Die chilenischen Sicherheitsbehörden gehen ziemlich erfolglos gegen eine Reihe von Anschlägen vor
Vor dem Schauspielhaus in Santiago hat sich eine Menschenmenge gebildet. 200 gut gekleidete, in Anzügen und Kostümen steckende Personen stehen herum und blicken gen Eingang des Theaters. Eigentlich soll dort das Ballettstück „Der Nussknacker“ aufgeführt werden. Doch der Eingang ist von Polizist*innen abgesperrt. „Ein Irrer hat sich einen Spaß erlaubt und gesagt, es gebe eine Bombe im Theater“, sagt einer der vielen Schaulustigen, die nicht wegen des Ballets, sondern wegen des Schauspiels vor dem Theater gekommen sind. Trotz der Bombendrohung ist die Stimmung entspannt, man wartet eben, wie man es in Chile eben gewöhnt ist – Alltag. Nach einer guten Stunde kommt die Entwarnung: Die Spezialeinheit der carabineros, der chilenischen Militärpolizei, verlässt mit ihren Bombenspürhunden das Gebäude. Wenig später gehen erst die Angestellten, dann die Gäste ins Theater.
Bombendrohungen und Bombenanschläge sind in Chile, vor allem in der Hauptstadt Santiago, keine Seltenheit. Seit Jahren vergeht in Santiago kaum ein Monat, in dem nichts in die Luft gejagt wird. Die Ziele sind meist Geldautomaten, Banken, Polizeistationen und Regierungsgebäude. Sofern es keine Verletzten gibt, sind diese Anschläge kaum eine Nachricht wert. Noch öfter als tatsächliche Anschläge gibt es Bombendrohungen. Mal wird eine Metrostation gesperrt, mal ganze Plätze lahmgelegt, weil angeblich ein Sprengsatz in einem Bus platziert worden sei. Viel heiße Luft, viele Polizeieinsätze.
Seit allerdings im September 2014 eine Bombe 14 Menschen in der Metrostation Escuela Militar verletzt hat, ist die Anspannung merklich gestiegen. Bis dahin verliefen die bombazos immer nach einem ähnlichen Muster. Ein lauter Knall in der Nacht, ein beschädigtes Gebäude oder Fahrzeug – ansonsten fast nichts. Verletzte wurden von den Attentäter*innen generell vermieden. Wenn es welche gab, dann waren es Menschen, welche die Bomben selbst legten, wie Mauricio Morales. Er starb, nachdem eine Bombe am 22. Mai 2009 in seinem Rucksack explodierte. Oder es sind sozial Ausgegrenzte, die medial nicht oder kaum als Opfer wahrgenommen werden, wie der obdachlose Sergio Landskron. Er kam am 25. September 2014 ums Leben, als sich ein Karton, den er auf der Straße gefunden hatte, als Bombe entpuppte.
Der Anschlag auf die Metrostation unterscheidet sich dabei von den üblichen bombazos, weil dabei Verletzte billigend in Kauf genommen wurden. In der Konsequenz verschärfte sich der Sicherheitsdiskurs in Chile. Die erst Anfang 2014 wieder ins Amt gekommene Präsidentin Michelle Bachelet hatte noch im Januar festgestellt: „Es gibt in Chile keinen Terrorismus.“ Nun versicherte sie eilig, dass nach dem umstrittenen Antiterrorgesetz ermittelt werde. Bisher allerdings ist die Bilanz der Ermittlungsbehörden, was die Bombenanschläge angeht, nicht nur in diesem Fall mehr als dürftig.Sie zeichnet sich vor allem durch zahllose Fehlschläge und falsche Beschuldigungen aus.
Große Wellen schlug in der Hinsicht der sogenannte „Caso Bombas“. 2011, nach mehr als fünf Jahren Ermittlungen, wurden 14 Männer und Frauen festgenommen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft waren sie für mehr als 100 Anschläge zwischen 2005 und 2011 verantwortlich. Im Laufe des Gerichtsprozesses stellte sich allerdings heraus, dass die gesammelten Beweise gegen die Angeklagten mehr als dürftig waren. Die Beschuldigten waren allem Anschein nach weniger wegen eines konkreten Verdachts, als wegen ihrer politischen Einstellung verhaftet worden. Dass bei Durchsuchungen anarchistische Texte und Fahrräder gefunden wurden und dass die Angeklagten teilweise in besetzten Häusern lebten, war Grund genug für eine monatelange Untersuchungshaft. Am Ende wurden alle Angeklagten freigesprochen. Die Beweislage war selbst der chilenischen Justiz, die sich sonst nicht durch übermäßige Milde auszeichnet, zu dünn.
Auch in anderen Fällen hat der offenbar politisch motivierte Ermittlungseifer von Polizei und Staatsanwaltschaft keine Früchte getragen. Victor Montoya, ein 24-jähriger, war zwischen Februar 2013 und Juni 2014 16 Monate in Untersuchungshaft, weil ihm vorgeworfen wurde, er habe versucht, eine Polizeistation zu sprengen. Auch gegen ihn wurde nach dem Antiterrorgesetz ermittelt, auch er wurde am Ende freigesprochen. Die einzigen Beweise gegen ihn waren zwei anonyme Zeug*innen, die sein Auto in der Nähe der Station gesehen und deswegen sein Nummernschild aufgeschrieben haben wollen. Die Möglichkeit anonyme Zeug*innen heranzuziehen, ist eine der Absurditäten des Antiterrorgesetzes. Wird nach diesem ermittelt, kann die Identität von Zeug*innen geheim gehalten werden, sodass nur die Ermittlungsbehörden Zugang zu diesen haben. Das Gesetz stammt noch aus der Zeit der Diktatur und wird vor allem gegen die indigenen Mapuche im Süden des Landes angewandt. Chile wurde wegen der Anwendung dieses Gesetzes schon mehrfach von interamerikanischen Gerichtshof gerügt, vor allem, weil mit seiner Hilfe rechtstaatliche Grundsätze außer Kraft gesetzt werden.
Der Fall von Victor Montoya zeigt neben den Abgründen der chilenischen Justiz auch, mit welchem Misstrauen staatliche Stellen kritischem Denken und alternativen Lebensformen gegenüberstehen. „Bei der Hausdurchsuchung fand die Polizei Infomaterial, das ich von Demos mitgenommen hatte und Broschüren über Veganismus,“ so Montoya über die Ermittlungen. „Ein Polizist sagte zu meiner Mutter: ,Ihr Sohn ist also Anarchist.‘ – ‚Nein, er ist Veganer.‘ – ‚Das ist doch dasselbe!‘“
Wie bei dem Verfahren im „Caso Bombas“ waren auch hier Vorurteile der Polizei gegenüber Subkulturen sowie die vermeintliche politische Position Montoyas, der sich selbst nicht als Anarchist bezeichnet, entscheidend für den Verfolgungswillen der Behörden. Nachdem Montoya zuerst freigesprochen wurde, wurden die Ermittlungen gegen ihn zwei Tage nach dem Anschlag auf die Metrostation wieder aufgenommen – nur damit er am Ende wieder freigesprochen werden konnte. Die gesamten Verfahrenskosten muss er selbst aufbringen.
Wer die tatsächlichen Attentäter*innen sind, ist immer noch fraglich. Für die Bombe in der Metrostation werden nun zwei Männer und eine Frau verantwortlich gemacht, allerdings trifft es mit ihnen wieder Menschen aus der linken Subkultur, was in Anbetracht der bisherigen Ermittlungsmisserfolge wenig glaubhaft wirkt. Angesichts der vergleichsweise starken anarchistischen Bewegung in Chile, die auch vor militanten Aktionen nicht zurückschreckt, erscheinen die Vorwürfe aber auch nicht ganz abwegig. Dennoch gibt es auch Vermutungen, dass es das Militär oder der Staat seien, die die Anschläge verüben, um die Bevölkerung zu verunsichern und somit die Zustimmung zu verschärften Sicherheitsmaßnahmen zu gewinnen – eine bewährte Taktik aus der der Pinochet-Diktatur. Diese Theorie erhält dadurch Auftrieb, da für viele die staatlichen Stellen bisher zu oft erfolglos gegen Linke vorgegangen sind.
Unabhängig davon, wer die Anschläge begeht, führt die Hysterie um die vielen Bomben zu einer Überreaktion der staatlichen Stellen, die in jeder Form von alternativem Lebensstil eine Bedrohung sehen. Der von der Militärdiktatur quasi unverändert übernommene Sicherheitsapparat mit seinen Gesetzen und Akteur*innen schlägt am Ende dann eben doch vor allem nach links aus. Die repressiven Instrumente, die durch die Anschläge scheinbar legitimiert werden, werden sich am Ende wieder gegen die sozialen Bewegungen richten.