Religion ist mehr als Opium und Protest - sie gehört auch zur gesellschaftlichen Basis

1. Aktuelle Streiflichter

Welchen Trendberichterstattern sollen wir glauben? Erleben wir in unseren Tagen ein neues Erwachen der religiösen Sehnsüchte, eine Remythologisierung der Gesellschaft, die Wende zu einer Epoche gelungener Ganzheitlichkeit oder einen Rückfall in Barbarei und Bürgerkriege, die Wiederkehr von Rassismus und Fremdenhass, eine in individuelle Aggression umschlagende kollektive Verzweiflung? Wer nimmt also zu, Religion oder Gewalt, oder beide – und warum?

Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit wird in der tonangebenden heutigen Soziologie und Kulturtheorie fast einhellig mit Stichworten wie Säkularisierung, Modernisierung, Pluralisierung und Individualisierung beschrieben. Auch Religion als funktionales Subsystem dieser Gesellschaft unterliegt gemäß diesem Ansatz dann den Folgen dieser dominanten Trends. Dieser Erklärungsansatz bildet auch dort noch eine normative Orientierungsmarke, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann, wo das Projekt der Säkularisierung als „missglückt“ charakterisiert wird, weil die Angst vor der neu gewonnenen Freiheit viele heutige Menschen zur Flucht in die Sicherheit alter und neuer Formen von Religiosität verführt und die Wiederkehr alter Götter fördert.

Einerlei, welcher religionssoziologischen Betrachtungsweise man sich verschreibt, es kann nicht geleugnet werden, dass in den letzten 30 Jahren religiöse Bewegungen eine neue Konjunktur erlebt haben. Auffallend dabei ist, dass sowohl die traditionellen Formen der Religion wie auch die Modereligionen der Esoterik und des New Age, wie aber auch ein militant auftretender Islam, ihr Gesicht unter der Diktatur des Marktes als dem im weltweiten Kapitalismus entscheidenden Medium nachhaltig verändert haben. Der Markt scheint auch „das Unbedingte, das Heilige, die Götter, in ein Bedingtes, Relatives, zwischen dem man wählen kann“ (H. Zinser) zu verwandeln. Wenn er das aber wirklich kann, war auch schon vorher das Absolute nicht wirklich absolut, sondern schien nur so. Der Markt bringt dann nur diesen Schein zum Vorschein und nichts anderes. Richtig ist allerdings, dass mit der Hochkonjunktur neuer und alter Formen von Religion. nur der allgemeine Zwang sichtbar wird, dass im globalisierten Kapitalismus sich auch Sinnangebote und Weltanschauungen als Ware anbieten müssen, wenn sie den Konsumenten erreichen und seine Zustimmung gewinnen wollen. Eher unauffällig artikuliert sich jedoch in diesen Phänomenen das Faktum, dass der Kapitalismus selber religionsförmig ist. Diese Erkenntnis verdanken wir nicht zuletzt Walter Benjamin, der damit gleichzeitig unterstrichen hat, wie leistungsfähig eine auf die Erkenntnisse von Marx zurückgreifende Religionskritik sein kann. Dass die marxistische Gesellschaftstheorie und damit auch ihre Religionskritik seit dem Scheitern der östlichen sozialistischen Projekte lange Zzeit mit schweren Verdächtigungen belegt oder rundwegs als untauglich abgelehnt wurde, eine Attitüde, die aber immer mehr zurückgeht, hat durchschaubare Gründe, darf uns aber gerade deswegen nicht davon abschrecken, dem Beispiel Walter Benjamins zu folgen und eine neuerliche Probe aufs Exempel zu machen.



2. Eine Relektüre der Klassiker

Wir wollen daher noch einmal kurz die Thesen von Marx über Religion in Erinnerung rufen.

Für ihn ist die Religion ein phantastischer Widerschein des Reeellen im Denken des Menschen. Spontan und unbewusst behandelt das primitive Denken die Natur als Welt von Personen und die subjektive Welt dieser personifizierten Realitäten als objektive, dem Menschen und dessen Denken gegenüber unabhängige und transzendente Wirklichkeit. Im „Kapital“ betont Marx die Analogie zwischen den religiösen Formen der Ideologie und den spontanen Vorstellungen, die sich die Menschen über den Ursprung und das Wesen des Warenwertes machen. Das, was Marx Warenfetischismus genannt hat, beruht auf der Tatsache, dass für das spontane Bewusstsein der Wert der Waren, der in Wirklichkeit geronnene Arbeit, also das Ergebnis eines Verhältnisses zwischen Personen ist, sich als rätselhafte, geheimnisvolle Eigenschaft der Dinge selbst darstellt. Sämtliche Kategorien der Marktwirtschaft partizipieren an diesem Fetischismus, der seinen Höhepunkt in der Vorstellung des Kapitals erreicht, d.h. in der Vorstellung vom Geld produzierenden Geld, vom neuen Wert schaffenden Wert: „In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.“ (MEW 23, S.169) Dasjenige, was dem spontanen Bewusstsein der an der kapitalistischen Produktionsweise mitwirkenden Individuen verborgen bleibt, ist die unsichtbare, interne Struktur ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse, nämlich der Mechanismus der Mehrwertbildung, d.h. die Tatsache, dass der Lohn des Arbeiters nicht das Äquivalent des von ihm geschaffenen Wertes darstellt, die Tatsache, dass der Profit unbezahlte Arbeit darstellt. Dem spontanen Bewusstsein stellt diese tief greifende aber unsichtbare Realität sich in umgekehrter Weise dar. Der Wert, der in Wirklichkeit ein gesellschaftliches Verhältnis ist, erscheint als Eigenschaft der Dinge selbst. Der phantasmagorische Charakter dieser Vorstellung besteht also in einer Verdinglichung der Produktionsverhältnisse und einer Personifikation der Dinge.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Marx die Religion eine phantasmagorische Sicht des gesellschaftlichen Lebens, eine illusorische Vorstellung der internen Strukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Natur ist. Sie ist ein Bereich, in dem der Mensch sich entfremdet, d.h. sich eine imaginäre Vorstellung von seinem Dasein macht und mit illusorischen Mitteln auf diese imaginäre Realität einzuwirken versucht. Für Marx sind religiöses Denken und Handeln das Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und können nur durch Veränderung dieser Verhältnisse verändert werden. Es ist also nicht das Bewusstsein, das sich selbst entfremdet, sondern es ist die Wirklichkeit, die dergestalt ist, dass sie dem Zugriff des Bewusstseins ihre interne Struktur vorenthält. Marx erwartet das Ableben der Religion also nicht von einer theoretisch geführten Kritik, nicht von einem Widerstreit der Ideen. Die Religion kann nur verschwinden auf Grund der Veränderung der Gesellschaft und der Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, die auf der Aufhebung der Klassenausbeutung und der Übernahme des Produktionsprozesses und der gesellschaftlichen Organisation durch die Produzenten selbst beruhen.

Das sind die allseits bekannten Thesen von Marx. Sie sagen aber nichts darüber aus, erstens, ob Religion auch gedacht werden kann als adäquate Widerspiegelung autonomer menschlicher Produktion und freier Vergesellschaftung ,und zweitens, ob Religion überhaupt und erschöpfend nur als Widerspiegelung begriffen werden kann, d.h. ob Religion nicht in sich eine substantiell eigenständige und funktional mehrwertige Größe sein kann. Hier hat die marxistische Theorie eine Lücke, über deren kreative Schließung mehrfach nachgedacht werden muss.

Wir müssen jedoch auch daran erinnern, dass nach der Auffassung von Marx bezüglich der wissenschaftlichen Analyse und Kritik der Religion, „das Wichtigste noch zu leisten sei“. „Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als, umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln.“ (MEW 23, S. 393, Anm.) Unseres Wissens haben sich wenige Marxisten auf diesem schwierigen theoretischen Weg vorgewagt. Und doch ist eine solche Analyse notwendig für die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie der Ideologien, der Rolle gesellschaftlicher Vorstellungen im gesellschaftlichen Handeln und, noch weitgehender, einer wissenschaftlichen Erklärung der Mechanismen, auf Grund derer der Mensch sich bei der Entwicklung seiner gesellschaftlichen Verhältnisse spontan entfremdet. Dies aber setzt voraus, dass der Zusammenhang von Mythos, Ideologie und Religion neu geklärt wird. Hierzu möchte ich im nächsten Punkt drei Thesen vorlegen.

Zuvor ein Hinweis zu den irdischen Göttern, denn sie sind das eigentliche Problem der Religionskritik, z.B. ist der „Machtfetisch“ so ein irdischer Gott, ebenso das Handy, ebenso das Militär, natürlich ebenso das Geld. Der Ausdruck „irdische Götter“ übersetzt nach Meinung meines Freundes Franz Hinkelammert die Kritik von Marx besser als der altertümliche Ausdruck „Götzen“.



3. Mythos, Ideologie und Religion: Übereinstimmung und Differenz

These 1: Ideologie und Mythos sind in den Funktionen, die sie gemeinsam haben, äquivalent, d.h. sie erfüllen die gleiche Aufgabe, aber in unterschiedlicher Form.

Die Funktionaläquivalenz möchte ich kurz erläutern: Mythos und Ideologie sind Modelle einer gleichen, durch drei Funktionen gebildeten Struktur.

Diese Funktionen sind:

1. Die Identitätssicherung, bzw. Selbsterhaltung des Individuums

2. Die soziale Integration, bzw. Identifikation mit der Gemeinschaft und ihren Werten

3. Normenbegründung und Welterklärung.

Die Ideologie rückt in die Lücke, die ein zerstörter Mythos hinterlässt. Sie übernimmt daher zunächst die Aufgabe der Erfüllung der genannten drei Funktionen, woran der Mythos gescheitert ist. Dabei reduziert die Ideologie die Inhalte des Mythos auf das politisch Notwendige. Die poetische Dimension des Mythos wird ganz abgeschnitten und gegebenenfalls durch rhetorische Redundanz ausgeglichen. Die Relation zur Natur wird durch die unmittelbare Relation zum Herrscher bzw. zur politischen Zentralgewalt ersetzt. Die Ideologie übernimmt gegenüber dem Mythos damit zusätzlich und explizit die Funktion der Herrschaftslegitimation. Damit ist nicht behauptet, dass der Mythos keine herrschaftssichernde Funktion habe, sondern nur, dass diese implizit in Form einer Relation zur Natur oder einer Ritualisierung physiologisch-biologischer Verfasstheit gegeben ist.

Beispiel: Im Einzelnen lässt sich dies bei den Fallbeispielen der Ethnologie bestätigen. Nehmen wir als Muster die militarisierten Hochlandkulturen Neu-Guineas, wo den Männern eine übernatürliche Kraft zur Beeinflussung der Natur zugeschrieben wird. Der Mythos setzt so die natürliche Abhängigkeit der Männer von der Gebärfähigkeit der Frauen außer Kraft und dient so der Aufrechterhaltung des Machtmonopols der Männer. Man könnte daher folgende Abgrenzung vornehmen: Überall dort, wo die Funktion der Herrschaftssicherung die Struktur des Mythos überdeterminiert, die Geltungsgründe der Herrschaft also in ihr eigenes Wesen verlagert werden, geht der Mythos in Ideologie über (vgl. hierzu M. Stadler, Aber du sollst Männer töten, in: Kursbuch 67, 1982, S. 73-87).

Die bereits in der durch den Mythos geprägten Gesellschaft ansatzhaft zur Durchsetzung der Grundfunktionen ausgebildeten Institutionen werden dann parallel zur Ideologiebildung ausdifferenziert und beginnen sich im Laufe der Zeit zu verselbständigen, um schließlich in Klassengesellschaften zu einer eigenständigen ideologischen Instanz neben Ökonomie und Politik zu werden. Über die auch im Mythos vorhandene Regelung der sozialen Kommunikation (in Form des Austauschs von Frauen, Gütern und Nachrichten) hinaus übernimmt damit die Ideologie die Funktion einer kollektiven Identitätssicherung durch Herausbildung der Staatsmacht, die dann ihrerseits zur höchsten Form der Ideologie wird.

These 2: Die Religion ist gegenüber dem Mythos das umfassendere System. Neben dem mythischen Element enthält die Religion magische Elemente wie aber auch rituelle Elemente und Elemente einer rationalen Dogmatik und Ethik.

Die mythischen Elemente der Religion bleiben allerdings den nicht-religiösen Anteilen des Mythos funktionsäquivalent. Gerade deswegen kann eine Religion auf den Mythos nicht verzichten, wenn sie diesen ablösen und seine Leistungsfähigkeit überbieten will. Jedes Entmythologisierungsprogramm bedeutet daher gleichzeitig auch immer eine Schwächung von Religion und die Zerstörung ihrer eigentümlichen Leistungskraft.

These 3: Auch gegenüber der Ideologie ist Religion das umfassendere System. Religion ist überall dort mit der Ideologie funktionsäquivalent, wo sie sich in einer Gesellschaft zur Erfüllung der für die Ideologie charakteristischen Funktionen in Dienst nehmen lässt.

Diese Funktionsäquivalenz und das Phänomen, dass Religion oft die „bessere Ideologie“ ist, verleiten zur abstrakten Gleichsetzung von Religion und Ideologie insgesamt, wobei sowohl die inhaltliche Verschiedenheit der Elemente vernachlässigt als auch die allgemeine Gestaltungleichheit der beiden Systeme übersehen wird. Religion kann also auch Ideologie, Ideologie aber nie Religion sein.



4. Die Religion als infrastrukturelle Möglichkeit

Maurice Godelier, ein marxistischer Philosoph und Kulturanthropologe, hat versucht, die Überlegungen von Marx weiterzuentwickeln und die oben erwähnte Lücke ein wenig zu schließen (vgl. M. Godelier, La part ideelle du reel, in: L'Homme, Heft Juli/Dez. 1978, S. 155-187).

Nach Godelier dürfen die klassischen marxistischen Begriffe von Basis (Infrastruktur) und Überbau (Superstruktur) nicht als konkrete Begriffe zur Klassifizierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Institutionen, sondern müssen vielmehr als abstrakte Begriffe zur Unterscheidung verschiedener gesellschaftlichen Funktionen aufgefasst werden. So verstanden bezeichnet man mit Infrastruktur (d.h. der Struktur der Produktionsverhältnisse) das System jener gesellschaftlichen Beziehungen, die (a) die Verfügung über die Produktionsmittel, (b) die Verteilung der Arbeitskraft und (c) die Verteilung der produzierten Güter regeln. Entsprechend lässt sich mit Superstruktur (wiewohl Godelier hier keine eindeutige Definition geliefert hat) jenes System der gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnen, das die Regeln und Verfahrensordnungen begründet, symbolisiert und durchsetzt.

In der kapitalistischen Gesellschaft wird die Aufgabe der Infrastruktur durch das ökonomische System wahrgenommen, welches sich mehr oder weniger deutlich von den übrigen gesellschaftlichen Verhältnissen unterscheidet. Gleichzeitig werden in dieser Gesellschaft die Funktionen der Superstruktur durch eine Gruppierung nichtökonomischer gesellschaftlicher Institutionen wahrgenommen wie politisches System, Bildungssystem und Religion. Dies hat Marx dazu geführt, etwas zu bemerken, was man vor dem Kapitalismus noch nicht beobachten konnte: den in letzter Instanz determinierenden Charakter der Produktionsverhältnisse. Andererseits aber hindert uns die Struktur des Kapitalismus daran, eine nicht weniger bedeutsame Tatsache zu erfassen, nämlich die Möglichkeit, dass Aufgaben der Infrastruktur auch durch andere gesellschaftliche Institutionen als nur die unmittelbar ökonomischen erfüllt werden können.

Der erste methodische Schritt, den es also bei der Erfassung der die Infrastruktur bildenden Einrichtungen einer Gesellschaft zu tun gilt, besteht darin, sich von einer schematischen Einteilung zu befreien, die bestimmte Institutionen entweder immer nur der einen oder der anderen Seite zuteilt. Nichts erlaubt uns im Vorhinein, d.h. vor empirischen Untersuchungen, den Charakter der Institutionen, die die Infrastruktur bilden, und die Art und Weise, wie die Funktionen der Superstruktur erfüllt werden, festzulegen. Was Marx also entdeckt hat, war nichts anderes als eine Rangordnung von Funktionen, die es in jeder beliebigen Gesellschaft zu geben scheint, nämlich die für die Reproduktion einer Gesellschaft wesentlichen Funktionen, die er daher Basis nannte, und für die Reproduktion nicht unmittelbar notwendige Funktionen, die daher den Namen des Überbaus erhielten.

Aus dieser Entdeckung lässt sich nichts über die Eigenart einer ganz bestimmten Gesellschaft ableiten, und es kann aus ihr allein noch keinerlei Vorhersage über die Wirkungsweise gegebener Institutionen und Verhältnisse gemacht werden. Der Gedanke einer „Determination in letzter Instanz“, der immer bei der Verwendung des Begriffspaares Basis und Überbau mitgedacht wird, beinhaltet nach Godelier nichts anderes als eine Hypothese über die Rangordnung der Funktionen, welche die Reproduktion und Transformation einer Gesellschaft in Gang halten. Diese Hypothese dient der empirischen Forschung nur als heuristische Grundlage: Sie lässt sich verifizieren, wobei allerdings der konkrete Inhalt, mit dem man sie im Einzelfall füllt, sich ausschließlich aus dem Forschungsprozess selber ergibt. Anders gesagt: Die Behauptung, dass die Basis in letzter Instanz den Überbau determiniert, hat nur einen methodologischen Sinn. Sie weist uns einen Weg der Forschung neben vielen anderen.

In gleicher Weise behandelt Godelier auch den marxistischen Begriff der Dominanz. Hier sei sogleich das Bedenken aufgegriffen, dass die Dominanz des religiösen Systems für eine Gesellschaft nur dann positiv ist, wenn diese Dominanz sich befreiend und nicht unterdrückerisch auswirkt.

Für Godelier ist die kapitalistische Gesellschaft die erste in der Geschichte, wo das ökonomische System durch seine besondere Existenzweise sohl determinierend als auch dominant ist. D.h. im Einzelnen, dass das ökonomische System einerseits jene Relationen umfasst, die für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft als solcher notwendig sind (insofern ist es determinierend und legt die Grenzen der Entwicklung und Funktionsweise aller anderen gesellschaftlichen Verhältnisse fest), andererseits bildet es aber auch jenen Kanal, über den offensichtlich die Mehrzahl der übrigen gesellschaftlichen Praktiken und Überzeugungen strukturiert werden (und insofern ist die Ökonomie dann auch dominant).

Die im Vorangehenden entfalteten Überlegungen führen uns jedoch zu dem Schluss, dass dies möglicherweise nur im Kapitalismus so ist, in anderen Gesellschaftsformationen aber ganz anders sein könnte. Für Godelier ist ein einzelnes System in einer bestimmten Gesellschaft nämlich nur deswegen dominant, weil es im Innern dieser Gesellschaft die Rolle der Infrastruktur spielt, wie auch immer im übrigen seine institutionelle Form und die anderen Funktionen, die es wahrnimmt, beschaffen sein mögen. Anders herum formuliert: die Beschaffenheit des dominanten Systems einer bestimmten Gesellschaft kann man nur mit Hilfe empirischer Untersuchungen über diese Gesellschaft ermitteln. Man muss also, von Einzelfallstudien ausgehend, aufdecken, welches System im Innern der Gesellschaft die Rolle der Infrastruktur spielt, um dann zu überprüfen, wie dieses System die Praxisformen und Überzeugungen der Mitglieder dieser Gesellschaft beherrscht. Die Theorie bedarf der empirischen Forschung und kann deren konkrete Ergebnisse nicht vorwegnehmen.

Godelier beruft sich mit seinem Ansatz ausdrücklich auf die Religionswissenschaft. Für ihn ist nämlich die Religion nicht nur ein System von Überzeugungen, sondern auch ein System von Praxisformen. Mit Hilfe der Religion deuten verschiedene Gruppen der Gesellschaft nicht nur die Umstände, unter denen sie leben, sondern gestalten auch ihr Handeln, das zum Ziel hat,diese Situation gegebenenfalls zu verändern. Das System der religiösen Praktiken und Überzeugungen kann in bestimmten Fällen für eine Gesellschaft sogar die Rolle der Infrastruktur übernehmen. Godelier behauptet, dass dies bei den Gesellschaften Mesopotamiens, der Inkas, Eskimos und Mbutis in Afrika der Fall war bzw. ist.

Die Funktion der Religion variiert also von einer Gesellschaft zur anderen. Wenn nach Godelier die Religion offensichtlich auch als Infrastruktur wirken kann, dann determiniert sie auch in diesem Fall alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Entwicklung und Funktionsweise, womit sie natürlich die Gesellschaft insgesamt dominiert, wie im alten Israel. Hier ist wahrscheinlich auch die Ursache dafür zu suchen, dass in vielen nichtkapitalistischen Gesellschaften die Religion empirisch jenes Feld konstituiert, in dem sich jegliche Form von Klassenbewusstsein und Klassenkampf entwickelt. Dies erklärt auch die politische und ökonomische Bedeutung von religiösen Streitigkeiten und Häresien im Laufe der Geschichte. Ebenso kann man davon ausgehen, dass überall dort, wo die Religion das dominante System darstellt, die Veränderung der Gesellschaft sich immer gleichzeitig auch als Veränderung der Religion ereignet, dass in einer solchen Gesellschaft also jede soziale Revolution gleichzeitig auch eine Transformation des Sakralen nach sich zieht.

Allgemein gilt: Als solche gehört die Religion weder zur Infrastruktur noch zur Superstruktur. Bisweilen kann sie Basisaufgaben übernehmen, bis hin zu dem Punkt, wo sie das dominante System einer Gesellschaft wird. Die Religion ist also in sich kein notwendiges Hindernis für die Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des marxistischen Revolutionsbegriffes. Im Gegenteil kann sie oft das einzige Mittel darstellen, um eine Revolution auch politisch und ökonomisch in Gang zu bringen. Anstatt einer abstrakten und ungeschichtlichen Theorie der Religion das Wort zu reden, sollten daher Christen und Marxisten gemeinsame Anstrengungen unternehmen, eine empirische Theorie der Funktionsweise von Religion in verschiedenen Gesellschaftsformationen zu entwickeln.



5. Der Bewegungspielraum der Religion im gegenwärtigen Kapitalismus

Prinzipiell muss auch der Kapitalismus, um bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Zustimmung zu erlangen, den Eindruck erwecken, dass er Glück für alle produziert und in seine Verheißungen alle Mitglieder der Gesellschaft eingeschlossen sind (Prinzip der Inklusivität). Doch sowohl die Geschichte als auch der gegenwärtige Zustand der kapitalistischen Gesellschaften beweisen, dass er strukturell unfähig ist, dies praktisch und auf Dauer zu leisten. Der Kapitalismus ist daher konstitutionell dazu gezwungen, ein Bündnis mit der Religion einzugehen. Dies wird besonders in Zeiten der Krise deutlich sichtbar, weil dort seine prinzipielle Exklusivität öffentlich greifbar wird. Die Unfähigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus, eine menschenwürdige Existenz für alle Menschen auf der Welt zu garantieren, und der sich abzeichnende Erdrutsch in die Armut in den reichen Gesellschaften Europas könnten den Kapitalismus in eine allgemeine Legitimationskrise stürzen, der er dadurch zu begegnen sucht, dass er sich religiöse Potenzen borgt und instrumentalisiert. Er setzt daher gerade in der Gegenwart religiöse Strömungen bewusst in jene sinnstiftende Rolle, die zu spielen er momentan überfordert ist. Gerade weil die Erkenntnis allgemein und öffentlich geworden ist, dass ökonomischer Erfolg vielen Menschen versagt bleibt, bekommt die Auffassung Anziehungskraft, in der Religion könne jeder seine Erfüllung finden. In Zeiten der Prosperität bedarf der Kapitalismus dieser Hilfe nicht, da er auch selber die Funktionen des Überbaus wahrnehmen kann. Dies steht nicht in Widerspruch zu der Tatsache, dass unabhängig davon auch das Sinnangebot der traditionellen Religionen gilt. Nur dort, wo dieses den Kapitalismus als Religion stört, kommt es zum Konflikt. Die Austragungsformen des Konfliktes hängen davon ab, wieweit die traditionelle Religion auch unter den Bedingungen des Kapitalismus ihre Fähigkeit unter Beweis stellen kann, Aufgaben der Infrastruktur wahrzunehmen, d. h. einen Orientierungsrahmen für neue Formen der Produktion und Reproduktion des Lebens anzubieten. Folgt man dem Ansatz von Godelier, so wäre es ein Fehlschluss, dies sei aufgrund der Verfasstheit des Kapitalismus prinzipiell nicht möglich. Wie dies im Einzelfall aussehen könnte, lässt sich allerdings nicht vorab ausdenken, sondern muss ausgehandelt und praktisch erprobt werden.

Die neuen religiösen Bewegungen, aber auch christliche Freikirchen wie die Pfingstbewegung (man vgl. insbesondere Brasilien, wo die Pfingstkirchen einen Boom erleben) und besonders der militante Islam erringen auffällige Erfolge dadurch, dass sie das Legitimationsdefizit der Großkirchen und der westlichen Lebensweise, repräsentiert durch den Kapitalismus, durch ein neues Sinnangebot ausgleichen und dadurch ihren Marktwert gewinnen. Was sich als erfolgreiche Selbstvermarktung der aufblühenden Religionen darstellt, ist jedoch in Wirklichkeit nichts anderes als der Übergang von der wahren Religion zur Religion als Ware. Da sie nicht bemerken, dass sie ihre gestiegenen Verbreitungschancen der Kapitallogik verdanken, löst sich ihr eigenständiger Gehalt auf und verkommt zur bloßen Anpassungsleistung und Kontingenzbewältigungspraxis. Weil gerade die auf Gefühl und Sebstfindung setzenden Modeströmungen nie begriffen haben, dass Sinn per se nicht verkäuflich und Erlösung als solche nicht bezahlbar sind, stehen sie angesichts der brennenden Menschheitsfragen ebenso hilflos wie betrügerisch da. Wie allerdings Religion sich gleichzeitig den Marktkräften verweigern und angesichts von deren Dominanz trotzdem überleben kann, ist eine Frage, deren Beantwortung auf eine revolutionäre Veränderung der ökonomischen Verhältnisse hinausläuft. Eine im Sinne von Christentum und Judentum verstandene Religion kann daher nur überleben, wenn es ihr gelingt, sich mit all jenen Kräften zu verbünden, die unter Fortschritt heute eine Überwindung der Destruktionslogik des Kapitals und der Beendigung seiner ideologischen Allmacht verstehen.