Angesichts des Ausmaßes der aktuellen Korruptionsfälle steht die Glaubwürdigkeit der kompletten politischen Elite Chiles auf dem Spiel
Ein Jahr ist es nun her, dass Michelle Bachelet zum zweiten Mal das Amt der Präsidentin Chiles übernommen hat. Gut zwei Drittel der Chilen*innen gaben ihr in der Stichwahl Ende 2013 gegen die konservative Kandidatin Evelyn Matthei ihre Stimme. Gegen die soziale Ungleichheit wollte sie kämpfen, das Bildungssystem reformieren und eine neue Verfassung erarbeiten. Bis Anfang dieses Jahres sah es für die Agenda der Mitte-Links Regierung auch gar nicht so schlecht aus. Sie reformierte das Wahlsystem aus Zeiten der Pinochet-Diktatur, führte das Recht auf eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle ein, liberalisierte das Abtreibungsverbot und begann mit der Reformierung des Bildungssystems. Trotz durchaus starker Kritik an einigen der Reformen hätte wohl noch Ende Januar kaum jemand vermutet, dass Chile bereits wenige Wochen später bis zum Hals in einer Regierungskrise stecken würde. Was als Ermittlungen wegen des Verdachts auf Steuerbetrug gegen einige chilenische Unternehmen begann, mündete in eine politische Krise, die einige für die schlimmste seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 halten.
Lange galt Chile als ein Land ohne eine nennenswerte Korruptionsproblematik. Im Korruptions-Wahrnehmungsindex von Transparency International für Amerika belegt es nach den USA und Kanada den dritten Platz. Diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein. Bereits im letzten Jahr wurde bekannt, dass die Finanzholdinggruppe Penta mehrere Millionen US-Dollar an Steuern hinterzogen hat. Nachdem der ehemalige Direktor des Unternehmens, Hugo Bravo, der Staatsanwaltschaft gegenüber erklärte, dass ein großer Teil dieses Geldes der illegalen Wahlkampffinanzierung der chilenischen Rechten im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen gedient habe, wurde der Fall zum politischen Skandal.
Die bereits erfolgten Ermittlungen brachten E-Mails zwischen der Unternehmensführung und verschiedenen Politiker*innen zutage, aus denen hervorgeht, dass Penta in großem Umfang Gelder an die rechtskonservative Unabhängige Demokratische Union (UDI) und einzelne Politiker*innen gezahlt hat. Im Gegenzug versorgten die Politiker*innen das Unternehmen mit vertraulichen Informationen und stellten gefälschte Rechnungen über nie erbrachte Dienstleistungen aus, die Penta zwecks Steuerbegünstigungen beim Finanzamt einreichte. So informierte der mittlerweile zurückgetretene Vorsitzende der UDI, Ernesto Silva, die Unternehmensführung etwa über den Fortgang von Gesetzesinitiativen und erhielt im Gegenzug Honorare für angebliche Beratungstätigkeiten. „Unrechtmäßige Gelder, die in einigen Fällen für politische Kampagnen um öffentliche Ämter benutzt wurden“, so das Urteil der Staatsanwaltschaft.
Schnell wurde bekannt, dass Penta nicht das einzige Unternehmen ist, das auf diese Weise Steuern hinterzogen und die Politik geschmiert hat. Auch das Bergbauunternehmen Soquimich (SQM), unter der Führung von Julio Ponce, Ex-Schwiegersohn von Augusto Pinochet, hat Gelder gegen gefälschte Rechnungen verteilt. Bis zu zehn Millionen US-Dollar jährlich, wie Ponce nun gegenüber der Staatsanwaltschaft aussagte. Das Finanzamt hat der Staatsanwaltschaft kürzlich eine Liste mit Namen von Politiker*innen, Funktionär*innen, Berater*innen und Familienangehörigen aus der aktuellen sowie der vergangenen Regierung übergeben, die zwischen 2009 und 2013 vermutlich gefälschte Rechnungen für SQM ausgestellt haben. Ebenso wie die Penta-Geschäftsführer Carlos Alberto Délano und Carlos Eugenio Lavín, die mit Pinochet zwar nicht verwandt sind, aber doch zu dessen Anhänger*innen gezählt werden, wollte Ponce die langjährigen direkten Beziehungen in die Politik wohl angemessen pflegen. Wie Penta hat auch SQM in den 1980er Jahren stark von den Privatisierungen durch die Militärdiktatur profitiert; beide Unternehmen gehören heute zu den größten Multikonzernen Chiles.
Der Einfluss der Privatwirtschaft auf die chilenische Politik in den letzten zehn Jahren war, wie nun öffentlich wird, massiv. Ohne Ausnahme haben alle großen Konglomerate Kampagnen und einzelne Politiker*innen finanziert und dafür wahrscheinlich nicht nur von Steuerbegünstigungen profitiert. Der Ärger der Bevölkerung gegen die wirtschaftliche und politische Elite ist groß. Man habe genug von den immer gleichen Personen, die seit vierzig Jahren das Land bestimmen, so der Grundtenor bei der Demonstration in der Hauptstadt Santiago am 16. April. Die Studierenden, die zu den Protesten aufgerufen hatten, kämpfen seit Jahren für eine Bildungsreform, die ihnen eine qualitative und kostenfreie Bildung garantieren soll. Aber nun lehnten sie jede Reform ab, die von korrupten Politiker*innen beschlossen würde. Dahinter steht die Befürchtung, dass von einer solchen Reform wieder nur die Falschen profitieren werden. „Que los corruptos no decidan!“ – „Dass die Korrupten nicht entscheiden!“, stand auf vielen Plakaten und Transparenten.
Diese Sorgen sind nicht unbegründet, denn es ist nicht nur eine Hand voll Politiker*innen der rechten Opposition, die unter dem Verdacht der Korruption stehen. Dreizehn Senator*innen und ein Drittel des Parlamentes sind in den sogenannten „Pentagate“-Skandal oder den „Fall SQM“ involviert, vor allem Politiker*innen der UDI. Den Parteien des regierenden Mitte-Links Bündnisses Nueva Mayoría war es so zunächst ein Leichtes mit dem Finger auf den politischen Gegner zu zeigen. Aber der Rückenwind für die Regierung Bachelets war nur von kurzer Dauer, denn längst gibt es auch jede Menge Vorwürfe gegen Politiker*innen aus den eigenen Reihen. So sollen auch Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PS), der Christdemokraten (PDC), der Partei für Demokratie (PPD) und der Sozialdemokratisch-Radikalen Partei (PRSD), wenn nicht von Penta, dann doch von SQM finanziert worden sein. Unter ihnen auch drei Minister der aktuellen Regierung Bachelets, darunter Innenminister Rodrigo Peñailillo. Unter den Parteien der Regierungsallianz ist derzeit allein die Kommunistische Partei (KPC) nicht betroffen.
Gegen Michelle Bachelet selbst gibt es bislang keine entsprechenden Vorwürfe, dennoch steht sie stark in der Kritik. Im Februar wurde bekannt, dass ihr Sohn, Sebastián Dávalos, Einfluss auf die Vergabe eines 10-Millionen-Dollar-Kredites für ein Immobiliengeschäft von der privaten Banco de Chile an das Unternehmen Caval genommen hatte. Letzteres gehört zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon. Im Gegensatz zu den meisten UDI-Politiker*innen trat Dávalos innerhalb kurzer Zeit von seinem Posten als Leiter der Präsidialabteilung für Soziales und Kultur zurück. Dennoch, und trotz der Bemühungen der Regierung, öffentliche Vergleiche des „Pentagate“-Skandals mit dem „Fall Caval“ als unbegründet abzutun, haben die Regierung, und Michelle Bachelet ganz persönlich, an öffentlichem Ansehen verloren.
Die Präsidentin behauptet nach wie vor, von dem Geschäft nichts gewusst und erst durch die Medien von den Korruptionsvorwürfen gegen ihren Sohn erfahren zu haben. Das glaubt ihr in Chile jedoch kaum jemand. Auch in Bezug auf die Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder ihres Kabinetts werden von ihr eine stärkere Stellungnahme und mehr Entschlossenheit gefordert. Stattdessen äußerte sie sich tagelang gar nicht, sodass manche schon mit ihrem Rücktritt rechneten. Dieses Gerücht hat sie mittlerweile aus der Welt geschafft und bekräftigt, sie werde ihr Mandat bis zu Ende führen. Dennoch zog sie persönliche Konsequenzen und kündigte wenige Tage nach den Massendemonstrationen an, „nie wieder für irgendetwas zu kandidieren“.
Bachelets Einschätzung scheint realistisch: Laut Umfragen ist ihre Beliebtheit seit Beginn des Jahres drastisch gesunken. Nur 30 Prozent der chilenischen Bevölkerung stehen noch hinter ihrer Präsidentin. Die meisten haben kein Vertrauen mehr – weder in die Präsidentin noch in den Rest des aktuellen politischen Machtapparats. Sie sehen kaum eine andere Möglichkeit, sich für Veränderungen im Land einzusetzen als auf die Straße zu gehen.
Doch die Regierung setzt bislang mehr auf Repression als auf Dialog. Bei den Demonstrationen am 16. April setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, es gab circa 135 Festnahmen und mehrere Verletzte. Angeblich richteten sich diese Aktionen ausschließlich gegen vermummte Steine- und Molotowcocktail-Werferinnen. Augenzeuginnen berichteten jedoch auch von Schlagstockeinsätzen gegen friedlich Demonstrierende und dem gezielten Einsatz von Wasserwerfern gegen Unbewaffnete, die dabei zum Teil schwer verletzt wurden. Manches erinnerte an die massiven Studierendenproteste von 2011, die seit Bachelets Amtsantritt einiges an Kraft verloren hatten. Doch die Korruptionsskandale haben die Zivilbevölkerung wachgerüttelt. So beteiligten sich neben den Studierenden die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen an den Protesten.
Die Demonstrierenden zeigten sich fest entschlossen, die wichtigen Entscheidungen über die Zukunft Chiles nicht der vorherrschenden Elite zu überlassen und forderten neben der Absetzung aller korrupter Politiker*innen vor allem eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung bei den grundlegenden Reformen. „Ohne die Menschen, die heute hier demonstrieren, kann man zu keinem Einverständnis kommen und keine Politik machen. Die Regierung muss die Bildungsreform zusammen mit den Studierenden, die Arbeitsreform zusammen mit den Arbeitern und die Verfassungsreform zusammen mit dem chilenischen Volk machen“, äußerte sich auch Gabriel Boric, linker unabhängiger Abgeordneter und ehemaliger Studierendenanführer bei der Demonstration in Santiago.
Momentan ist die Regierung aber vor allem damit beschäftigt, den ihr verbliebenen Rest an Glaubwürdigkeit aufrecht zu erhalten – ebenso wie die komplette politische Elite. In einer gemeinsamen Erklärung bekannten sich Regierungs- und Oppositionsparteien zu ihrer Verantwortung und geloben Besserung, doch von Konsequenzen ist keine Rede. „Ohne mit dem Finger auf einige zu zeigen, hoffen wir, dass jeder selbst Verantwortung übernimmt“, heißt es darin. Die Präsidentin räumte ein, dass die Beziehungen zwischen Politik und Privatwirtschaft in Chile nicht immer korrekt verliefen und man es bisher versäumt habe, „die unethische Weise, Geschäfte zu machen, rechtzeitig und mit aller Kraft zu verurteilen“. Dennoch hält sie sich mit konkreten Verurteilungen weiter zurück und ruft dazu auf, auf die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu warten. Doch das kann dauern. Immerhin sind es mehrere hundert Namen, die die Staatsanwaltschaft vom Finanzamt auf verschiedenen Listen erhalten hat und denen nun nachgegangen werden muss.
Und fast täglich tauchen neue Informationen über bislang unbekannte Verbindungen zwischen Politik und Privatwirtschaft auf. So wurde Ende April auch bekannt, dass selbst der aktuelle Direktor der Steuerbehörde, Michel Jorratt – der eine Schlüsselrolle in der Aufklärung der Korruptionsvorwürfe spielt – fragwürdige Rechnungen an eine zu SQM gehörende Firma ausgestellt hat. Anstelle sich zu positionieren und ihren Willen zu einer lückenlosen Aufklärung zu zeigen, zog es Michelle Bachelet jedoch vor, auf die Unbewiesenheit der Vorwürfe zu verweisen und Jorratt öffentlich im Amt zu bestätigen. Man müsse abwarten, dass die „Institutionen funktionieren“, so ihr Appell. Um das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen, oder zumindest nicht weiter zu strapazieren, hat Bachelet nun eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die der Korruption in Chile künftig einen Riegel vorschieben sollen. Sie will für mehr Transparenz sorgen, die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft stärker regulieren und härtere Sanktionen bei Verstößen ermöglichen. Unternehmensspenden an Parteien sollen grundsätzlich verboten werden und Politiker*innen, die „das Vertrauen der Öffentlichkeit missbraucht haben“, werden ihre Ämter niederlegen müssen. Ob diese Maßnahmen ausreichen werden, um die politische Krise in den Griff zu bekommen, ist schwer abzuschätzen. Klar ist, die Karten in Chile werden neu gemischt und die Politik steht unter scharfer Beobachtung. Weder Bachelet noch ihr Vorgänger Sebastián Piñera, der schon seine erneute Kandidatur für die nächsten Präsidentschaftswahlen angekündigt hatte, werden in näherer Zukunft für politische Topämter in Frage kommen. Denn wie kaum anders zu erwarten, ist auch Piñera in den Skandal verwickelt. Noch während seiner Präsidentschaft transferierte er Ende 2013 öffentliche Gelder über gefälschte Rechnungen an eines seiner Privatunternehmen, das damit über anonyme Spenden den Wahlkampf der rechten Präsidentschaftskandidatin Evelyn Mathhei finanzierte. Piñera hat seine Kandidatur inzwischen zurückgezogen. Was einen grundlegenden Wandel der politischen Landschaft als Ganzes betrifft, sind viele Chilen*innen jedoch nur verhalten optimistisch. Zu stark verflochten scheinen die zum Teil jahrzehntealten Beziehungen zwischen fast allen politischen Parteien und den 18 größten Multikonzernen Chiles zu sein. Und zu wenig glaubwürdig die Eingeständnisse und Versprechungen der Regierung.