Stefan Heyms Stalinallee-Roman

in (23.05.2014)

Von den Verbrechen, die unter Stalin begangen wurden, von den vielen Opfern des Stalinismus weiß man inzwischen – »Zahlreiche völlig unschuldige Menschen, die in der Vergangenheit die Parteilinie stets verteidigt hatten, wurden zu Opfern … Massenverhaftungen und Deportationen vieler Tausender Menschen, Hinrichtungen ohne ordentlichen Prozess und ohne normale Untersuchungen schufen Unsicherheit, Furcht und oft sogar Verzweiflung« zitiert Stefan Heym aus Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag (2002, 328). Es wird nicht weniger ungeheuerlich, wenn man die von den deutschen Faschisten an Russen begangenen Morde dagegen hält. Es lässt sich nichts aufwiegen. Gleichwohl müssen wir begreifen, was im Namen des Sozialismus geschah, wollen wir weiter ein sozialistisches Projekt für notwendend halten. Einer der Wegbereiter in der Aufarbeitung von Vergangenheit ist Stefan Heym. Er hebt auf, gibt zu bedenken, zeigt. Was nur Dichtung kann: er nähert sich der Frage, wenn auch fiktiv, vom Leben der Menschen her, der gewöhnlichen, die am Aufbau des Sozialismus mitmachen, der Oberen, die Leitende waren, der Begeisterten, der mittleren Funktionäre, der Bauarbeiter. So wird Stalinismus lebendig, geht aus einem Wort ins Alltagsleben mit Folgen, die mit Stalins Tod nicht gestorben sind.

In dem Roman Die Architekten (geschrieben zwischen 1963 und 66, erst 2000 von ihm veröffentlicht – hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe von 2002) organisiert Heym historisches Material und Gedanken vielfältig um den Titelbegriff. Architekten, das sind die Erbauer des Sozialismus ebenso wie die der Stalinallee; das sind alle diejenigen, die für die Ewigkeit in Stein bringen, was erhofft war, was bleibt. In der Architektur muss auch erkennbar werden, was Sozialismus meint. Beim Anblick der halbfertigen Straße des Weltfriedens, die für die Stalinallee stehen kann, lässt Heym den positiven Helden des Romans, den Architekten Daniel urteilen: »Heuchelei in Beton und Ziegeln« (131). Das ist nicht die gesamte Botschaft des Romans, nicht einmal die zentrale. Heym zeigt den Aufbauprozess als Entwicklung, nicht einfach als Diktat von oben. Da sind die vielen, die mitmachen, aber nicht nur als ›Mitläufer‹, sondern als selbst engagiert Handelnde, Beteiligte am Aufbau eben. Wenn der Roman auf eine Aussage verdichtet werden sollte, wäre es die des Verrats. Zentrales Thema ist der Verrat, verübt an anderen, an der Idee des Sozialismus und also an sich selbst, wie er vom Standpunkt eines Sozialisten, ja Kommunisten sich darstellt. Dessen Urteil hat das entscheidende Gewicht, denn er ist die Stimme der Zukunft eines sozialistischen Projekts, falls es eine haben kann. So entsteht ein Bild von Stalinismus als Machwerk von vielen. Im Roman ist es möglich, doppelbödige Entwicklungsprozesse nachzuzeichnen.

Das zweite Kapitel beginnt mit der Darstellung eines Festes. Es herrscht eine Atmosphäre der Beklemmung. Irgendwie ist alles falsch. Das Fest gilt der Verleihung des Nationalpreises, den, Gerüchten zufolge, der Architekt der Straße des Weltfriedens erhalten soll. Die Reden sind nichtssagend, die Personen belauern einander. »Es war, als vollführten sie alle eine Art Ritual« mit »Worten, deren innere Bedeutung sich längst verloren hatte« (62). Die Worte haben jetzt eine Art höhnischen Subtext und blamieren sich schon beim Aussprechen. Das gilt nicht nur dem Weltfrieden, sondern vor allem dem Kollektiv. Soll es in der Ehrung inbegriffen sein? Und sind sie überhaupt eines, zweifelt Julia, Architektin im Kollektiv der Erbauer der Weltfriedensstraße. Was haben sie selber getan? »Angepappte Kapitälchen und Simse an den Balkonen, die keiner betreten, den ganzen Pomp, den keiner benutzen konnte« (153). Dazwischen zieht Vergangenheit herauf: Der Delegierte aus der Sowjetunion ist »einer von denen«. Noch lässt Heym die Lesenden im Dunkeln, überlässt sie ihren Vorurteilen. Stück um Stück kommt unter der Decke des Ungesprochenen hervor, dass die jetzt zurückkommen – aus den Straflagern. Wohin mit denen? – Wären sie doch gestorben! In der Störung meldet sich ahnungsvoll ein anderer Zweifel: Und wenn sie nun allesamt unschuldig gewesen wären? Um die Hauptpersonen des Dramas, die junge Architektin Julia, das Kind, das der leitende Architekt Arnold Sundstrom für den Freund, auch er kommunistischer Architekt, den sie »abgeholt haben, aufnahm und großzog, dann hat er sie geheiratet« – sie ist strahlend schön, sie ist an seiner Seite (noch – spotten die Jüngeren) – zieht sich etwas zusammen, man spürt es beim Lesen in der Magengrube.

Heym hat den Rahmen für dieses Fest früh woanders gesetzt: auf den Transport zurück aus der SU, von wo sie den störrischen Kommunisten, der seine Beteiligung bei einem Verrat am Sozialismus nicht gestehen will, zurück ins Deutsche Reich schicken. Sollen die Faschisten sehen, was sie mit einem Kommunisten anfangen. Quälend lässt Heym die Qual des kommunistischen Architekten immer wieder erleben – eine, in der so viele umkamen, auch seine Frau verhungerte –, dass sie immer das Gleiche fragen, Tag und Nacht, sich abwechseln stumpf, wieso er das gleiche Telegramm über den Tod seines Vaters zweimal bekam, es musste ein Code sein und dabei immer wieder das Geräusch des metallenen Lineals, peitschend auf Holz. Man erfährt, dass, was über Leben und Tod entscheidet, nur ein kleiner Mechanismus von Dummheit, Grausamkeit und Mittelmaß ist. Und in all dem der Zweifel: Sind dies noch die Revolution und der Sozialismus, durchquert von der Hoffnung, ein Brief an Stalin würde alles ins Richtige bringen. Und dann die bange Ahnung, dass es vielleicht schon die Konterrevolution sei. Nicht die Faschisten, die an der Grenze warten, sind der äußerste Schrecken, sondern dass er dies alles den Genossen in den Lagern drüben im Deutschen Reich nicht wird sagen können, um ihre Hoffnung nicht zu zerbrechen. Fast erleichtert erkennt er die einzige Lösung – sich vor der Ankunft das Leben zu nehmen.

So zeichnet Heym Stalinismus auch als Macht in Händen von Leuten, die selber nur Rädchen in einem Getriebe sind, das längst den sozialistischen Geist aufgegeben hat – aber darin und als größter Schrecken die Hoffnungslosigkeit, weil das Projekt, das so viele Helden brauchte und diese auch fand, selbst unmenschlich verlorenging. Die Verhörenden sind nicht einfach sadistisch und schlecht – sie sind mittelmäßig und ohne jeden Funken Menschlichkeit oder Verstand. Sieg des dummen Funktionierens.

Aber so leicht macht Heym sich und uns die Sache nicht. Die Akteure des sozialistischen Aufbaus sind weit widersprüchlicher. Kommunist sein ist auch eine je individuelle Haltung, die dem künftigen Nationalpreisträger (Arnold, dem negativen Held des Romans) nicht einfach abgesprochen wird. »Ich mag es nicht, wenn Leute, die sich als Sozialisten bezeichnen, ihre Fahrer draußen warten lassen, während sie sich an irgendwelchen Buffets vollstopfen und ihre Karriere fördern«, lässt er diesen sprechen. Und er bestätigt es im Echo seiner Frau Julia: »Sie schätzte das an ihm.

Er hatte nicht vergessen, wer am Ende die Rechnung zahlte, und obwohl er zur sogenannten Prominenz gehörte und ein Anrecht hatte auf einen gewissen Anteil an öffentlichen Geldern, vermied er es peinlich, auch nur einen Pfennig davon für seinen eigenen Komfort, seinen eigenen Vorteil auszugeben.« (37) – »Kommunist sein, hatte er ihr einmal, schon vor ihrer Hochzeit, gesagt, ist eine Lebenseinstellung. Und hatte ihr erklärt, dass Korruption schon darin bestand, dass einer die Macht, die ihm für gewisse Zwecke gegeben war, nebenher für eigene Interessen nutzte. Solche Fälle erregten seinen Widerwillen« (38). Es folgen Beispiele, die jeder kennt, in die man verwickelt sein könnte – die gekürzten Rationen für andere, um für sich selbst etwas beiseite zu legen, die gefälschten Planzahlen zu eigenen Gunsten, zugeschanzt eine Wohnung mit Bad für sich und eine Geliebte. Das Einverständnis mit eigener Unbestechlichkeit und starkem Gerechtigkeitsempfinden hat Misstöne, die aus der vorhergehenden Lektüre von Folter, Verbannung und Tod kommen, und langsam wächst bedrängend das Gefühl, es könnte in individuellem Rechttun dennoch größeres Unrecht vorbereitet sein, sodass die Verwandlung der guten Haltung in einen Moralsatz für andere die Vorbereitung für die Katastrophe ist: »Ein Kommunist […] darf keine faulen Köpfe dulden, keine lauen Herzen und vor allem das Laissez faire nicht, das Eine-Hand-wäscht-die-andere und das Reg-dich-nicht-darüber auf.« (38) – Heym fügt so das Bild des Architekten zusammen, der alle kleinen Verfehlungen des sich Bereicherns und des Klientelismus ahndet und dabei selbst sein Leben auf Verrat und Lüge baut und damit all die Preise und großen sozialistischen Worte, kurz das gesamte sozialistische Projekt, das Projekt, Mensch zu sein, zu einer Lüge macht.

Zunächst zeigt es sich als Diskrepanz zwischen dem öffentlich Gesagten und individuellem Für-richtig-halten. Bald schon lebt sich dies wie zwei parallele Seinsweisen, deren Nichtzusammengehörigkeit kaum gespürt wird. Eine allgemeine Schizophrenie breitet sich aus, zwischen dem, was man selbst öffentlich sagte, und dem, was man im Innern glaubte, ohne es zu merken. Dem folgen selbstverständlich nicht alle. Einer, der aus Jugoslawien kommt und als Fremder aufgenommen wird ins Team, »hatte alsbald erkannt, dass es in dem Land seiner Zuflucht eine ganze Generation gab, die bei ihren Bemühungen, sich irgendwie durchzuschlängeln und voranzukommen, sich selbst um ihren Anteil an Herz und Begeisterung betrogen zu haben schien – Menschen mit eingebautem doppelten Boden, mit zwei Arten von Gefühlen, zwei Arten von Werten: einer für ihre öffentlichen Bekenntnisse, einen anderen in ihrem privaten Verhalten« (170f). Heym lässt dies als den größten Verrat erkennen: Dass eine ganze Generation von fähigen, begeisterten, klugen und engagierten Jungen zynisch wird, eine ganze Generation ihrer Beweggründe und Leidenschaft für die Sache beraubt.

Das innere Band ist die Erzählung über Architektur als Kunst, über große Köpfe und das Volk. Wer bestimmt, was sozialistische Architektur ist und was nicht. Die Frage macht sich sogleich allgemein: Wer verfügt warum über die Leben anderer? – Ein Widerlager ist die Auseinandersetzung mit dem Bauhaus, aus dem der Denunzierte und sein Denunziant als Kollegen und Freunde kommen. Als Formalismus und bürgerliche Dekadenz abgewiesen, als entartet verfolgt, gipfelt die Gemeinsamkeit des nicht Zugelassenen in der »beängstigenden Ähnlichkeit zwischen der Straße (des Weltfriedens) zu dem Charlottenburger-Chaussee-Projekt der Nazis« (153). Julia hatte die Projektskizze von den zynischen jüngeren Kollegen bekommen und gesehen: »Man brauchte ja nur ein paar Elemente der Gorkistraße zu nehmen und ein paar Zinnen der Kremlmauer anzufügen, dazu ein oder zwei Simse von altdeutschen Bauernhäusern in Dörfern aus der Umgebung, und all das mit dieser Charlottenburger Chaussee zu verquicken und schon hatte man eine echte Sundstrom-Straße mit vorfabriziertem Nationalpreis eingebaut in die Perspektive« (71). Dennoch beginnt sie eine selbstsichere marxistische Diskussion über Form und Inhalt: »Es ist unmarxistisch, Form und Inhalt zu trennen […]. Sozialistische Architektur hat sozialistische Inhalte und Nazi-Architektur …« (71). Die zweifelnde Klage wird viel später wieder aufgenommen und alsbald eine nachgeholte Lektion in Zynismus, die der große Architekt seiner sozialistischen Musterschülerin, seinem »Geschöpf« vorenthalten hatte. »Was ist es denn eigentlich in unserer Lebensweise und der der Nazis, das beinahe gleichartige Ausdrucksformen in Stein und Mörtel erzeugt?« (153), fragt Julia in der Suche nach der sozialistischen Ethik der Architektur und wird in einem Schnellkurs in Aufklärung auf die Fakten ihrer »sozialistisch-realistischen Depression« (154) gestoßen: dass die Rede von der Einheit von Künstler und Volk bloße Phrase sei, dass das Produkt dem Geschmack der Bauherren folge (154), die aber weder das Volk noch die Architekten seien, sondern die Parteioberen, die einen nachweislich schlechten Geschmack hätten: »dass die Straße des Weltfriedens wie eine Kreuzung zwischen der Kremlmauer und dem Pantheon aussieht mit ein paar Barockelementen dazu« (155). Heym belässt es nicht bei dieser Bekundung, die zugleich seinen negativen Romanhelden als auch das demontiert, was als sozialistischer Realismus verkündet wird, sondern prüft auf gesichertem Boden. Arnold fragt Julia, seine Frau: »Warum untersuchst du nicht, wie ein Marxist es tun sollte, die Ursachen des schlechten Geschmacks unserer Bauherren? Schau dir das Leben an, das diese Menschen geführt haben, die Begrenzungen ihres Denkens, die Macht, die ihnen plötzlich in die Hände gefallen ist; stelle bitte fest, was ihren Sinn für Schönheit geformt hat, wenn sie überhaupt einen besitzen, und ihre Träume von dem Denkmal, das sie sich selbst errichten möchten – und dann wirst du hoffentlich erkennen, dass die Straße des Weltfriedens noch erheblich schlimmer hätte ausfallen können.« (155) Und sie kommt der Sache näher, indem sie sich von ihm immer weiter entfernt. Sie fragt: »Aber warum hast du mir diese Illusionen eingeredet? Warum nicht die Wahrheit gesagt?« (155)

Aber warum reproduzierten die Architekten aus der Bauhausschule überhaupt in einer Art Unterwürfigkeit den Stil des schlechten Geschmacks ihrer Parteioberen? Heym entziffert deren Unterwerfung zugleich als Begründung, warum sie eigentlich nichts Großes mehr zustande brachten, also als eine Art Erklärung für schöpferisches Siechtum. Als »großer Lehrer« (87) tritt die Sowjetarchitektur auf, die selbst als eklektizistisches Produkt mit willkürlicher Benutzung von Details aus vergangenen Perioden (129) gezeigt wird. Die Bauhausansichten erscheinen als »eine Art linker Abweichung, kleinbürgerlicher Radikalismus; die Arbeiterklasse ist nicht destruktiv, sie übernimmt, was an den Errungenschaften der Vergangenheit Wert ist, und formt es entsprechend ihren eigenen Zielen und Zwecken […]. Heute weiß ich […], die künstlichen und kubistischen Konstruktionen, die sich von den Lehren der Bauhaus-Professuren herleiten, sind im Wesen negativ und seelenlos, antihuman – und widerstreben dem gesunden Instinkt unserer Werktätigen« (87). Die Verkündungen des negativen Romanhelden, warum das eine große sozialistische Kunst sei, das andere eine dekadente Verfehlung, werden immer doppelbödiger, werden Zugeständnisse aus Machtwillen oder, schlichter, um besser zu überleben. Das gemeinsame Autoritäre der rekonstruierten Prachtstraße im siegreichen Nazi-Berlin und der Straße des Weltfriedens, so lässt sich entziffern, gilt dem Volk, welches vorgeführt wird als eine Masse, deren ungebildeter Geschmack nicht zur ästhetischen Erziehung ansteht, sondern zum Jasagen zu Kitsch und Kolportage. Diese Straßen werden gebaut für Aufmärsche und Paraden, für »Siegesdemonstrationen, die inmitten einer großen Leere von nirgendwo nach nirgendwo ziehen« (129), lässt Heym den positiven Helden, Daniel, erklären, aber nicht als heller Raum für Fußgänger. Er hat keine großen Bauten und Entwürfe vorzuweisen, in den 16 Jahren, die er im Lager verbrachte, hat er unentwegt nur im Geist gebaut, klare Formen, lichte Möglichkeiten zu wohnen, Brauchbares. Heym nutzt diese Gestalt, deren Positivität sich nicht dokumentieren kann, als Folie der Negation der anderen. Er »schien die Revolution nicht in erster Linie als eine Leiter zu verstehen, die man erklomm, um Positionen, Prestige und Privilegien zu erlangen« (199).

Der Parteitag mit Chruschtschows »Geheimrede«, von der alsbald ein jeder Kenntnis hatte, erscheint zugleich als Erdrutsch und als Möglichkeit, wie gewohnt weiter zu machen. Die Wahrheit über die Verbrechen aus der Zeit des Stalinismus reicht nicht hin, um nicht wie gewohnt zur Tagesordnung überzugehen. Eine Devise lautet: »einfach nicht eingehen auf die Fragen der Leute! Und wenn wir das lange genug durchhalten, werden sie aufhören, Fragen zu stellen«, und eine andere: »für eine Partei an der Macht ist öffentliche Selbstkritik ein gefährlicher Luxus« (273f). Der negative Romanheld erhält nun nicht mehr den Nationalpreis, aber ihm wird der weitere Bau der Straße des Weltfriedens zugewiesen, im »Geist des sozialistischen Realismus« (379), gewonnen aus »Schikane«, aus der »Macht der Gewohnheit« (378). Er darf sagen: »Jetzt da wir frei sind zu arbeiten, wie es uns richtig erscheint«, (312) und deckt damit zugleich seine Beteiligung am Bisherigen zu, wie er Freiheit in Kontinuität umbiegt. Das Neue (der beiden Architekten Julia und Daniel) bekommt als Trostpreis den Auftrag, »die Karl-Marx-Spinnwaren- und Textilwerke in der Vorstadt« zu modernisieren (380).

Wäre dies also ein Roman über die Demontage des sozialistischen Projekts als seelenloses Funktionieren von Anfang an, im Stalinismus zur Konsequenz getrieben durch die Vernichtung all derer, die Sozialismus wirklich als Projekt für Menschen gemeint hatten, und also auch eine Absage an seine Möglichkeit? Das Gegenteil ist der Fall. Indem Heym den Verwerfungen, den Irrwegen, der Zurechenbarkeit zu den vielen nachgeht, tut er dies vom Standpunkt eines möglichen Sozialismus, zeigt, wo es anders hätte zugehen können, welche Alternativen es gab. Dass er es erzählt, macht Selbstkritik zum Erfordernis und das sozialistische Projekt trotz alledem haltbar. Dies zeichnet nicht nur seinen Stalinallee-Roman aus, sondern Heyms gesamtes Lebenswerk. Immer wieder sucht er in seinen Romanen die Gestalten auf, die dem Mainstream, auch dem sozialistischen, nicht gefolgt sind (so Ferdinand Lassalle, Karl Radek, Collin und sich selbst in Nachruf, seiner Autobiographie), die Abweichenden, die anderes versuchten, die nicht vergessen werden dürfen, wenn weiter an einem möglichen Sozialismus festgehalten werden will. Heyms Romane schreiben unsere Geschichte. Sie gehören zur politischen Bildung, in Arbeitsgruppen und Lesekreisen angeeignet und weitergegeben an die nächsten Generationen.

 

© DAS ARGUMENT 306/2014, S. 35-40