Faschismus oder Nationalsozialismus?

Eine Aufforderung zur Diskussion

in (15.12.2017)

 

Eine Aufforderung zur Diskussion

Wenn es um die Jahre 1933–1945 der deutschen Geschichte geht, wird in der Bundesrepublik – in Medien, Publizistik, Presse (Organe wie Neues Deutschland oder Institutionen wie die berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand 1933–1945 nicht ausgenommen) wie auch vielfach in der wissenschaftlichen Literatur – diese Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland mit dem Begriff Nationalsozialismus umschrieben, und deren Akteure werden Nationalsozialisten (ohne Anführungszeichen!) genannt. Die Begründung: Die deutschen Faschisten haben sich so bezeichnet. Diesen Verbrechern, die Deutschland und Europa mit millionenfachem Mord, Totschlag, Krieg überzogen hatten, wird ihre Selbstbezeichnung undistanziert und kommentarlos zuerkannt. Aus dem Englischen, wo Faschismus Nazism genannt wird, wird dieser Begriff ins Deutsche mit Nationalsozialismus übersetzt. So z.B. durchgehend in Hitlers willige Vollstrecker von D. J. Goldhagen und Das Ende von Ian Kershaw. Im Gegensatz dazu heißt es bei dem britischen Autor Geoff Eley: Nazism as fascism. Violence, Ideology and the Ground of Consens in Germany 1930–1945 (2013). Die zentrale Frage des Autors: >Ist das Nazi-Regime als ^nationalsozialistisch^^, als spezifisch deutsche Variante ^totalitärer Herrschaft^^ oder als Teil einer internationalen Entwicklung zu begreifen, die einen generalisierenden Faschismus-Begriff rechtfertigt? Eley plädiert nachdrücklich für die zweite Variante<, so Mario Keßler (in: Berliner Gesellschaft, www).

In der Bundesrepublik hat die Argument-Redaktion in den 60er/70er/80er Jahren eine verdienstvolle Diskussion um Faschismus-Theorien geführt. Sie galt den >Ursachen, Wiederholungsgefahren und Verhinderungschancen von Faschismus< (Haug, H. 158/1986, 510). Im Verlauf der Debatte wurde durchgehend der Begriff Faschismus gebraucht – auf den Begriff >Nationalsozialismus< wurde aber nicht explizit eingegangen. Sofern er in Texten zu den die Jahre 1933–1945 betreffenden Veröffentlichungen vorkam, wurde er kommentarlos und ohne Anführungszeichen genutzt. Die Öffentlichkeit wurde von der Debatte offensichtlich nicht beeinflusst – bis heute bleibt es bei Nationalsozialismus und Nationalsozialisten. Im neuesten Duden heißt es zu Faschismus lediglich: >(ital.[!]) antidemokratische, nationalistische Staatsauffassung od. Herrschaftsform<. Zu Nationalsozialismus – nur diese Schreibweise und dazu: >(Abk. NS)< ohne Erläuterung. (Dagegen hieß es im DDR-Duden 1973: >…Nationalsozialismus (Faschismus deutscher Prägung)<).

Als ein Beispiel für den Umgang mit dem Begriff Nationalsozialismus in der wissenschaftlichen Literatur sei hier In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939–1945 (Band 13 der Reihe Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 2014) von Michael Schneider zitiert. Wie schon in seinem Bd. 12 derselben Reihe, in dem es um die Jahre 1933–1939 geht, benutzt der Autor unkommentiert und ohne jede Einschränkung den Begriff >Nationalsozialismus<. Seine >Begründung< (wie schon im Bd. 12): Andere Begriffe, so auch der Begriff >Faschismus<, enthielten die >Gefahr, sie bei der Zusammenfassung von Forschungsergebnissen zur Reduktion der komplexen und vielfach in sich widersprüchlichen Realität zu gebrauchen und damit für – auch aktuell-politisch verwertbare – Generalisierungen zu instrumentalisieren< (48). >Reduktion der... Realität< – worauf? Welche >komplexe Realität< widerspiegeln die vom Autor durchgehend benutzten Begriffe wie >nationalsozialistische Gesellschaftsordnung<, >nationalsozialistischer Staat< u.v.a.m.? Ein Zitat (von vielen): >Die Angehörigen der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft, die sich als ^Volksgemeinschaft^^ stilisierte, schufen also gemeinsam in der alltäglichen Lebenspraxis [...] eine nationalsozialistische Gesellschaftsordnung< (147). War es nicht eine kapitalistische Wirtschafts-/Gesellschaftsordnung? Der Begriff >kapitalistisch< taucht in dem gewichtigen Bd. nur einmal direkt auf (aber nur indirekt bezogen auf die Wirtschaft im faschistischen Deutschland): >Mit ständig verbesserten Produktionsmethoden und Produkten gliederte sich die Wirtschaft des ^Dritten Reiches^^ in den Prozess fortschreitender industrieller Innovation ein, der freilich [!] den der kapitalistischen Produktion innewohnenden Prinzipien folgte< (491). Im Unterabschnitt (Kapitel I.2) >Lenkung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt< (S.252-77) ist u.a. von >Umstrukturierung zugunsten der kriegswichtigen Industrien< und von >Privaten Unternehmern und nationalsozialistischer Politik< die Rede. >Festzuhalten ist, dass nahezu alle Großunternehmen die ihnen gebotenen Möglichkeiten nutzten, ihre Produktions- und damit Gewinnchancen durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitern zu verbessern.< (257)

Die deutschen Faschisten nannten sich Nationalsozialisten. >National< bezog sich auf Deutschland. Was verbanden sie mit dem Begriff >Sozialismus<? Darauf geht der Autor an keiner Stelle ein. Da sollte man sich in diesem konkreten Punkt an Kurt Schumacher halten, der gleich in seiner ersten großen öffentlichen Rede am 6. Mai 1945 in Hannover begründete: Die Gegenrevolution habe um die Gunst der Massen gebuhlt, was ihr dann auch gelang, >als sie begann, den kleinen Mann und den Arbeiter, vor allem eine sozial aufgeschlossene aber urteilslose Jugend durch die ^Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei^^ zu ködern. Durch diese Benennung ist die Idee des Sozialismus schändlich befleckt worden. Wir können bei ihr [der NSDAP] nicht von ^Sozialisten^^ und ^Sozialismus^^ sprechen, sondern nur von ^Nazis^^ und ^Nazismus^^, denn sie ist aus der Feindschaft gegen die arbeitenden Klassen und als Instrument des Kampfes gegen ihre Emanzipation entstanden, da man sie anders in der Demokratie nicht mehr beherrschen zu können vermeinte.< (Zit n. K. Schumacher, E. Ollenhauer, W. Brandt, Der Auftrag des demokratischen Sozialismus, 1972, 8)

Bemerkenswert: Christina Meyer zitiert in ihrem Buch Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990 (2015) diesen Gedanken Schumachers nicht und benutzt durchgehend den Begriff >Nationalsozialismus<, überwiegend (wie auch die meisten anderen Autoren) als Abkürzung NS.

2004 veröffentlichte Karl Heinz Roth in dem von ihm mitbegründeten Periodikum Sozial. Geschichte (H.2, 31-52), einen Beitrag zu dem hier aufgeworfenen Problem: >Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft<. Der Begriff Nationalsozialismus, schreibt er, verschleiere den militanten Antisozialismus der deutschen Faschisten, schlage die Brücke zur Totalitarismusdoktrin, sei germanozentrisch, nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt (vgl. 33). Der Begriff sei in der Bundesrepublik heute als Normkategorie der historischen Analyse verankert: Wer in der Forschung als angehender Wissenschaftler >von der im Begriff ^Nationalsozialismus^^ semantisch verankerten Singularitätsform abweicht, kann in bestimmten historischen Zeitschriften und Verlagen nicht publizieren und muss bei akademischen Qualifikationsarbeiten nicht selten mit einer Notenverschlechterung rechnen. Auch die um die wenigen noch vergebenen wissenschaftlichen Arbeitsplätze konkurrierenden post graduates wissen, warum sie bei der Formulierung ihrer Forschungsanträge Vorsicht walten lassen und nur vom ^Nationalsozialismus^^ und der ^nationalsozialistischen Herrschaft^^ sprechen.< (34)

Unter den Kennzeichen des deutschen Faschismus gegenüber anderen diktatorischen Regimes nennt Roth den völkisch-chauvinistischen Nationalismus, den Ersatz des Prinzips der Gewaltenteilung durch das Führer-System, die kolonialistischen Herrschaftspraktiken (vgl. 39), das ethnozentrische, zum Völkermord führende Herrenmenschen-Denken, extreme Gewalttätigkeit, zu Raubtierpraxis gesteigerten Rassismus und Antisemitismus (vgl. 40-42) mit dem barbarischen Schlusspunkt des Völkermordes an den europäischen Juden. Roth betont das Selbstverständnis des Faschisten als Hüter und Bewahrer des kapitalistischen Eigentums (vgl. 42f) wie auch die aktive Beteiligung der Wirtschaftseliten an dem kriegsorientierten Hochrüstungskurs ungekannten Ausmaßes im Friedenszustand. Unter Varianten des Faschismus nennt er neben dem deutschen die Regime in Österreich, Italien, Spanien, Portugal sowie in mittel- und osteuropäischen Ländern Europas.

Roth plädiert >für eine transnationale und komparative Sichtweise auf die faschistische Epoche, was ein theoretisches Modell und den Verzicht auf den wegen seines Singularitätsanspruchs untauglichen Schlüsselbegriff ^Nationalsozialismus^^ voraussetzt. Dadurch werden wir in die Lage versetzt, den Faschismus nicht nur in seinen europäischen Varianten und Kontexten zu vergleichen, sondern auch in seinen weltgeschichtlichen Dimensionen zu begreifen.< (52) Sein Beitrag löste keine Diskussion aus – in der Öffentlichkeit nicht und ebenso wenig in der wissenschaftlichen Literatur. Auch die Redaktion der Zeitschrift Das Argument ging auf die von Roth gestellte Frage nicht ein. In dem vom Argument Verlag 2007 neu herausgegebenen Band >Faschismus und Ideologie< (Erstveröffentlichung 1980) erwähnt lediglich Herausgeber Klaus Weber unter der Zwischenüberschrift >Faschismus – Faschismen – Begriffspolitik< – und das eher abfällig – Karl Heinz Roth: >Gegen die Verwendung des Terminus Nationalsozialismus zieht Karl Heinz Roth zu Felde.< Weber gibt Roths Argumente wieder, formuliert aber nicht seine eigene Position zu der von Roth gestellten Frage.

Sollte die Redaktion des Argument, die am Begriff Faschismus festhält, in deren Veröffentlichungen aber (so mitunter in Buchbesprechungen, bei denen es um die Jahre 1933–1945 in Deutschland geht) unkommentiert auch der Begriff Nationalsozialismus verwendet wird, nicht doch die von Roth 2004 aufgeworfene Frage – im Sinne der von ihr vor Jahrzehnten geführten Faschismus-Debatte – aufgreifen?

Ulla Plener