheit in der bürgerlichen Ideologie zum zentralen Wert und dient als Rechtfertigung der Produktion von Ordnung durch Disziplinieren und Strafen.2

Das ist nur folgerichtig, wenn man mit Marx die in den Menschenrechten festgehaltenen bürgerlichen Freiheiten als Ausdruck der Entfremdung der Menschen voneinander versteht. Freiheit besteht in dieser Vorstellung von Gesellschaft nur als negative Freiheit gegen die anderen, ebenso wie das Privateigentum die eigene Einflusssphäre vor dem Zugriff der anderen schützen soll und Gleichheit nur die abstrakte Gleichheit als isolierte, auf sich gestellte Subjekte meint. Abgesichert wird dieser Zustand durch die Polizei: »Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.«3 Die Zentralstellung der Sicherheit zieht sich durch die politische Ideengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, von Hobbes‘ Leviathan, welcher die individuelle Sicherheit zur zentralen Rechtfertigung des staatlichen Gewaltmonopols erhebt, bis zur Aussage des ehemaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich, dass Sicherheit ein »Supergrundrecht« darstelle.

Dazu passt es, dass die Polizei immer schon – in unterschiedlichem Grad und unterschiedlich offen oder verdeckt – auch dazu gedient hat, ökonomische Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft durchzusetzen. Dies geschieht nicht zuletzt auch unter Rückgriff auf rechtliche Normen, welche die bürgerliche Eigentumsordnung und Produktionsweise schützen sollen. Prägnant zeigt sich dies an der historischen Durchsetzung der Lohnarbeit als gesellschaftlichem Normalzustand, die besonders auf die Kriminalisierung von Armut angewiesen war. Die Verfolgung der Landstreicherei und Zwangseinweisung der Armen in Arbeitshäuser war lange Zeit eine vor allem im nördlichen Europa und Nordamerika verbreitete Praxis. Bis heute kriminalisiert beispielsweise in England und Wales der »Vagrancy Act« von 1824 Verhaltensweisen wie Betteln oder das Schlafen im öffentlichen Raum.4 Durch diese Kriminalisierung wird Armut zu einer Kategorie der Abweichung von der herzustellenden Ordnung und zu einer Polizeiangelegenheit.

Veränderungen in der Struktur der Institution Polizei ändern an ihrer prinzipiellen Funktion nur wenig. Zwar unterscheidet sich unser heutiges Bild der Polizei von einem historischen: Heute verstehen wir sie primär als Vollzugspolizei, die sich mit der Strafverfolgung und der Bewältigung akuter Gefahrenlagen beschäftigt. Ein historisches, weites Verständnis der Polizei begreift sie als Instanz zur Herstellung von Sicherheit und Ordnung im Allgemeinen, also auch in Bereichen, die wir heute anderen Verwaltungsbehörden übertragen haben (Bauaufsichtsbehörde statt Baupolizei, Ausländerbehörde statt Fremdenpolizei, und so weiter). Dennoch haben die institutionellen Veränderungen der Polizei nicht ihre grundsätzliche Funktion aufgehoben: die Schaffung von Sicherheit und Ordnung.5

Unabhängig davon, ob sie ihre Spielräume mehr oder weniger nutzt, setzt die Polizei regelmäßig hegemoniale Vorstellungen durch. Entweder weil sie selbst Entscheidungen trifft, die aus ihrer Perspektive dem entsprechen, was gesellschaftlich als normal, akzeptabel, richtig oder gerecht gilt oder weil sie Gesetze umsetzt, die dem entsprechen, was sich in der politischen Aushandlung durchsetzen konnte. Sie (re)produziert also in ihrer Praxis permanent bewusst und unbewusst herrschende Vorstellungen von Sicherheit und Ordnung. Besonders auffällig zeigt sich das an Phänomenen wie dem »Verbringungsgewahrsam« für Obdachlose oder Drogensüchtige (also deren Gewahrsamnahme und Aussetzung am Stadtrand), rassistischen Kontrollpraxen, die Personen of Color als ein gefährliches Anderes konstruieren oder der Markierung von urbanen Räumen als »Gefahrengebiete«. Polizist*innen entscheiden nicht ohne Kontext, wer kontrolliert wird, wer eine Gefahr für sich oder andere darstellt oder wem gegenüber man streng oder nachsichtig auftritt. Wie alle anderen Menschen deuten auch sie die Welt aus ihrer spezifischen Perspektive.

Rassismus als gesellschaftliche Normalität

Dabei spielen Selbstbild und Sozialstruktur der Polizei eine wichtige Rolle. Schaut man nach Deutschland, sind Polizist*innen hier nicht nur in Hinblick auf Besoldung und Bildungshintergrund klar der Mittelschicht zuzuordnen, was ihre Weltsicht prägt. Darüber hinaus ist auch der Anteil an Personen aus Einwandererfamilien in der deutschen Polizei, mit Ausnahme der Landespolizeien in Berlin und Sachsen-Anhalt, immer noch deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung.6 Zudem sind lediglich 29,3 Prozent der deutschen Polizist*innen Frauen.7

Geht man davon aus, dass sich die Polizei kongruent zu gesellschaftlich hegemonialen Vorstellungen verhält, würde dies auch in Hinblick auf den (jedenfalls in westlichen Ländern) kaum zu bestreitenden Rassismus in der Polizei vieles erklären. Es stellt sich dann nämlich die Frage, ob wir polizeilichen Rassismus als ein spezifisches Polizeiproblem behandeln sollten. Das versperrt uns möglicherweise den Blick darauf, dass die Polizei weniger eine besonders reaktionäre Ausnahme vom gesellschaftlichen Normalzustand sein könnte als vielmehr ein Ausdruck gesellschaftlicher Normalität.

Kern des Problems wäre dann nicht, dass die Polizei rassistischer ist als die Gesellschaft, sondern dass sich Rassismus bei der Polizei mit legal ausgeübten Gewaltmitteln und weiten legalen Handlungsspielräumen für ihre Anwendung verbindet. Das Problem sind nicht nur die vielen Fälle offenen Rassismus, die insbesondere in den letzten Monaten an die Öffentlichkeit gelangt sind, wie beispielweise rassistische Chatgruppen, oder das behördliche Versagen rund um den sogenannten »NSU 2.0«. Rassismus zeigt sich auch in subtileren – aber auch deutlich alltäglicheren – Praktiken, insbesondere dem sogenannten »Racial Profiling«, bei dem Personen of Color nach rassistischen Merkmalen verdächtigt und kriminalisiert werden.

Dabei ist die Feststellung zentral, dass es sich bei Rassismus nicht bloß um eine bewusste Vorstellung handelt, sondern dass unsere Gesellschaft von impliziten rassistischen Annahmen durchzogen ist. Rassismus ist nicht nur die Sache einiger weniger Rassist*innen, sondern eine auf oft unreflektierten Kategorisierungen und Einteilungen aufbauende Herrschaftsform, die oft genug hinter einer Ideologie angeblicher Farbenblindheit unsichtbar gemacht wird. Diese unbewussten Denkweisen betreffen alle, die in einer solchen von Rassismen geprägten Gesellschaft sozialisiert worden sind. Es ist demnach nur folgerichtig, dass sie das Weltbild von Polizeibeamt*innen ebenso prägt, wie das der Bevölkerung im Allgemeinen.

Absicherung der Hegemonie

Nicht nur ethnisierende Einstellungen durchziehen in impliziter Form die Gesellschaft. Dem Polizeiwissenschaftler Rafael Behr zufolge sind Männlichkeitskonstruktionen die hegemoniale Position in der Polizei, die sich dort in verschiedenen Typen ausdrückt. Vorherrschend sei dabei noch immer eine »Krieger-Männlichkeit«, die von einer manichäischen Logik des Kampfes und dem Denken in Freund-Feind-Schemata geprägt ist und mit anderen Männlichkeitsformen wie etwa einer »Schutz-Männlichkeit« konkurriert.8 Weiblichkeit in der Polizei werde dagegen noch immer als Abweichung von einer männlichen Norm verstanden. Frauen können sich demnach an männliche Rollenerwartungen anpassen (Härte, Leistung, Dominanz) oder aber sie bleiben auf eine weibliche Rollenzuordnung und die damit verbundene Zuschreibung eines polizeiinternen Minderheitenstatus beschränkt.9

Auch der polizeiliche Umgang mit Abweichungen von einer binären Geschlechterordnung müsste in diesem Kontext näher betrachtet werden. In den USA zeigen Studien, dass insbesondere Personen, deren Geschlechtsidentität transgender oder nichtbinär ist, besonders häufig diskriminierendes Verhalten durch die Polizei erleben. Die Diskriminierungen reichen von einem aggressiven Auftreten und verbalen Anfeindungen bis hin zu physischen Übergriffen oder der unzureichenden Gewährung von Schutz für LGBTIQ-Personen.10

Angesichts ihrer Funktion ist es also weder überraschend, dass die Polizei Gewalt anwendet, noch, dass sie häufig – bewusst oder unbewusst – hegemoniale Vorstellungen reproduziert. Rassismus, anachronistische Männlichkeitsvorstellungen und Polizeigewalt sind nicht als das Andere der Gesellschaft zu begreifen, sondern der Ausdruck einer von der Polizei mit Gewalt abgesicherten Gesellschaftsordnung, zu deren konstitutiven Bedingungen diese Herrschaftsmechanismen gehören.

Besonders belastend ist das für diejenigen, die diese Gewalt erfahren müssen. Deshalb ist es auch so problematisch, wenn Polizeivertreter*innen oder eine sie verteidigende Politik sich reflexhaft weigern, polizeiliches Handeln einem Rechtfertigungsdruck zu unterwerfen. Die kritische Diskussion und Reflexion polizeilichen Handelns, insbesondere durch die Polizei selbst, wäre Ausdruck eines Mindestmaßes an Respekt gegenüber denen, die – sei es legal oder illegal – staatliche Gewalt erfahren haben.

Anmerkungen

1        Walter Benjamin: Kritik der Gewalt, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1991, 189

2        Mark Neocleous: Security and Police, in: Bonefeld/O’Kane/Best (Hg.): SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory, Vol. 2, 2018, 886-7

3        MEW 1, 365-6

4        Vgl. hierzu Neocleous, a.a.O., 895-6

5        Ebd., 893-5

6        https://mediendienst-integration.de/artikel/die-polizei-wird-vielfaeltiger.html

7        https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/09/PD20_N057_742.html

8        Rafael Behr: Maskulinität in der Polizei: Was Cop Culture mit Männlichkeit zu tun hat. Ein Essay, in: juridikum 4/2017, 543-5

9        Rafael Behr: Polizeikultur. Routinen, Rituale, Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, 2006, 106-7

10      Zusammenfassend m.w.N. Christy Mallory/Amira Hasenbush/Brad Sears: Discrimination and Harassment by Law Enforcement Officers in the LGBT Community, 201