Elemente eines Neuanfangs
Editorial
Philosophie der Praxis – Elemente eines Neuanfangs
I.
Vieldeutig wie unser Thema ist das Titelfoto dieses Hefts. Es zeigt das von der Stadt Frankfurt 2004, zu Theodor W. Adornos hundertstem Geburtstag, errichtete, von Vadim Zakharov gestaltete Denkmal. Zunächst bietet es sich an als Sinnbild der kritischen Theorie. Kein Elfenbeinturm, aber ein menschenleerer Glasverschlag mit Schreibtisch und Stuhl nebst zur Nachtzeit brennender Lampe sowie einem – halb auf Adornos emblematischem Buch, der Negativen Dialektik, halb auf dem Tisch aufruhenden – unentwegt den Takt schlagenden Metronom, einer Manuskriptseite und einem Notenblatt.
Was immer diese Installation zu denken geben mag – ihre Momentaufnahme weckt weitere Assoziationen. Es könnte sich darum handeln, wie sie in Sicherheit gebracht werden musste. Frankfurter Bürger hatten sie zuvor in Nachtwachen schützen müssen vor Steinewerfern am ursprünglichen, auf den Namen Adorno-Platz getauften Ort inmitten der Stadt. Nun emigriert diese Allegorie einer von der Praxis isolierten Theorie mitsamt dem Platznamen aufs Gelände der Universität. Im Gegenzug kommt mit dem Arbeiter ein Akteur ins Bild, auf den jene Theorie sich untergründig fortwährend bezieht. Seine Bedeutung schillert zwischen einer nicht zum Schweigen zu bringenden Stimme schlechten Gewissens und dem Exponenten einer Praxisperspektive, von der Leo Löwenthal gesagt hat, nicht wir haben sie verlassen, »sondern die Praxis hat uns verlassen« (Mitmachen wollte ich nie, 1980, 78f). Die geöffnete Bodenluke unterm Schreibtisch führt in den Untergrund, aus dem der Arbeiter normalerweise aufsteigt, um die Anlage in Schuss zu halten. Nun aber hat er sich mit seinem Werkzeug und mit Hilfe einer Bockleiter von außen an ihr zu schaffen gemacht und legt eine Zigarettenpause ein. Oder könnte es sein, dass jene einzige menschliche Gestalt im Bild den Glaskäfig geöffnet und die Philosophie in die ebenso gefährliche wie gefährdete Welt entlassen hat?
Damit erhält das Titelbild eine weitere Bedeutung: Philosophie der Praxis in der Nachfolge von Marx beginnt damit, dass sie eine Stellung zur Wirklichkeit verlässt, die sie »von der Praxis isoliert«. Dieses marxsche Kriterium aus der 2. Feuerbach-These widerruft das Axiom des imaginär, mittels kräftiger rhetorischer Bilder, von Descartes konstruierten Bewusstseinskäfigs (vgl. Haug 1987, 27ff). Bei diesem reduziert sich die Realitätshaltigkeit des Denkens auf dasjenige, dessen wir uns »unmittelbar bewusst« sind, und »unmittelbar« heißt, »alles auszuschließen, was aus diesem folgt, wie eine willentliche Bewegung zwar einen Gedanken zum Ausgangspunkt hat, aber dennoch selbst kein Gedanke ist«. So hat Spinoza die cartesianische Isolierung des Denkens von der Praxis auf den Begriff gebracht (Principia philos., I, Def. I). Er selbst hebt diesen Dualismus von Denken und körperlichem Sein in der potentia agendi vel cogitandi spekulativ auf, d.h. in der nurmehr in Seinsweisen unterschiedenen, aber substanziell einheitlichen Denk- und Handlungsfähigkeit. Diese Einheit erhärtet er durch das ontologische Axiom, dass dasjenige, welches nicht durch innerweltliches Wirken sein Sein erhält, nicht existiert. Das und die Zentralstellung der Denk- und Handlungsfähigkeit macht ihn zu einem der Vorläufer des Marxismus. In solchem Wirklichkeitszusammenhang von Theorie und Praxis hebt die Philosophie der Praxis an, aber in einer von Hegel dialektisierten und von Marx aus dessen spekulativer Form ins Praktisch-Materialistische übersetzten Form. In diesem Verhältnis von Denken und Handeln ist das Handeln das »Übergreifende«, wie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik mit einem Schlüsselbegriff der marxschen Dialektik sagt.
II.
Wenn wir in diesem Heft die Frage nach den philosophischen Konsequenzen des von Marx eingenommenen praktisch-dialektischen Ausgangspunktes wiederaufnehmen, dann ist der Anlass selbst wiederum unmittelbar theorie-praktisch. In der InkriT-Werkstatt des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus müssen wir uns auf Schritt und Tritt mit sedimentierter Philosophie auseinandersetzen, die sich mit ›marxistischen‹ Inhalten in der cartesianischen Grammatik eingerichtet hat. Zumal dem aktuellen HKWM-Band 9/I, Maschinerie bis Mitbestimmung, hat das Alphabet den Materialismus-Komplex zugewiesen: Materialismus, Materialismus und Empiriokritizismus, Materialität, Materie, materiell und materielle Kultur; als wäre das nicht genug, reihen sich auch noch Metaphysik und metaphysische Denkweise ein, die Möglichkeit nicht zu vergessen. Fragen der Philosophie des praktisch-dialektischen Geschichtsmaterialismus geben daher dem Band sein besonderes Gepräge. Und wie der in HKWM 8/II behandelte Marxismus in seinen verschiedenen Ausformungen und seiner Subjektseite des Marxistseins/Marxistinseins haben auch die Begriffe des Materialismus-Feldes eine Identität-Funktion. Autoren und Redakteure wagen sich hier aufs Glatteis, wo nicht auf ein Minenfeld. Zur dessen Entschärfung mag es beitragen, die Anschluss-Stelle bei Marx näher zu beleuchten.
Die Frage nach dem Materialismus in der Linie von Marx wird unweigerlich zu dessen Thesen ad Feuerbach hingezogen, die Engels nach Marxens Tod entdeckt hat und die seither immer wieder diskutiert wurden. Was Luthers Thesen vor 500 Jahren für die Erneuerungsbewegung des organisierten Christentums, bedeuten sie für viele Marxisten. Den objektivistischen Strömungen mit ihrem auf einen deterministischen Ökonomismus regredierten Verständnis der marxschen Ökonomiekritik sind sie dagegen ein Ärgernis.
Für Antonio Labriola, den einzigen philosophisch im besten Sinn Gebildeten in der ersten Generation von Marxisten, sind die Thesen der »Kernpunkt des historischen Materialismus« (Über historischen Materialismus, 318). Von ihm hat der nun schon mit dem objektivistisch erstarrenden Marxismus der Sowjetunion nach dem Tode Lenins konfrontierte Gramsci die Einsicht aufgenommen, dass es für den Marxismus keine andere Philosophie geben kann als die der Praxis. Die Auseinandersetzung mit Bucharins Lehrbuch hat ihn dazu bewogen, in seinen Gefängnisheften »historischer Materialismus« durch »Philosophie der Praxis« zu ersetzen. Er ist der Überbringer, der diese für den Marxismus auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt hat. An ihm führt bei diesem Thema kein Weg vorbei.[1] In seinen Heften praktiziert er »›Philosophie‹ in einem Sinn, den Marx stillschweigend vorausgesetzt und nur punktuell expliziert hat und den als Philosophie zu denken ihm kaum in den Sinn gekommen« sein dürfte; kohärent, aber systemfern, fasst Gramsci die Welt »in immer neuen Ansätzen, zwischen unmittelbarer Nähe zum Material und Konstruktionsskizzen« von der menschlichen Tätigkeit her auf (Haug 1994, 1209).
Die Feuerbach-Thesen verkünden den Exodus aus der erkenntnistheoretischen Problematik, die von dem von der Praxis isolierten Bewusstsein ausgeht und nach dem Wirklichkeitsgehalt des so isolierten Denkens fragt. Die Folgen dieses Auszugs revolutionieren die gesamte Denkart. Marx identifiziert am Grunde der erkenntnistheoretischen Bewusstseinsphilosophie die cartesianische Grammatik des modernen bürgerlichen Privatindividuums und der bürgerlichen Gesellschaft.
An die Stelle der Erkenntnistheorie tritt eine geschichtsmaterialistische Epistemologie der Praxis, die im immer schon praktisch erschlossenen und gedanklich verarbeiteten Wirklichkeitsbezug anhebt, wenn sie sich an die Erkenntnisarbeit begibt. Sie ist am ehesten mit bürgerlicher Wissenschaftstheorie vergleichbar, von der sie sich dadurch unterscheidet, dass und wie sie die historisch spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen gehandelt, Wissen produziert und ins Werk gesetzt wird, nicht nur einbezieht, sondern die herrschenden Privat- und Partikularformen am Kriterium einer sich von den gesellschaftlichen Antagonismen und ihrer staatlichen Reproduktion emanzipierenden gesellschaftlichen Menschheit misst.
Praxis meint das von Klassen- und Geschlechterverhältnissen durchzogene gesellschaftliche Handlungsgeflecht, in dem individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit und deren Betätigung sich ausbilden. Zugleich wird sie als entscheidende Instanz begriffen, die sowohl anthropogenetisch als auch geschichtsbildend wirksam ist. Da aber »alles gesellschaftliche Leben wesentlich praktisch« ist (8. Feuerbach-These), bedeutet das Wort ›Praxis‹ allein kein Gütesiegel für den jeweiligen Inhalt. Ausbeutung und Unterdrückung sind ebenso ›praktisch‹ wie Solidarität und Befreiung. Die Praxis, könnte man sagen, ist zumeist nur verschieden interpretiert worden, es kommt darauf an, sie zu verändern. Das gilt nicht nur auf gesellschaftlich organisierter, sondern mutatis mutandis auch auf individueller Ebene. Keiner vermag sich selbst zu ändern, es sei denn, er änderte seine Praxis. Dies aber verlangt entsprechende Veränderungen in seinen gesellschaftlichen Verhältnissen.
III.
Praxis-Philosophie war einer der theoretischen Wege im Jugoslawien der Arbeiterselbstverwaltung und stiftete mit den Tagungen auf der Insel Korčula der mehrsprachigen Zeitschrift Praxis einen internationalen Anziehungspunkt für westliche Intellektuelle am Gegenpol zum Sowjetmarxismus. Der junge Marx, möglichst noch mit Hegel, war der wichtigste Bezugspunkt, Entfremdung ein zentraler Begriff. Die Kritik der politischen Ökonomie kam allenfalls insofern vor, als sie Stichworte zur Entfremdung lieferte. Einen Aktualitätsschub erhielt das Thema durch den kurzen Frühling des Eurokommunismus. Nach dessen Untergang, vollends nach dem des europäischen Staatssozialismus, als Jugoslawien im Bürgerkrieg versank, fanden sich Fragen der Philosophie der Praxis an den »Rand der Geschichte« gedrängt. Der Marxismus insgesamt galt als tot.
In dieser Konstellation war es ein Akt des Widerstands – nicht nur gegen den herrschenden Hauptstrom der Tagesgeschichte, sondern auch gegen den sedimentierten Marxismus –, Gramscis Gefängnishefte neu und erstmalig vollständig ins Deutsche zu übersetzen als Quelle und Bildungsmedium eines zukunftsfähigen politisch-theoretischen Marxismus. Dieser zunächst marginale Neuanfang mündete ein in das aus den geplanten Ergänzungsbänden zu Labicas Kritischem Wörterbuch des Marxismus hervorgegangene HKWM-Projekt.
Nicht nur bei Gramsci und den Gramscianern, selbst bei einem so bedeutenden Philosophen der Praxis wie Adolfo Sánchez Vázquez ist vieles Andeutung geblieben, Skizze oder Bild, sich heraushaltend aus der Kritik der politischen Ökonomie. Um den Realitätstest zu bestehen, ist daher erneute Theoriearbeit verlangt. Dabei lässt sich die Erfahrung machen, dass die Reichweite der marxschen Thesen, nicht zuletzt ihr Unausgeschöpftes, atemberaubend ist. Die darin angelegte wissenschaftliche Revolution dürfte bereits ihrem im Aufgabenbündel der Organisierung der modernen Arbeiterbewegung und der theoretischen Fundierung ihres Antikapitalismus verstrickten Autor nicht völlig durchsichtig gewesen sein. Die marxistische Rezeption der Thesen aber ist zumal unterm Einfluss des ML auf halbem Wege stecken geblieben.
Die Themen, an denen wir zunächst das geschichtsmaterialistische Potenzial der Philosophie der Praxis ausloten, sind die drei Grundproblematiken Kapitalismustheorie, Klassenanalyse und Mensch-Natur-Verhältnisse, zu denen einem verbreiteten Vorurteil zufolge die Philosophie der Praxis wenig Handfestes zu sagen habe. Louis Althusser lästerte sogar, sie sei ein Thema für schöne Gespräche unserer »Salonlöwen«; stattdessen gehe es um die Kritik der politischen Ökonomie. W. F. Haug nimmt diese Herausforderung an und zeigt, dass das Kapital und nicht zuletzt seine dialektische Methode von den Feuerbach-Thesen her, also praxisanalytisch, nicht nur verstanden und bis in die Gegenwart weitergeführt werden können, sondern müssen. Dass Entsprechendes für die Klassenanalyse gilt und von äußerster Wichtigkeit auch für deren politische Anwendung ist, zeigt Michael Vester. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Michael Löwy arbeiten Leistungsfähigkeit und Weiterentwicklungsbedarf der Philosophie der Praxis im Bezug auf die Mensch-Natur-Verhältnisse im Zeichen der Klimakatastrophe heraus.
Die Schlüsselbedeutung der Philosophie der Praxis für Gramscis Gefängnishefte und deren Relevanz in der aktuellen Krise des Politischen (Thomas Barfuss und Peter Jehle), und die Erkundung der grundlegenden Bedeutung von Kritik für Lehren und Lernen zugleich mit den Widerständen dagegen (Frigga Haug) tragen dazu bei, die auf der Jahrestagung des InkriT von 2017 begonnene Neuaufnahme der Philosophie der Praxis in weiterführender Absicht theoretisch und aktuell politisch zu situieren. Ein geplanter Rückblick auf die jugoslawische Praxis-Philosophie von Luka Bogdanić musste auf die für 2018 geplante zweite Folge verschoben werden Wir laden zur Mitarbeit ein. WFH
[1]
Ein Bericht Thomas Webers vom Kasseler Symposion »Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis« von 1993 scheint allerdings das Gegenteil zu bezeugen. Er beginnt mit der »verblüffenden Feststellung«, dass Gramsci in den Vorträgen und Diskussionen »nicht präsent war« (1994, 88). Das war ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Gramsci-Auswahlbandes Philosophie der Praxis von Christian Riechers, ja sogar noch, als bereits die ersten vier Bände der kritischen Gesamtausgabe der Gefängnishefte auf Deutsch erschienen waren.