An der State University of New York (SUNY) in Potsdam, im Norden des Bundesstaates New York nahe der Grenze zu Kanada gelegen, fand am l. und 2. September 2008 eine Tagung über „The Transformation of Historical Scholarship in Eastern Germany Since 1990“ statt. Die Initiative und Gesamtleitung lagen bei Axel Fair-Schulz, SUNY/Department of History, und Mario Kessler, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam (D) bzw. New York. Als von den damaligen Umbrüchen betroffene Hochschullehrer nahmen Stefan Bollinger, Werner Röhr und Jörg Roesler (alle Berlin), Rainer Schnoor (Potsdam) und Ludwig Elm (Jena) teil. Sie referierten über persönliche Erfahrungen auf den jeweiligen Wissenschaftsgebieten sowie in den Forschungsrichtungen und -institutionen während und nach der Wende von 1989/90 und trugen dazu ihre Einschätzungen und Folgerungen vor.
Die prominentesten Teilnehmer waren Georg Iggers, SUNY in Buffalo, und Konrad Jarausch, University of North Carolina in Chapel Hill. Der wegen jüdischer Herkunft mit der Familie aus Deutschland vertriebene und in den USA stets für Bürgerrechte und internationale Verständigung engagierte G. Iggers wurde weltweit bekannt durch fundamentale Beiträge zur Historiographie. Er erhielt im Oktober 2007 das Bundesverdienstkreuz. Mit K. Jarausch war der renommierteste US-amerikanische Autor zu deutscher Zeitgeschichte seit 1945 als Redner und Partner in den Debatten dabei. Ferner leisteten Marcus Aurin, University of Chikago, und William Pelz, Elgin College/Chikago, Beiträge. Letzterer hat u. a. über die europäische Linke sowie über Wilhelm Liebknecht und die deutsche Sozialdemokratie gearbeitet und publiziert. Die Tagung wurde vom Dekan des Departments of History eröffnet und später auch vom Präsidenten der Universität, John Schwaller, begrüßt.
Mario Kessler referierte einführend zur ost- und westdeutschen Geschichtsschreibung nach 1945 und behandelte schwerpunktmäßig die erste Phase der Nachkriegsgeschichte bis etwa 1961. Ausgehend von 1938 geäußerten Erwartungen des emigrierten antifaschistischen und marxistischen Historikers Arthur Rosenberg an die Geschichtsschreibung nach Hitler skizzierte er deren gegensätzliche Ausgangspunkte und konzeptionelle Grundlinien in der Frühzeit beider deutscher Staaten. Das wurde an der Übersicht zu damals jeweils tonangebenden Historikern veranschaulicht und in die konträren gesellschaftspolitischen Entwicklungen eingeordnet: Weitreichende personelle Kontinuität auf bundesdeutschen Lehrstühlen seit den zwanziger und dreißiger Jahren einschließlich jener Professoren, die sich in dieser oder jener Weise mit der Nazidiktatur arrangiert hatten. Auch schwerwiegendes Versagen im Verbrecherstaat und Mitschuld als Schreibtischtäter schloss im Verlauf der westdeutschen Restauration Verbleib und neue Schlüsselpositionen nicht aus. Hier nannte Kessler u. a. Hermann Aubin. Werner Conze, Günther Franz, Hermann Heimpel und Theodor Schieder. Nicht überraschend erscheint somit, dass die emigrierten Historikerkollegcn kaum zur Rückkehr ermuntert wurden. Ausgehend von wissenschaftsmethodischen Kontinuitäten und der intensiven Aufnahme des Totalitarismuskonzepts eröffnete der Referent den Blick auf die ab Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Modernisierungen, insbesondere durch die Zuwendung zur Sozialgeschichte. Die Verdrängung der Mitverantwortung von Historikern in der NS-Zeit dauerte – wie der in anderen Wissenschaftsdisziplinen – dank der Anpassung und Beihilfe der Schüler im Wesentlichen noch Jahrzehnte an.
In SBZ und DDR erlangten linke Intellektuelle, die aus Widerstand und Verfolgung, Emigration und Untergrund kamen, in einem entschiedenen Neuansatz geschichtswissenschaftlicher Forschung und Bildung Einfluss und entscheidende Positionen. Als Kommunisten, Sozialisten und bürgerliche Demokraten waren sie überzeugt und bereit, an der radikalen Umgestaltung und Erneuerung von Gesellschaft, politischem System und geistig-kulturellem Leben teilzunehmen. Dabei erscheinen Namen wie Walter Bartel, Ernst Engelberg, Jürgen Kuczynski, Walter Markov, Alfred Meusel, Heinrich Scheel, Albert Schreiner, Leo Stern und Joachim Streisand. Arnold Reisberg und Wolfgang Ruge kamen aus Lagern Stalins in die DDR. Kessler erörterte die Widersprüche und Probleme, die sich aus dem Macht- und Führungsanspruch der SED auf allen Gebieten sowie den inneren und internationalen Gegebenheiten des ostdeutschen Staates zu Lasten der ursprünglichen Vorstellungen und für das Wirken der Historiker der ersten und der nachfolgenden Generation ergaben. Er schloss mit einem kritischen Blick auf den Umgang des bundesdeutschen Establishments mit der ostdeutschen Geschichtswissenschaft um und nach 1990 sowie mit der Frage, was von dieser künftig bleiben oder nachwirken werde.
Das Bemühen um eine differenzierte, kritische wie gerechte Würdigung der Geschichtswissenschaft der DDR sowie begründete Distanz zu dem ab 3. Oktober 1990 erfolgten Abbruch wesentlicher Forschungstraditionen und -projekte bestimmte den Tenor und Hauptinhalt der Referate und der jeweils dazu erfolgten Nachfragen, Einwände und Ergänzungen. Das schloss Kritik – wie sie vor allem von Iggers und Jarausch artikuliert wurde – und Selbstkritik an Defiziten und Fehleinschätzungen der geschichtswissenschaftlichen Forschung und Lehre im realen Sozialismus ebenso ein wie die Hinweise auf gültige Ansätze und Resultate, die seither gegen Totschweigen, pauschale Denunziation und neues politisches Duckmäusertum von Akademikern zu erinnern und zu verteidigen sind. Die Erfahrungsberichte der in den damaligen Umbrüchen unmittelbar Betroffenen behandelten Querschnittsprobleme und Fallstudien: Die deutsche Vereinigung und die Debatte in den westdeutschen Sozialwissenschaften (S. Bollinger), Die Liquidierung der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte: Ein typischer Anschluss-Vorgang (J. Roesler), Konservatismusforschung – Geschichte und Ende eines interdisziplinären Projekts (L. Elm), Der Abbruch der Geschichtswissenschaft der DDR: Das Beispiel der Universität Leipzig (W. Röhr) und Die ostdeutschen Amerika-Studien seit 1989 (R. Schnoor).
G. Iggers ging unter Einbeziehung seiner Kontakte und Gespräche mit ostdeutschen Kollegen in seinem Beitrag der Frage nach, wo sich die Geschichtswissenschaft der DDR zum Zeitpunkt der staatlichen Vereinigung befunden habe. Ebenfalls auf persönliche Eindrücke und Erfahrungen zurückgreifend, erörterte K. Jarausch die Umgestaltung des Hochschulstudiums am Beispiel der Humboldt-Universität. Beide Gelehrte trugen durch ihre weltoffene Herangehens- und Sichtweise – gründend auf umfassende internationale politisch-wissenschaftliche Erfahrungen – sowie eine liberale Skepsis gegenüber bundesdeutscher Selbstgerechtigkeit, ideologischem Eiferertum und autoritärem Politikstil wesentlich zum konstruktiven Verlauf der Veranstaltung bei. In der abschließenden Roundtable-Diskussion bekannte sich Iggers als demokratischer Sozialist, wobei er offensichtlich der sozialdemokratischen Linie am nächsten steht.
Den gleichen Geist sachlicher Herangehensweise atmeten auch die Beiträge von W. Pelz (Die Revanche der Krupps? Betrachtungen über das Ende der DDR-Geschichtsschreibung), A. Fair-Schulz (Die Auflösung des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR) und M. Aurin (Zur kaum bekannten zweiten Wissenschaftskultur in Ostdeutschland nach 1990). Meredith Heiser, Foothill College/ Kalifornien, stellte am Abend des zweiten Konferenztages den 1965 verbotenen DEFA-Film „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig – „The Rabbit is Me“ mit englischen Untertiteln – vor und diskutierte mit interessierten Studenten und weiteren Zuschauem den historisch-politischen Hintergrund und künstlerischen Rang des Werkes. Georg Iggers sprach in einer weiteren Abendveranstaltung über sein ebenso bewegtes wie reiches politisches und wissenschaftliches Leben und präsentierte die unter dem Titel „Two Lives in Uncertain Times“ erschienenen Memoiren von sich und seiner Frau Wilma (die durch Erkrankung an der Teilnahme verhindert war). Auch dieses Angebot fand – wie Teilnahme und Diskussion zeigten – ein erfreuliches studentisches Interesse.
Altbundesdeutsche Historiker waren der Einladung zur Konferenz nicht gefolgt. Die ignorante und desinteressierte – sicher auch politisch berechnende – Verhaltensweise ist noch im Jahr 2008 symptomatisch: Eine mit den um 1990 Betroffenen in einem offiziellen akademischen Rahmen sowie in sachlicher und fairer Weise durchgeführte Veranstaltung zu einem solchen Thema ist noch fast zwanzig Jahre nach der staatlichen Vereinigung in diesem Land kaum vorstellbar und tatsächlich bisher nicht möglich gewesen. Mancher etablierte bundesdeutsche Lehrstuhlinhaber wäre sicherlich dazu persönlich nicht abgeneigt. Die intolerante und aufklärungsfeindliche Atmospäre in der Bundesrepublik lässt es jedoch auch gesprächsbereiten Kollegen geraten erscheinen, sich vorerst nicht auf bestimmte Themen und Partner einzulassen. Der eigentliche Unterschied besteht offensichtlich darin – und erinnert den Verfasser dieses Berichts an die Erfahrung bei der Tagung zur HV A in Odense im November 2007 (vgl. MB, 1-08) – dass bei einem nach Umgang und Rang ansehnlichen Teil US-amerikanischer Wissenschaftler eine gelebte – und nicht nur in Lehrbüchern, Festreden und Leitartikeln verkündete – Liberalität und Pluralität anzutreffen ist. Sie schließt Achtung auch gegenüber Persönlichkeiten und deren Lebenswegen ein, die von der anderen Seite der früheren Barrikaden kommen, zumindest teil- und zeitweise irrigen Anschauungen anhingen oder sogar noch heute in wesentlichen Fragen andere Sichtweisen und Meinungen vertreten.
Die von Anbeginn in den Traditionen und mit den Prämissen und Inhalten eines militanten Antikommunismus erfolgte Ideologisierung der politischen Kultur der Bundesrepublik ist insbesondere auch in den zeit- und politiknahen Bereichen weiterhin vorherrschend. Sie ist seit eh und je auch im Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik virulent und wirksam – bis zur nachhaltigen Herabsetzung und Ausgrenzung insbesondere des linken Spektrums. Das wurde um und nach 1990 zielstrebig auf die neuen Bundesländer ausgedehnt und verriet das offizielle Verständnis von Vereinigung. Vielfach findet sich in der Berufungspolitik seit 1990 die Kehrseite der rigorosen Verdrängung der von einer marxistischen und antifaschistischen Herkunft geprägten Wissenschaftler. Beispielsweise wurde der Politikwissenschaftler Eckart Jesse an der Universität Chemnitz Lehrstuhlinhaber, der mit einem rechtsgerichteten Totalitarismus- und Extremismuskonzept nicht nur dem deutschnationalen Flügel der sächsischen und Bundes-CDU, sondern auch dem grassierenden Rechtsextremismus direkte und indirekte theoretisch-ideologische Schützenhilfe leistet.
Nach zwei Enquete-Kommissionen des Bundestages (zwischen 1992 und 1998) agieren die 1998 errichtete Bundesstiftung zur „SED-Diktatur“ sowie Haupt und Gliederungen der Birthlerschen Untersuchungs- und Verfolgungsbehörde als finanziell, personell und medial aufwändig protegierte Vortrupps militant antikommunistischer Desorientierung und Massenbeeinflussung. Daneben sind ohnehin Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, parteinahe und weiteren Interessengruppen verpflichtete Stiftungen, Verlage und Medien sowie andere Einrichtungen und Gruppen im Sinne der vorherrschenden Geschichtsideologie wirksam. Weitgehend totgeschwiegen und offiziell geächtet wird die nicht zuletzt im Ergebnis der Ausgrenzung aus den Hochschulen entstandene zweite Wissenschaftskultur. Sie findet sich vor allem in der ebenfalls föderal strukturierten Rosa-Luxemburg-Stiftung und weiteren Vereinen und Gruppen. Die Wahlerfolge der Linken veranschaulichen, dass die ihr nahestehenden intellektuellen Gruppen auch eine bemerkenswerte demokratische Legitimation besitzen. Sie vertreten authentisch historisch- politische Erfahrungen, Einsichten und Folgerungen beträchtlicher Teile insbesondere der ostdeutschen Bevölkerung. Das alles lässt die offizielle Geschichtspolitik unbeeindruckt. Seit Jahren die alternativen Initiativen und Resultate völlig ignorierend, scheuen sich die meisten Politiker und Publizisten nicht, insbesondere vor Wahlen und bei innenpolitischen Konfliktsituationen ihre linken Gegner zur angeblich ausstehenden Geschichtsaufarbeitung aufzufordern. Vor allem hei CDU/CSU und FDP erweisen sich die demagogischen Vorwürfe als hauptsächliches und ablenkendes Mittel, weiterhin weder die eigenen Herkünfte vor 1945 noch die Rolle in der bundesdeutschen Restauration ab 1948/49 endlich schonungslos offenzulegen.
Von Politikern und Wirtschaftsbossen bis zu Publizisten, Lehrern und Wissenschaftlern sowie einem Teil der Schriftsteller und Künstler findet sich eine latente, keineswegs offen eingestandene, Parteilichkeit, die sich als Mainstream auch anmaßt und beansprucht, Inhaber und legitimer Repräsentant der offiziellen Verheißungen von freier Rede und Schrift, von liberaler und pluralistischer Öffentlichkeit zu sein. Sie schließen antikommunistisch motivierte Einschränkungen und Verletzungen der proklamierten hehren Prinzipien geradezu selbstverständlich ein. Nicht zuletzt auf dem Gebiet der Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung, der historischen Bildung und Unterhaltung sowie den darin einzuschließenden öffentlichkeitswirksamen Gebieten des Erinnerns und Gedenkens zeichnen sich unter diesen Vorzeichen gegenwärtig neue, weitergehende Rechtsverschiebungen ab. In den jüngsten geschichtspolitischen Vorstößen seitens der CDU/CSU und des weiteren konservativ-nationalistischen Umfelds wird die antikommunistische Speerspitze geschärft. Das geschieht sogar zu Lasten der Überlieferung objektiver bürgerlicher Geschichtsschreibung und wird sich damit selbst als ein Zeichen von Unsicherheit und Schwäche erweisen.
Im Einklang mit der bundesdeutschen Geschichte gilt es nunmehr auch im Umgang mit dem Erbe der DDR sowie seinen tatsächlichen oder vermeintlichen Repräsentanten: Marginalisierung und Ausschluss kapitalismuskritischer, radikaldemokratischer und sozialistischer, gar marxistisch intendierter Geschichtsanalyse und -vermittlung. Die illiberale Grundtendenz verrät ihre äußersten Konsequenzen in der überlieferten und längst erneuerten Feindseligkeit gegenüber den im europäischen Hauptstrom des Antifaschismus und den im ernstzunehmenden Pazifismus wurzelnden historisch-politischen Darstellungen und politischen Konzepten. Alles andere als zufällig somit, dass die vorgestellte Tagung in dieser Weise nicht im deutschen, sondern im nordamerikanischen Potsdam stattfand. Auch für die absehbare Zukunft bedürfen Geschichtspolitik sowie historische Forschung und Bildung in der Bundesrepublik der Stimmen und Einflüsse des liberalen und linken Auslands, um provinzielle Borniertheit zurückzudrängen, eine größere Objektivität herrschender Geschichtsbilder zu erreichen und deren überparteiliche, aufklärerische Verpflichtungen auch in diesem Land zu verwirklichen.