Linke Regierungen in Lateinamerika warnen vor militärischem Eingreifen in Libyen. Chávez fordert eine internationale Kommission
Die meisten links regierten Staaten Lateinamerikas scheuen sich vor einer Parteinahme in dem gewaltsamen Konflikt in Libyen. Kuba und Venezuela rechnen aufgrund des libyschen Öls mit einer militärischen Invasion der NATO und wenden sich strikt gegen Einmischung von außen. Vor allem Venezuela wirft den Medien Manipulation der Lage vor. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez schlägt eine internationale Friedenskommission statt eines Militäreinsatzes vor.
Für die wichtigsten politischen Akteure gelten die Tage des libyschen de-Facto-Staatsoberhauptes Muammar al-Gaddafi als gezählt. Die USA und die EU setzen offen auf einen Regierungswechsel und schließen mit Hinweis auf die andauernde Gewalt in dem nordafrikanischen Land auch eine Militärintervention nicht aus. Über Fürsprecher scheint Gaddafi auf internationalem Bankett nicht mehr zu verfügen. Die mittlerweile lukrativen Geschäfte mit dem Langzeitherrscher, der seit 1969 an der Macht ist, ließen sich bei politischer Stabilität schließlich mit anderen weiterführen. Laut Medienberichten hat Gaddafi die Kontrolle über einen Großteil des Landes bereits verloren.
Einige der links regierten Staaten Lateinamerikas tanzen jedoch aus der
Reihe. Während der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega gar offene
Solidaritätsbekundungen an Gaddafi übermittelt, vermeiden Länder wie
Venezuela, Kuba, Bolivien und Ecuador zumindest eine klare
Positionierung. Ihre Hauptsorge gilt einer möglichen militärischen
Intervention des Westens. Der kubanische Ex-Präsident Fidel Castro
warnte in seinen „Reflexionen“ davor, dass die NATO Lybien besetzen
wolle, um sich den Zugang zum Öl zu sichern. Die kubanische Regierung
sprach sich klar gegen politische Einmischung in Libyen aus. Die
venezolanische Regierung teilt diese Sorge. Einige Tage nach Beginn der
gewaltsamen Auseinandersetzungen meldete sich Präsident Hugo Chávez am
24. Februar erstmals zu Wort. „Es lebe Libyen und seine Unabhängigkeit!
Gaddafi sieht sich einem Bürgerkrieg ausgesetzt“, ließ der über seinen
Twitter-Acount verlauten. Der venezolanische Außenminister Nicolás
Maduro äußerte sich zeitgleich während einer Fragestunde im Parlament
ausführlicher zu dem Thema. „Wir setzen uns für Unabhängigkeit, Frieden
und Souveränität des libyschen Volkes ein“. Derzeit würden in dem
nordafrikanischen Land die Konditionen dafür geschaffen, eine
militärische Intervention zu rechtfertigen, sagte Maduro.
In seiner Rede verwies er darauf, dass Libyen als ein vitales Mitglied
der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) von einer Zerteilung
bedroht sei. Den großen Nachrichtenagenturen warf er vor, Meldungen aus
dem Land zu manipulieren. Es werde vielleicht Wochen dauern, bis bekannt
würde, was wirklich passiert sei. „Erinnern wir uns daran, wie alle
internationalen Agenturen verbreiteten, dass Präsident Chávez ein Mörder
sei“, sagte Maduro in Anspielung an den gescheiterten Putsch im April
2002. Damals hatten venezolanische und internationale Medien
nachweislich falsch informiert. Die von den PutschistInnen geschickt
inszenierten Falschmeldungen dienten unter anderem den USA und der EU
als Grundlage für die Anerkennung der Putschregierung unter dem
Kurzzeitdiktator Pedro Carmona. Einigen westlichen Regierungen warf der
Außenminister zudem Heuchelei und Doppelmoral im Umgang mit Libyen vor.
„Warum fordern sie nicht die Bestrafung jener, die Tag für Tag im Irak,
in Afghanistan und Pakistan morden?“
Chávez sprach einige Tage später von einem „Netz aus Lügen“, das über
Libyen gespannt werde und die Gefahr eines Einmarsches vergrößere. Den
USA warf er bewusste „Übertreibungen“ der Situation vor. Eine
vorschnelle Verurteilung Gaddafis lehnte er daher ab. „Vielleicht haben
Andere Informationen, die wir nicht haben“, sagte er. Aufgrund der
unklaren Faktenlage sei es jedoch „feige“ jemanden zu verurteilen, „der
lange Zeit unser Freund gewesen ist“, sagte Chávez.
Damit nimmt die venezolanische Regierung gegenüber Libyen eine etwas
andere Position ein als zuvor gegenüber den Ereignissen in Ägypten und
Tunesien, wo seit Jahrzehnten US-freundliche Herrscher regierten.
Venezuela hatte sich zwar auch dort zunächst zurückhaltend geäußert, die
Umstürze aber letztlich offen begrüßt. Der ägyptischen Bevölkerung
hatte Chávez zu ihrem „friedlichen Triumph“ der „sozialen Rebellion“
gratuliert, die eine „Lektion in demokratischer und politischer Reife“
darstelle. Bei einer rein verfassungsmäßigen Betrachtung habe es sich
zwar um einen Staatsstreich gehandelt, so Chávez. Dennoch zeigte er sich
mit dem Vorgehen einverstanden, da „die Bevölkerung darüber entscheiden
wird“.
Auch andere linke lateinamerikanische Regierungen begrüßten den Umsturz
in Ägypten. In den Wochen zuvor hatten Chávez und andere Staatschefs in
Lateinamerika wie Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador
eine friedliche Lösung ohne Einmischung von außen gefordert. Zu Libyen
äußerten sie sich ähnlich und betonten vor allem den Wunsch nach einem
Ende der Gewalt, während sie Schuldzuweisungen vermieden.
Die venezolanische Opposition hob ebenfalls den friedlichen Verlauf der
Proteste in Ägypten hervor, zog jedoch Parallelen zur politischen
Situation im eigenen Land. Ramón Guillermo Aveledo vom
Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) sagte in
Anspielung auf Chávez, alle Gesellschaften sollten „sich im Spiegel
betrachten“. Wenn derjenige, der an der Macht sei „sich verewigt und
wenn sich die Wege der Partizipation der Gesellschaft verschließen,
passieren solche Explosionen und Krisen“.
Chávez wies den Vergleich mit Hosni Mubarak, der fast 30 Jahre lang im
Ausnahmezustand regiert hatte, zurück. „Dort gab es tatsächlich eine
Diktatur und über die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut oder extremer
Armut“. Mubarak habe niemals die innerhalb der ägyptischen Bevölkerung
bestehenden Ungleichheiten korrigiert oder die Probleme der Bevölkerung
gelöst. Dies sei die Ursache für seinen Sturz, erwiderte der
venezolanische Präsident. Zum Jahrestag der als Caracazo bekannten
blutigen Niederschlagung antineoliberaler Proteste am 27. Februar 1989
äußerte sich Chávez abermals zu den Vergleichen. Was in Ägypten passiert
sei, habe in Venezuela bereits vor über 20 Jahren stattgefunden. Ob es
sich in Libyen nicht um ein ähnliches Phänomen handeln könnte, ließ er
offen.
Die Rolle des internationalen bad guys hatte Venezuela in der
Libyen-Krise unfreiwillig bereits von Anfang an inne. Einen ganzen Tag
lang berichteten Medien weltweit von dem Gerücht, Gaddafi sei vor den
Protesten zu seinem „engen Verbündeten“ Hugo Chávez geflohen. Die
Information hatte der britische Außenminister William Hague geschickt
gestreut, das Dementi der venezolanischen Regierung konnte die klare
Konnotation nicht verhindern: Hier ein Diktator, dort ein anderer, und
beide führen gute Beziehungen miteinander. Gaddafis wesentlich
wichtigere europäische Verbündete hatten zu diesem Zeitpunkt bereits
begonnen, auf Distanz zu dem früheren Feind des Westens zu gehen, den
sie in den vergangenen Jahren so fürstlich hofiert hatten. Hague hätte
ebenso mutmaßen können, Gaddafi habe sich nach Italien abgesetzt, waren
doch die Beziehungen zu Silvio Berlusconi um einiges enger als etwa zu
Chávez.
Mit Libyen hat Venezuela über die OPEC bereits seit Jahrzehnten enge
Beziehungen. Das einstige Streben Gaddafis nach Unabhängigkeit von
westlichem Einfluss und seine Versuche, afrikanische Länder zu vereinen,
hält sich bis heute als Mythos. Chávez sah in Gaddafi immer einen
Partner für eine multipolare Welt und bezeichnete ihn als „Freund“,
wobei er mit dieser Bezeichnung nicht gerade sparsam umgeht. Der neue
kolumbianische Präsident Manuel Santos etwa ist mittlerweile Chávez‘
„neuer bester Freund“, wodurch sich die Bezeichnung als pragmatische
Floskel entpuppt, die zumindest nichts über ideologische Nähe aussagt.
Ähnlich verhält es sich zu den guten politischen Beziehungen die Chávez
zu umstrittenen Präsidenten wie Mahmut Ahmadinedschad in Iran oder
Alexander Lukaschenko in Weißrussland unterhält. Auf pragmatischer Ebene
geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit auf politischer allenfalls um
ein antiimperialistisches Freund-Feind-Schema. Dies impliziert schwer
verdauliche diplomatische Fehltritte seitens Chávez, wie etwa die
Diffamierung der gewaltsam unterdrückten „grünen“ Protestbewegung im
Iran 2009, die ihn auch in linken Kreisen Sympathien gekostet hat. Die
Innenpolitik der venezolanischen Regierung ist mit jener Libyens, Irans
oder Weißrusslands in der Regel jedoch unvereinbar. Letztlich verfolgt
Venezuela außenpolitisch eine plumpe, interessengeleitete Realpolitik.
In der venezolanischen Linken ist dies im Falle Libyens nicht
unumstritten. Einige Stimmen stellten sich offen gegen den libyschen
„Revolutionsführer“. Der arabisch-stämmige Abgeordnete der regierenden
Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Adel El Zabayar,
sagte in einem Radiointerview, Gaddafi sei schon lange kein
Antiimperialist mehr und habe praktisch die gesamte Erdölproduktion in
die Hände transnationaler Unternehmen gegeben. Nun antworte er auf
Proteste mit einem „Massaker“, während die vom Erdöl und Gas abhängigen
Staaten Europas nach einer für sie günstigen Lösung suchten.
Die dem linken Flügel der bolivarianischen Bewegung zuzurechnende „Marea
Socialista“ (Sozialistische Strömung) erklärte in einem Kommuniqué ihre
„kategorische Solidarität mit der libyschen Bevölkerung“. Gaddafi habe
ein Massaker verübt, das den Völkern der Welt den Horror zeigt, zu dem
„Diktatoren, ob dem Imperialismus zugewandt oder nicht“, fähig seien.
Von einem Unabhängigkeitshelden der 1960er Jahre habe er sich zu einem
„kapitalistischen Diktator und Partner der EU“ entwickelt. Auf dem
chavistischen Basisportal aporrea.org wurde in mehreren Kommentaren
sowohl die Ablehnung Gaddafis als auch einer militärischen Intervention
zum Ausdruck gebracht.
Ende Februar äußerte Chávez schließlich einen Vorschlag zur friedlichen
Beilegung der politischen Krise in Libyen, der eine militärische
Intervention verhindern solle. „Ich bin sicher, dass viele Regierungen
damit einverstanden sind, eine politische Lösung zu suchen, anstatt
Waffen und Panzer gegen das libysche Volk zu entsenden“, sagte er.
„Warum schicken wir nicht eine internationale Kommission, die sich
friedlich für eine Lösung des Konflikts einsetzt?“. In einem Telefonat
mit Gaddafi Anfang März soll dieser dem Vorschlag zugestimmt haben. Die
Staaten der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA) unterstützen
Chávez‘ Anliegen ebenfalls, innerhalb der 22 Mitglieder umfassenden
Arabischen Liga wird er diskutiert. Dass die westlichen Staaten sich
darauf einlassen, scheint allerdings unwahrscheinlich. Frankreich,
England und die USA sprachen sich bereits gegen den Vorschlag aus.
Sprecher der Widerstandsbewegung in Libyen lehnen Verhandlungen mit
Gaddafi kategorisch ab. Auch Saif al-Islam al-Gaddafi, einer der Söhne
des „Revolutionsführers“, zeigte sich wenig erfreut über den Vorschlag.
Die Venezolaner seien zwar Freunde, hätten jedoch „keine Ahnung“ davon,
was in Libyen passiere.
Ausgabe: Nummer 441 - März 2011
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