"Keine Demos und keine Staus mehr“, gab ZDF-Reporter Bela Réthy bereits drei Tage nach dem Eröffnungsmatch von São Paulo Entwarnung – dafür registrierte er entspannt, ohne den furiosen WM-Verlauf voraussehen zu können: „Viele Tore und gekippte Spiele“.
Diese schlichte Einschätzung bewegte sich auf einer Wellenlänge mit FIFA-Boss Joseph „Sepp“ Blatter, der sich der Wirkung seiner Droge Fußball und ihrer nationalistischen Nebenerscheinungen schon immer gewiss war. Obwohl er sich dieses Mal genötigt sah, auf eine Ansprache zur Eröffnung zu verzichten und nur durch die Hintertür der VIP-Lounges in die Arenen gelangen konnte, war sein Glaube unumstößlich, dass sich der ganze Ärger vor dem Turnier – die Protestdemonstrationen der WM-Kritiker wie der erhöhte moralische und juristische Druck auf die FIFA – mit dem Anpfiff zum ersten Match verflüchtigen würde. Gegen die ersehnte Abstimmung mit den Kehlen der fußballseligen Massen würden die ewigen Politmoralisten, Nörgler und Schnüffler ohnehin keine Interventionschance haben.
Doch dieses Mal sollte sich Blatter irren. Denn wenn nicht alles täuscht, dann ereignete sich bei der XIX. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien auch eine Art „Endspiel“ für das kontrollsüchtige und hochkorrupte „System FIFA“, das „auf dem Boden autonomer Staaten“ im Stile „einer modernen kolonialen Macht“ ihr Unwesen treibt.[1]
Nach „Brasil 2014“ wird der Weltfußball nicht mehr so sein wie vorher. Die Protestbewegung in dem vermutlich fußballverrücktesten Land der Erde richtete sich nicht mehrheitlich gegen die WM an sich, sondern gegen die skandalösen Knebelverträge der FIFA. Darüber hinaus machten die Kundgebungen auf fehlende Investitionen und mafiöse Strukturen in Politik und Verwaltung im eigenen Lande aufmerksam.
Die Gigantomanie, die die FIFA mit dem WM-Turnier treibt, bewegt sich zusehends weg vom Fußballvolk. Und dies nicht nur, weil sich der vielzitierte einfache Fußballfan aus den Favelas kein WM-Ticket leisten kann. Wie gehabt streicht der Fußball-Weltverband Millionengewinne ein, während die brasilianischen Steuerzahler für die Rahmenbedingungen aufkommen müssen. Unversteuerte Gewinne von schätzungsweise zweieinhalb Mrd. Euro sind Blatters Verband sicher. Für Stadien, Sicherheit und Infrastruktur – inklusive die Zwangsumsiedlung von 20 000 Familien (!) – muss das gastgebende Land nach strikten Vorgaben selbst aufkommen. Als der Stadionbau ins Stocken geriet, schwang FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke unverhohlen die Peitsche des postkolonialen Antreibers: Man müsse wohl den Menschen zwischen Amazonas und Zuckerhut „in den Hintern treten“, damit die Organisation endlich in Gang komme.
Die Proteste vor dem Turnier machten überdeutlich – und darin besteht gerade auch ihr Fortschritt –, dass sich selbst die fußballverliebten Brasilianer nicht mehr mit Spielen abspeisen lassen, wenn es um die Grundversorgung mit Gesundheit und Bildung geht.
Früher durften in Lateinamerika Diktatoren wie Medici in Brasilien, Pinochet in Chile oder Videlas Junta in Argentinien noch von der sedierenden Wirkung großer Fußballerfolge auf rebellische Stimmungen im Volk ausgehen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Auf die alten eingespielten Verhaltensmuster zwischen einem größenwahnsinnig gewordenen Fußball und einer opportunistisch mitmischenden Politik können sich die FIFA-Traditionalisten in Zeiten der Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen nicht mehr verlassen. Der weltweit zunehmende Überdruss an megalomanen Sportgroßereignissen reicht derzeit von ausgesprochenen Wohlstandsregionen wie Bayern oder Graubünden – beide Regionen lehnten per Plebiszit die Austragung Olympischer Winterspiele ab – bis in die Armutsviertel von Rio.
Gerade im Schwellenland Brasilien hat zwischen der Vergabe der Spiele 2006 und ihrer Ausrichtung 2014 eine rasante gesellschaftliche Entwicklung stattgefunden. Die Brasilianer schafften den Spagat, ein Fußball-Fest zu feiern und gleichzeitig gegen die FIFA zu rebellieren. Doch das scheint nur der Anfang: „Das Fußballvolk hat sich erhoben, die großen europäischen Verbände auch, doch in einem Verein wie der FIFA, in dem sich Blatter dank der Unterstützung solcher Fußballgroßmächte wie Fidschi und Eritrea locker an der Macht halten kann, reicht das noch nicht. Es braucht permanenten öffentlichen Druck durch Gerichte, durch die Medien, durch die echte Fußballwelt.“[2]
Die FIFA trägt als Monopolist alle vier Jahre ein Turnier mit 64 Spielen aus und vermarktet diese in gigantischer Weise. Die WM avancierte dabei zum schier endlos boomenden Bestandteil der Eventkultur. Allein die Übertragung des Fußball-Weltspektakels stellt die größte Verdichtung des globalen medialen Raums dar. Niemals zuvor haben so viele Zuschauer eine Fußball-WM, pardon: FIFA-WM, verfolgt wie jetzt in Brasilien. Auf diese Weise konnte die FIFA zum mondialen Machtfaktor ohne jede Kontrolle aufsteigen.
Die FIFA-Forscherin Christiane Eisenberg hat dem Fußballsport schon 2006 vor dem deutschen „Sommermärchen“ attestiert, als weltumspannender Kultur keiner Politisierung mehr zu bedürfen: „Der moderne Fußball [...] hat sich längst zu einem Kulturgut sui generis entwickelt. Eine Verstärkung durch außersportliche Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, da er für seine Anhänger selbst einen Sinnzusammenhang darstellt.“[3] Sie verweist dabei auf weltweit über 200 Mitgliedsverbände in der FIFA, die dadurch flächendeckender als selbst die UNO in Erscheinung trete. Von solcher Größenordnung geblendet, tremoliert Joseph Blatter auch gern von „interplanetarischen Meisterschaften“.
Dies hat zu einer imperialen, die Politik transzendierenden Stellung des Weltfußballverbandes geführt, ähnlich jener des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Stets wurde von offizieller Seite ein politikferner Idealismus transportiert, der vorgab, Diktaturen mildern oder rigide Blockrealitäten wie im Kalten Krieg vorübergehend außer Kraft setzen zu können.
So glaubte der Blatter-Vorgänger João Havelange aus Brasilien mit der erstmaligen Austragung der WM auf asiatischem Terrain 2002 die Wiedervereinigung des seit einem halben Jahrhundert geteilten Korea anstoßen zu können. Hinterher durfte er schon froh sein, wenigstens einen kleinen Beitrag zur Aussöhnung von Südkorea und Japan geleistet zu haben, die die WM gemeinsam austrugen.
Die FIFA gibt haltlose Entwicklungsversprechen für ganze Länder und Regionen ab, weckt falsche Freiheitserwartungen, beschwört Friedensmissionen und beansprucht für sich – so der Höhepunkt der Maßlosigkeit – sogar den Friedensnobelpreis. Doch Weltmeisterschaften erschließen in der Regel keine neuen Märkte in den Gastgeberländern, nicht einmal das deutsche „Sommermärchen“ 2006 hat einen wirtschaftlichen Sog ausgelöst. Auch alle Nachhaltigkeitsprognosen haben sich weder ökonomisch noch sozial oder ökologisch erfüllt. Im Gegenteil, nach WM-Turnieren pflegt sich die Schere zwischen Arm und Reich eher zu öffnen.
Ein Beispiel ihrer maßlos überschätzten Mission lieferte die FIFA auch 2010 zur ersten WM auf dem afrikanischen Kontinent. Von einer Zäsur in der WM-Geschichte war ebenso die Rede wie von der gesamtafrikanischen Mission zur Stärkung eines kontinentalen Selbstbewusstseins. Doch die entwicklungspolitischen Prophezeiungen sollten sich als ebenso trügerisch erweisen wie die Hoffnungen, der Fußball könne als Fortschrittsfaktor und als Movens der Politik für Gesamtafrika dienen. Heute sind die WM-Stadien überwiegend ungenutzte Bauruinen.
Neben dem Wirtschaftsförderungsargument schmückt sich ausgerechnet die FIFA mit hehren Menschenrechtszielen, obwohl ihr in der Vergangenheit noch jedes autokratische Regime gelegen kam, wenn es darum ging, für einen störungsfreien Turnierverlauf zu sorgen.
Für die manifeste Kumpanei der FIFA mit diktatorischen Regimes gibt es zwei besonders abschreckende Beispiele. 1934 im faschistisch regierten Italien ließ sich der „Duce“ Mussolini den WM-Sieg seiner squadra azzurra einiges kosten. Nur dank skandalöser Fehlentscheidungen der hernach auf Lebenszeit gesperrten Schiedsrichter René Mercet (Schweiz) und Ivan Eklind (Schweden) durften die Tifosi ihren ersten WM-Titel bejubeln.
Ebenso massiv organisierte die argentinische Militärdiktatur unter Jorge Videla 1978 den Sieg der „Gauchos“ im eigenen Land. Der krisengeschüttelte südamerikanische Staat hatte den WM-Zuschlag Jahre vor dem Putsch 1976 erhalten. Weshalb FIFA-Boss João Havelange Einfluss darauf nahm, dass die Militärs eine radikale Umwälzung der politischen Verhältnisse im Nachbarland herbeiführten, um eine geordnete Vorbereitung und Durchführung des Turniers zu garantieren. Dem WM-Sieg der „Albiceleste“ gingen eine entgegenkommende Wettbewerbsverzerrung in der Planung und ein manipuliertes Spiel in der Zwischenrunde voraus. Für die 0:6-Schlappe des peruanischen Teams gegen die fanatischen Gastgeber sollen hohe Summen gezahlt und Exportlieferungen in Auftrag gegeben worden sein.
Die Wirkung ist immer dieselbe: Fragwürdige Regime profitieren von der Austragung eines WM-Turniers, starre bestehende Verhältnisse werden stabilisiert, die erhoffte Lockerung bleibt aus.
Der Sprengsatz: Katar 2022
Auch 2014 sind Blatter und die Seinen von der segensreichen Wirkung ihres Turniers voll überzeugt: Der Protestbewegung in Brasilien hielt der FIFA-Boss vor, sie müsste sich eigentlich für eine WM bedanken, weil erst sie die weltweite Aufmerksamkeit bei einer solchen Großveranstaltung auf die Probleme eines Landes in den Fokus rücke und Druck auf die jeweilige Regierung mache. Wenn es noch eines Beweises für den Größenwahn der Fußball-Allgewaltigen bedurft hätte: Blatter unterrichtete gleich nach dem ersten Spielanpfiff Papst Franziskus über die „Friedensbemühungen“ seines monströsen Verbandes. Bei der Eröffnungsfeier habe man drei Friedenstauben – „mit starken Botschaften“ – fliegen lassen. Und vor und nach dem Spiel „zeigen beide Mannschaften eine Geste für den Frieden, indem sie den ‚Handschlag für den Frieden’ austauschen.“ Hier verkehrt ein Führer nicht mehr auf Augenhöhe mit der großen Politik, sondern scheint längst über ihr zu schweben.
Doch mit der WM-Vergabe für 2022 an das vordemokratische Ölscheichtum Katar – in einem autoritären Kombipaket mit Russland (2018) – hat die FIFA den Bogen möglicherweise final überspannt. Millionen sollen bei der Vergabe aufgebracht worden sein, unter der Regie von Blatters vormals engstem FIFA-Weggefährten Mohamed bin Hammam. Damit befindet sich die FIFA mitten im größten Korruptionsskandal seit der juristisch verfolgten Affäre um die FIFA-Tochter ISL, bei der zwischen 1998 und 2001 mehr als 100 Mio. Euro an Bestechungsgeldern geflossen waren.
Hinzu kommen schwere Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen wegen der unwürdigen Behandlung – mit Todesfolgen! – von unzähligen Arbeitsmigranten beim Stadionbau in Katar – auch wenn das frühere FIFA-Exekutivmitglied Franz Beckenbauer als Pro-Katar-Voter solche schwerwiegenden Vorwürfe wegzulächeln versucht: „Ich habe in Katar noch keine Sklaven mit Büßerkappen und Fußfesseln gesehen.“
Die massive Kritik am realitätsfernen Plan, die 32 Teams bei 50 Grad Celsius in hochakklimatisierten Stadien kicken zu lassen, konterte die FIFA mit der aparten Idee, zum ersten Mal im europäischen Winter den WM-Titel auszuspielen, was die Manager eng terminierender Spitzenklubs in heillose Aufregung versetzte. So könnte sich am Ende das Kapitel Katar tatsächlich als Sprengsatz für die FIFA erweisen, zumal nach einer Revision der Vergabe für 2022 mit astronomischen Schadensersatzforderungen des Ölscheichtums gerechnet werden müsste.
Die Gefahren für den Weltfußball sind freilich nicht nur bei einer selbstherrlichen und hochkorrupten FIFA-Gang und ihrem durchgeknallten Schweizer Anführer zu suchen. Am hybriden System Weltfußball verdienen Potentaten, Multimillionäre, skrupellose Geschäftemacher und Kriminelle jedweder Couleur. TV-Verantwortliche sind unablässig an der Expansion des Systems beteiligt, indem sie grenzenlos Unsummen für Übertragungsrechte zahlen. Von Politikern nicht zu reden, die lieber Einlass in Spielerkabinen begehren, statt sich einen kritischen Blick auf die Grauzone der Fußballszene zu leisten. Das von der Europäischen Kommission vorgelegte Weißbuch des Sports benennt die Herausforderungen des Kicksports als Folge seiner Kommerzialisierung: „Ausbeutung von Minderjährigen, Doping, Korruption, Rassismus, illegale Wetten, Gewalt und Geldwäsche“.[4]
Die WM in Brasilien könnte jedoch einen Wendepunkt der Fehlentwicklung markieren. Dafür bedarf es zunächst einer restlosen juristischen Aufklärung der WM-Vergabe an Katar und einer Neuausschreibung für das Turnier 2022. Neue Verfahren für die Vergabe von großen Turnieren sind vonnöten. Amtszeit- und Altersbeschränkungen in der FIFA müssen eingeführt, die Transparenz zu Bezügen der Funktionäre endlich umgesetzt werden.
Die Reform des organisierten Weltfußballs findet sicher nur mit einem neuen Präsidenten statt. Doch der 78jährige Blatter bastelt schon an seiner fünften Amtszeit. Und solange fast alle am Fußball Beteiligten vom System FIFA profitieren, dürfte sich so rasch nichts entscheidend ändern, auch wenn die greise, korrupte Funktionärswelt künftig immer mehr mit der unbequemen Kampagnenrasanz lokaler Basisentscheider und Internetaktivisten zu rechnen hat. Fest steht: So einfach, wie ein ARD-Reporter das frühe Ausscheiden des „filetierten“ (!) Titelverteidigers Spanien kommentierte, wird es mit einer grundlegenden Veränderung im Weltfußball nicht gehen: „Irgendwann, dann kommt die Zeit, da wird der Stecker gezogen.“
[1] Peter Körte, Endspiel, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 8.6.2014.
[2] Philipp May, Brasiliens Belastung, „Deutschlandfunk. Themen der Woche“, 14.6.2014.
[3] Christiane Eisenberg, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004.
[4] Weißbuch Sport, Vorlage der Europäischen Kommission vom 11.7.2007.
(aus: »Blätter« 8/2014, Seite 21-24)