oder: Welche Aneignung für das weibliche Geschlecht? Editorial
Die Diskussion darüber, was wir als Frauen aus der Geschichte unserer Menschwerdung aneignen oder wieder aneignen wollten, brachte uns zur radikalen Frage: Ist es eigentlich möglich, dass Frauen im Durchschnitt keine menschlichen Wesen sind?
»Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, heißt es in Marx’ Thesen über Feuerbach (MEW 3, 6). Das ist keine Anleitung zur empirischen Forschung nach dem menschlichen Wesen, und doch ist es eine aufregende Anweisung, wie nicht zu forschen ist und damit zugleich, wie wir vorgehen könnten – der Tendenz nach. Der Satz gibt Hoffnung. Wie Menschen heute sind, ist nicht alles, als Menschen könnten sie anders sein. Menschheit wird erst. Was Menschen werden können, ist immer noch Zukunft. Unterwegs bleiben sie stehen, verstricken sich, fallen übereinander her, morden und üben Gewalt aus. Zählen wir solchen Umgang miteinander zur Vorgeschichte, also zu Entwicklungsstufen, in denen volle Menschlichkeit noch nicht entfaltet ist, stehen wir vor der schwierigen Aufgabe, das Fernziel – entwickelte Menschheit – wenigstens in Umrissen angeben zu müssen, als Zielmarke gewissermaßen. Verhältnisse nicht zu dulden, in denen der Mensch ein »erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385), fordert Marx auf. Bis dahin arbeiten sich die Menschen aus ihrer bloß tierhaften, aus egoistischer, nur auf eigenen Nutzen bedachten Natur heraus, werden gesellschaftliche Menschen. Das Pathos, das auf dem Wort gesellschaftlich liegt, gibt die Richtung an. Kooperation, Teilung der Arbeit – das hört sich fast technisch an – will aber die Wegrichtung bezeichnen, dass Menschen miteinander und füreinander tätig sich mit eigener und umgebender Natur auseinandersetzen, um ihr Menschsein zu gewinnen, und dass dies ein kollektiver Prozess ist. Zur Diskussion steht aber nicht nur die Entwicklung von Werkzeugen, sondern die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit: Indem »die Bildung der fünf Sinne eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« (MEGA I.2, S. 270) ist, ist ihre Betätigung »Aneignung der menschlichen Wirklichkeit: Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Thätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität […] sind […] in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben« (MS 44, MEGA I.2, 268). Dies ist zunächst noch ganz allgemein gesprochen. Wir wissen schon, dass Herrschaft und Unterdrückung diesen Weg blockieren, dass Eigenes in äußerste Entfremdung gerät, sodass, was Menschen tun, sich gegen sie kehrt, sie gewissermaßen zu Anhängseln des von ihnen Geschaffenen macht. Das gilt für Maschinen als tote Arbeit, also als Produkte, in die zuvor lebendige Arbeit einging, wie für Kapital als aufgehäufte menschliche Arbeit. Beide entseelt. Bei Marx liest sich das so:
Die lebendige Arbeit muss diese Dinge ergreifen [die Produktionsmittel, FH], sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln. Vom Feuer der Arbeit beleckt, als Leiber derselben angeeignet, zu ihren begriffs- und berufsmäßigen Funktionen im Prozess begeistet, werden sie zwar auch verzehrt, aber zweckvoll als Bildungselemente neuer Gebrauchswerte (MEW 23, 198).
Aneignung stößt auch auf die Grenzen des Privateigentums. In diesem Rahmen ist denkbar, dass Menschen durch die Macht des Privateigentums an Produktionsmitteln von den Verwirklichungsbedingungen ihres menschlichen Wesens ausgeschlossen oder verkehrend eingebunden sein können. Die Sache wird kompliziert, denn in der Lohnarbeit erhalten die Arbeitenden ihr Leben nur, indem sie es verkümmern (MEW 3, 67). In diesem Zusammenhang führt Marx den Begriff der Entfremdung ein. Wiewohl deutlich wird, dass Lohnarbeit eine Verkehrung menschlichen Tätigseins ist, ist sie zugleich Form »der Selbstbetätigung« – eine widersprüchliche Form. In der weiteren Analyse konzentriert sich Marx auf die Grenzen und Verkehrungen, die der Aneignung des menschlichen Wesens in der Lohnarbeit zukommen.
Äußerst kompliziert steht gewissermaßen quer dazu, was Menschen als geschlechtliche Gattungswesen tun. Viel Phantasie ging in Vorstellungen ein, Menschen seien als Kugeln auf die Welt gekommen, wurden zerteilt, wurden Mann und Frau und suchten die jeweils andere Hälfte seither.1 Uns interessiert an dieser Stelle vor allem der Prozess der Aneignung des menschlichen Wesens in Geschlechterverhältnissen, die selbst Herrschaftsverhältnisse sind.
Was tun? »Wir wollen alles«2 ist eine Forderung, die zu wenig will. Zeichnen wir gesellschaftliche Aneignungsprozesse nach, so sehen wir eine vielfache Verschränkung. Zum einen entäußern sich Menschen über ihre gegenständliche Tätigkeit, d.h. sie schaffen Werkzeuge, mit denen sie wiederum Werkzeuge machen können und Gebrauchswerte, Werke eben. Sie verwirklichen ihr menschliches Wesen, indem sie sich in nützlichen Dingen verausgaben. Diese Geschichte ist vielfach geschrieben. Bei Marx etwa heißt es: »Um sich Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen, setzt das arbeitende Individuum die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte in Bewegung«, schiebt immer entwickeltere Arbeitsmittel als »Machtmittel« zwischen sich und den Arbeitsgegenstand, dabei »seine eigenen körperlichen und geistigen Kräfte« entwickelnd und so zugleich »seine eigene Natur« verändernd (MEW 23, 192ff). Der Mensch wird, indem er arbeitet.
Jede, die sich mit Arbeitsforschung befasste, kennt die Begriffe und die gültigen Folgerungen. Doch bleibt schon hier die Frage, ob die sorgenden, die sozialen, die mitmenschlichen Tätigkeiten so gefasst werden können – als Verwandlung von Naturstoff – oder umgekehrt dem Verdikt unterliegen müssen, keiner Aneignung menschlichen Wesens zu genügen. Das gilt insbesondere, wenn diese Gedankenformen mit den Begriffen Vergegenständlichung und Aneignung weitergeführt werden zu pädagogischen (wie bei Leontjew) und subjektwissenschaftlichen Konzepten der Kritischen Psychologie (wie bei Holzkamp), der über »die wachsende aktive Aneignung der Natur durch verändernd eingreifende Vergegenständlichung verallgemeinerter Zwecke der Lebensgewinnung« sein Konzept der Erfahrungsweitergabe als Grundlage menschlicher Entwicklung schreibt (1983, 176).
Aneignung als pädagogische Aufgabe wird zentral in der kulturhistorischen Schule der Sowjetunion (Wygotski, Leontjew u.a.)3. Ute Osterkamp (Kritische Psychologie) notiert in Weiterführung von Lucien Sève, dass nicht alle Menschen sich die historisch gewachsenen menschlichen Wesenskräfte aneignen können, dass also die »individuelle Vermenschlichung hinter dem im gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand verkörperten, außerhalb des Menschen in der gegenständlichen gesellschaftlichen Realität liegenden menschlichen Wesen als Ausdruck der historisch erreichten Stufe der Humanität notwendig immer mehr zurückbleiben« (1975, 311) müsse, wegen der unübersteigbaren Grenzen der natürlichen Lebenszeit und Kapazität eines Menschen. Sève spricht in diesem Kontext davon, dass »sich das menschliche Individuum auch stets nur partikulär vermenschlicht« (1972, 185).
Aber beide befassen sich nicht mit der Merkwürdigkeit, dass praktisch die Hälfte der Menschheit in der üblichen Teilung der Arbeit gar nicht erst in die Nähe dieser Aneignung kommt.4 Sind also Frauen im historischen Durchschnitt aus der Verwirklichung möglichen Menschseins ausgeschlossen?
Als bekannt voraussetzen können wir auch die Geschichte der Arbeitsteilung, in der nicht nur Herren und Knechte sehr unterschiedliche Haufen bekamen, sondern auch Männer und Frauen noch einmal quer dazu sich vergesellschafteten.
Kompliziert bleibt die Frage, wie wir begreifen können, dass ein Geschlecht, das männliche, sich im wesentlichen auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts in der Werkzeugherstellung entwickelte und verwirklichte (wie immer auch entfremdet und verkümmert das vorzustellen ist), während das weibliche an dieser Entwicklung wenig teilhatte, ihr menschliches Wesen also nicht in dieser Richtung sich aneignete.
Springen wir der Einfachheit wegen in unsere kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Was geschieht mit den Menschen, die nicht lohnarbeiten, und wie begreifen wir all die Tätigkeiten, die nicht in der Lohnform verrichtet werden? Genauer: müssen wir schließen, dass außerhalb von Lohnarbeit kein menschliches Wesen angeeignet wird, nicht erwerbstätige Frauen also außerhalb vom gesellschaftlichen Hauptstrom und auch der Aneignung ihres menschlichen Wesens leben? Oder sollen wir davon ausgehen, dass diese Aneignung in Gesellschaften, in denen kapitalistisch produziert wird, gewissermaßen auf der Wartebank sitzt, bis es gelingt, die Umsonst-Tätigkeiten in die allgemeine Lohnform zu überführen? Oder können wir schließlich freudig annehmen, dass die nicht lohnförmigen Tätigkeiten der allgemeinen Entfremdung entgehen, und was bedeutet dies für die Inwertsetzung auch der sozialen Bereiche? Oder gilt für sie, dass sie mit fremder Zeitlogik der allgemeinen Geschwindigkeit nicht gewachsen sind und also bei der Inwertsetzung, also der Hineinnahme in die Lohnarbeit zerrieben werden?
Sollen wir davon ausgehen, dass in den Herrschaftslinien nicht nur die Oberen die Unteren daran hinderten, sich ihr menschliches Wesen anzueignen, lernend und erfinderisch, sondern darüber hinaus die Hälfte der Gattung sich gar nicht erst auf den Weg gemacht hätte, ihr menschliches Wesen zu gewinnen? Kein Lernen, keine Erfindung, kein Werkzeug. Selbst wenn wir in der Geschichte auch erfinderische Frauen finden – wie etwa Marie Curie oder Lise Meitner, Beweis, dass auch Frauen Menschen sein können –, war es eben zum Verschwinden weit weg von der Hälfte.5 Vieles in der Geschichte, insbesondere alles, was schief gelaufen ist bei den Erfindungen bis zur High-Technology, spricht dafür, dass es dem Überleben der Menschen dienlich ist, wenn nicht alle den technologischen Fortschritt als ihren eigenen Entwicklungsweg einschlagen. Jemand muss schließlich die fürsorgende Arbeit am Rande der Gesellschaft übernehmen.
Also versuchen wir es noch einmal andersherum. Dass die Menschheit überlebte und sich über die gesamte Erde verbreitete, konnte geschehen, weil die Menschen die Reproduktion der Art, also wie sie Fortpflanzung und Kinderaufzucht regelten, als kooperatives Unternehmen betrieben. Die Entwicklung des Sozialen, die Fürsorge füreinander waren eigene Entwicklungspfade, die die Menschheit erfolgreich eingeschlagen hat (wie zuletzt, 2010, Sarah Blaffer Hrdy erkundet).
So verführerisch das auch insbesondere für weibliche Ohren klingen mag, es fehlt weiter die Verschränkung – nämlich wie der Weg der Aneignung menschlicher Fähigkeiten, die über die Werkzeugherstellung läuft, mit der Entwicklung des Sozialen verknüpft ist, dass etwas menschlich Mögliches und auch Begrüßenswertes herauskommt – im Fernziel.
Nehmen wir an, dass die Weise, wie Menschen sich zueinander verhalten, nicht auf ursprünglicher Naturstufe bleibt, sondern auch humane Entwicklung erfährt, sodass zur Geschichte der Entwicklung der menschlichen Sinne, zu denen auch lieben zu zählen ist, tatsächlich das gesamte Feld des menschlichen Miteinanders gehört. Der Bereich des Sozialen als Teil des Umgangs mit der umgebenden Natur muss von uns zugleich zusammengefügt werden mit der Entwicklung über die Werkzeugherstellung und extra behandelt werden, weil die Entwicklung der Bereiche in den jeweiligen Produktionsverhältnissen getrennt geschah. Zu untersuchen ist demnach ein Trennungszusammenhang, darin die Geschichte der Trennung und die Neuzusammenfügung auf historisch möglicher Stufe.
Da die Entwicklung im fürsorgenden Bereich weder zum kapitalistischen Projekt des Profitmachens gehört, aber dennoch als unabdingbare Grundlage erledigt werden muss, führte dies dazu, dass alles Zukünftige in Bezug auf gutes Leben auf schmale Kost gesetzt war. Es wurde weitgehend von Frauen in Familien extra erledigt, mit dem Resultat, dass letztere illusionär verklärt wurden als Fluchtburgen vor den Verhältnissen in der gesellschaftlichen Lohnarbeit. So wurde Frauen die Realisierung der Hoffnungen auf Glück illusionär an isolierten Orten abverlangt. Sie verkörpern somit ein illusionäres Gemeinwesen, was mit der Realität ihrer Lebenslagen wenig gemein hat. Zu den Blockierungen, welche die gewohnten Geschlechterverhältnisse in die Befreiung aus Unterdrückungsverhältnissen bringen, gehört auch der Verlust an Sprache. Die auf Glück und Zukunft gerichteten Hoffnungsworte kamen allesamt in Verruf, sodass etwa Heim oder Heimat nur mehr mit Bitterkeit gehört werden können. Sprechen wird zu einem Balanceakt, in dem losgelassen werden muss, und festgehalten in einem. Aus der Geschichte der Trennungszusammenhänge können wir schlussfolgern, dass beide Geschlechter sich im umfassenden Sinn ihr »menschliches Wesen« nicht aneignen, sondern wir uns weiter in der Vorgeschichte der Menschheit finden. Umfassende Aneignung würde andere Menschen hervorbringen, zukünftige, nicht Männer und Frauen im sozialen Sinn.
Zwei Problemfelder wären zu erforschen: Wir können historisch verfolgen und belegen, dass Frauen tatsächlich von Wissen und Können in den meisten männlichen Entwicklungspfaden ausgeschlossen waren, teils noch sind. Ist es also an der Zeit, dass kompensatorische Erziehung und die entsprechenden Räume hier ausgleichend geschaffen werden, sodass Frauen den Männern ähnlich bis gleich werden? Dieser Gedanke bestimmt Reformpolitik im Großen und Ganzen. Er hinterlässt allerdings die Frage, wieso es dennoch trotz immerhin etwa 100jähriger Übung nicht zum Erfolge führte, zwar in vielen Bereichen Änderungen erbrachte, aber nicht wirklich nachhaltig wirksam wurde, Frauen den Männern sozial anzugleichen. Es bleibt der soziale Bereich, ohne den kein Überleben gesichert ist, ein vernachlässigter Bereich von Frauen. Von Erfindungen und Werkzeugmaschinen kann keiner leben – es steht schon in der Bibel, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt – aber wie dann? Auch hier ist ein kompensatorischer Weg schon begonnen in Gestalt der Möglichkeit für Männer, statt Wehrdienst Soziale Dienste in Altersheimen, Krankenhäusern abzuleisten. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wurde dies allerdings zurückgefahren.
Aber wäre dies eine Möglichkeit auf dem Weg menschlicher Entwicklung, dass beide Geschlechter sich des Werkzeugsektors ebenso annähmen wie des fürsorgenden zu gleichen Teilen – eine Art polytechnisch-sozialer Ausbildung? Dass sie sich also ihr menschliches Wesen in zwei Richtungen gemeinsam aneigneten? Bislang wurde wenig erforscht, wie menschlich-gesellschaftliches Sozialverhalten perspektivisch sein könnte bzw. es wurde zur Spezialdisziplin für die Philosophie der Ethik, wo es, wiederum von Männern betrieben, den Weg bis in die Niederungen menschlichen Miteinanders in der Form von Erziehungslehren, kirchlich empfohlener Ethik auch das Alltagsverhalten regelt. Das Auseinander der Bereiche – Werkzeugentwicklung bis zur Hochtechnologie und Ethik menschlichen Miteinanders – treibt eigentümliche Blüten, so Ethikkommissionen für die Stammzellforschung.
Wie aber lässt sich die Frage nach der Aneignung des menschlichen Wesens durch den weiblichen Teil der Menschheit weiter treiben? Gehen wir davon aus, dass ein schwierig balanciertes Miteinander den bisherigen Entwicklungsgang menschlicher Vergesellschaftung bestimmte, in dem Frauen die Unterlegenen und zugleich Lebensnotwendigen waren und sind, und dass dieses Gleichgewicht stets gefährdet und umkämpft ist, so können wir gleichfalls davon ausgehen, dass es gar keine perspektivische Lösung gibt, kein Fernziel, in dem nicht beide Geschlechter angerufen und beteiligt sind, umfassend Herrschaftsfesseln abzustreifen, beide zu gewinnen und zu verlieren haben. Zugleich können wir annehmen, dass unsere Fragen nach menschheitlicher Entwicklung komplizierter werden müssen. Nicht kompensatorische Erziehung in die eine oder andere Richtung, sondern Wegarbeiten der wechselseitigen Stützung und Blockierung, um überhaupt Raum und Zeit zu finden, sich menschliche Wesenskräfte anzueignen, in menschlicher solidarischer Liebe und Fürsorge und Entfaltung der erfinderischen Kräfte das Leben und seine Bedingungen zu ermöglichen und zu verbessern. Unsere Initiativen können weder »Frauen in Männerberufen« befürworten noch »gender-mainstreaming«, schon gar nicht einfache Gleichstellung, die wir dann als Gerechtigkeit feiern. Weil in den bisherigen Geschlechterverhältnissen Zustimmung zu herrschaftlichen Produktionsverhältnissen so hergestellt wurde, dass die Ausschließung des weiblichen Teils als sinnvolles Leben legitimiert und von beiden Geschlechtern stets reproduziert wurde, werden praktisch beide Geschlechterformen neu kulturell und praktisch gefasst und erfahren werden müssen. Dies wiederum ist bereits ein Schritt in eine andere Gesellschaft. Die Fragen der Geschlechterverhältnisse verschränken sich mit denen der Ökologie und der Demokratie. Es muss also »eine Lehre erarbeitet« werden, um mit Gramsci zu sprechen (vgl. Haug in diesem Heft, 573ff), in der alle diese Kräfte in Bewegung sind und sichtbar wird und verstanden werden kann, wie die sie tragenden Verhältnisse unheilvoll verschränkt sind, so dass sie sich wechselseitig in notwendiger Befreiung behindern. Zu studieren sind dann insbesondere Ungleichzeitigkeiten, also nicht nur, wie stark die Blockierung ist, sondern vor allem, wie es gelang, sie zu lösen.
Dabei gehen wir davon aus, dass die herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine Gewähr dafür sind, dass die Sache weiterläuft. Sie setzen voraus, dass das Leben weitergeht, dass also Menschen gemacht werden, die notfalls für einander sorgen, schlimmste Verwahrlosung verhindern. Gesetze umstellen diesen Gang, sodass zur Sorge auch gezwungen werden kann, unentgeltlich, wer überhaupt lebt. In der Krise erst werden solche umfassenden Fragen nach Veränderung stellbar.
Frigga Haug
Literatur
Haug, Frigga, Fragen der Subjektkonstitution. Gründungstext des Projekts »Versuch einer Rekonstruktion der Kritischen Psychologie unter Einschluss der Frauenfrage«, Juli 1983, http://www.friggahaug.inkrit.de/
Haug, Wolfgang Fritz, »Aneignung«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg-Berlin 1994, 233-249
Holzkamp, Klaus, Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M-New York 1983
Hrdy, Sarah Blaffer, Mütter und Andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat, Berlin 2010
Keiler, Peter, »Aneignung: historisch-kritische Analyse eines pädagogisch-psychologischen Topos«, in: Forum Kritische Psychologie 57/2013, 153-167
Leontjew, A.N., Probleme der Entwicklung des Psychischen, Frankfurt/M 1973
Marx, Karl, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: MEW 1, 378-391
ders., »Thesen zu Feuerbach«, in: MEW 3
ders., »Das Kapital 1«, in: MEW 23
Osterkamp, Ute, Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung 1, Frankfurt/M 1975
Sève, Lucien, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Berlin/DDR-Frankfurt/M 1972
1 Aristophanes erinnert an die Zweiteilung der zweigeschlechtlichen ersten Kugelmenschen, die fortan einander suchen und begehren und je nachdem Kinder zeugen oder, wenn es die gleichen Geschlechter sind, sich zu sättigen, um sich ihrer Arbeit zuzuwenden (33f). Dies wird Begründung, dass »die Liebe zueinander den Menschen eingepflanzt [ist]: sie stellt die ursprüngliche Natur wieder her und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen«(34). Da aber die Wesen, aus denen Menschen wurden, mann/weiblich waren, ergeben sich nach der Zerschneidung unterschiedliche Mischungen und Begehren. So erklärt er die lesbische, die heterosexuelle Liebe und schließlich als höchste die Liebe der Männer zueinander, die ihre Freude daran haben, »neben den Männern zu ruhen und von Männern umschlungen zu werden, und es sind dies gerade die trefflichsten von den Knaben und Jünglingen, weil sie die mannhaftesten von Natur sind […]; nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies, sondern aus mutigem, kühnem und mannhaftem Geistestriebe, mit welchem sie dem ihnen Ähnlichen in Liebe entgegenkommen«. Diese Liebe wird mit Staat unterlegt: dass »solche allein, wenn sie herangewachsen sind, Männer werden, die sich den Staatsgeschäften widmen«.
2 Das war eine Forderung und Veröffentlichung marxistischer Frauen: »Wir wollen alles! Beruf – Familie – Politik«, Frauenarbeit u. Frauenbewegung; Materialien der Frauenkonferenz des IMSF vom 20./21. November 1982 in Frankfurt/M.
3 Peter Keiler hat wiederholt sowohl zu den Entwicklungen in der kulturhistorischen Schule als auch über die Mehrdeutigkeit der Kategorie Aneignung geschrieben – zuletzt 2013, was aber zu unserer Fragestellung nach der spezifischen Konstellation des weiblichen Geschlechtes nichts sagt.
4 1983 gründete sich das Projekt Kritische Psychologie der Frauen, mit dem Vorhaben, die Frauen in die Kritische Psychologie einzuschreiben. Vgl. den Gründungstext auf meiner Website.
5 Auf der Suche nach den vergessenen Frauen in der Geschichte gab es auch Vorschläge, die eigentliche Werkzeugherstellung Frauen zuzuschreiben – Töpfe und Siebe z.B. – um sie am menschlichen Wesen teilhaben zu lassen.
© DAS ARGUMENT 303/2013, 501-507