Kräfteverhältnisse und Verteilung von Krisenlasten in der BRD

Die seit Mitte 2009 übliche Parole „Wir sind über den Berg” ist im Frühjahr 2010 fast verhallt. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft stagnierte im vierten Quartal 2009. Das Konsumklima ging im Februar 2010 nach unten. Die Schwierigkeiten des griechischen Staats, sich zu refinanzieren, die Angst vor steigender Arbeitslosigkeit, deren Höhepunkt erst 2011 kommt, drücken die Stimmung. Eine längere Stagnation droht, vielleicht sogar ein neuer Bankencrash als Folge einer Staatspleite und, damit verbunden, ein Rückfall in die Rezession. Dabei hatte es geheißen, das Schlimmste liege hinter uns.

480 Mrd. Euro Garantien für die Banken, 100 Mrd. Euro für einen Unternehmensfonds, nach etwas Zögern zwei Konjunkturpakete hintereinander von zusammen 80 Mrd. Euro hat das Gespann Merkel/Steinbrück 2008-2009 geboten. Die Bankenhilfe war gemessen am Bruttoinlandsprodukt höher, die Konjunkturpakete kleiner als in China, USA und Japan. Sie enthielten Erleichterungen bei Steuern und Abgaben, Zuschüsse für höhere Sozialausgaben wegen mehr Arbeitslosen, für verlängertes Kurzarbeitergeld, für Maßnahmen der Weiterbildung, Geld für vorgezogene oder aufgestockte Investitionen, vor allem in Kommunen, für Gebäudesanierung, Energieeffizienz, Klimaschutz, Verkehr und Logistik. Den Exporteinbruch der Autoindustrie sollte die Abwrackprämie abfedern.

Bevor die Diskussion über Konjunkturpakete in allzu viele Wünsche der von derlei Segnungen entwöhnten Bürger ausufern konnte, folgte unmittelbar auf das zweite Paket die Verabschiedung der „Schuldenbremse”. Damit sind Bund, Länder und Gemeinden verpflichtet, das Geld durch Kürzungen bald wieder beim Volk einzutreiben, ab 2011, wenn es nach den Plänen Schäubles geht. Mit dieser Jahreszahl preschte Schäuble auch beim Treffen der EU-Finanzminister vor, um diese ebenfalls unter Zugzwang zu setzen.


Keine Kapazitätsauslastung

Um Krisenverluste zu minimieren, haben die meisten großen Konzerne schon im Herbst 2008 ihre Produktion eingeschränkt und mit der Umsetzung von Sparprogrammen begonnen. Leiharbeiter wurden zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2009 zu Hunderttausenden entlassen, vor allem in der Autoindustrie und im Maschinenbau. Die ganze Zeitarbeitsbranche schrumpfte von 800 000 Beschäftigten im August 2008 auf 500 000 im Juni 2009.1 Stellenabbaupläne von DAX-Konzernen beliefen sich 2009 bei den 24 größten Job-Killern auf 60 000 angekündigte Stellenstreichungen. Für 2010 rechnet die Bundesanstalt für Arbeit mit monatlich 23 000 neuen Arbeitslosen. Im Februar waren es 3,6 Mio., eine Quote von knapp 9 Prozent. Der durchschnittliche Arbeitszeitausfall bei konjunktureller Kurzarbeit betrug am Jahresende 29 Prozent. Das entspricht einem Beschäftigtenäquivalent von

238 000 Personen. Man sieht daran, was eine Arbeitszeitverkürzung bringen könnte. In Kurzarbeit befanden sich 810 000, nachdem im Mai 2009 die Spitze von 1,516 Mio erreicht worden war.2 Es waren primär die mehrmalige Verlängerung der Kurzarbeit und das Abtragen von Arbeitszeitkonten, die verhinderten, dass die Arbeitslosenzahlen heute schon höher sind. Zwar ging die Kurzarbeit dann etwas zurück, aber die Konzerne arbeiten weiterhin mit unterdurchschnittlicher Kapazitätsauslastung.

Die Einschätzungen und Prognosen der Wirtschaftspresse stimmen überein, dass die kleinen Wachstumssteigerungen im zweiten und dritten Quartal 2009 dem Lagerzyklus und einer wieder ansteigenden Nachfrage aus Asien zu verdanken sind. Mit einem nur flachen Wiederanstieg der Nachfrage aus den USA hatte man gerechnet. Die Erwartung, dass „die Chinesen ... uns diesmal eher aus dem Schlamassel (ziehen) als die Amerikaner”, wurde schon beim abendlichen Büfett in Davos von deutschen Managern artikuliert.3

Die leichte Belebung ist nicht selbsttragend. Sie wird von den weltweiten Konjunkturprogrammen getragen, die 2010 zum Teil auslaufen. Selbsttragend würde sie erst mit einem Wachstum, das über das Vorkrisenniveau hinausgeht. Das ist wohl nicht vor 2014 erreichbar. Die Achillesferse ist der Binnenmarkt. Der IG- Metall-Tarifabschluss 2010 ermöglicht Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und ignoriert diese Achillesferse. Er ist – anders als die Unternehmerpresse weismachen will – gesamtwirtschaftlich und gegenüber den Beschäftigten keineswegs verantwortungsvoll.4


Binnenmarkt wird ausgetrocknet

Der Druck auf Griechenland zeigt eine gleiche Einstellung gegenüber dem Binnenmarkt der EU. Er wird auf Drängen Berlins und der EU-Kommission kaputt gespart, um den „Stabilitätspakt” zu retten. Sparankündigungen Griechenlands sollen ein „Vertrauensdefizit” der Investoren abtragen, auch als Lehrstück für die anderen PIGS, Portugal, Spanien und Italien. Da die Exportüberschüsse der BRD die Schulden der Nachbarn voraussetzen, ist der Appell an die Schuldner, sie sollten aufhören, „über ihre Verhältnisse zu leben”, zugleich ein Sägen am eigenen Ast. Hören sie wirklich damit auf, hängt auch die deutsche Fixierung auf Expansion durch Exportüberschüsse in der Luft. Sie ist ein Teil der chronischen Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft, die in der Krise nach einer neuen Balance suchen.

Zwei Drittel der deutschen Exporte gehen in EU-Länder. Die größten Abnehmer, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien, haben ebenfalls hohe Leistungsbilanzdefizite. Ihre Exporte nach Deutschland erreichen nur zwei Drittel ihrer Importe. Als 2008 ein gemeinsames EU-Konjunkturproramm geplant war, hatte Merkel „Nein” gesagt, ebenso wie zur gemeinsamen Wirtschaftsregierung für die Eurozone. Ein sparendes Westeuropa fällt als „Wachstumsmotor” allerdings aus.5

Ein Kolumnist der Financial Times Deutschland nennt dies „germanisches Maso-Verständnis von Ökonomie: Wenn die Griechen den Portugiesen in die Dauerstagnation folgen, wäre dies für die Deutschen das größere Desaster. Immerhin empfehlen Brüsseler Beamte die Rabaukensanierung ja auch Iren, Spaniern und anderen. Warum aus Fehlern lernen? Gut möglich, dass es rund um Deutschland bald ziemlich viele lethargische Probanden gibt, die stoisch dem eigenen Abschwung hinterhersparen. Da haben die weder Lust noch Geld, deutsche Exporte zu kaufen.”6

Beim Finanzministertreffen der Eurogruppe fordern Frankreich und Spanien den Abbau der Ungleichgewichte in der Eurozone durch höhere Binnennachfrage in Deutschland. Frankreichs Finanzministerin Lagarde fragt: „Können diejenigen mit Handelsüberschüssen nicht ein klein wenig was tun?” Sie verlangt ein Verständnis der EU als „Schicksalsgemeinschaft”. Da ist sie bei der deutschen Bourgeoisie an der richtigen Adresse: „Wir sind deshalb erfolgreich, weil wir uns dem internationalen Wettbewerb gestellt und unsere Hausaufgaben gemacht haben”, kontert der Sprecher des Bundesverbands Groß- und Außenhandel, André Schwarz. „Wir können nicht das Tempo herausnehmen, damit andere Länder noch mehr Zeit bekommen, ihre Hausaufgaben nicht zu erledigen.”

Mit „Hausaufgaben” meint Schwarz den neoliberalen Umbau. Er ist in Frankreich weniger vorangekommen als in Deutschland, weil die Franzosen sich stärker gewehrt haben. Das Vertrauen der deutschen Bourgeoisie in die Fähigkeit der Eliten anderer Euro-Länder, die Lohn- und Sozialkosten auf Dauer niedrig zu halten, war ohnehin stets gering. Besonders die „weiche Südflanke”7 der EU ist ihr seit jeher verdächtig. Das hängt mit Unterschieden im Kräfteverhältnis der Klassen und in den historischen Traditionen zusammen.

Schwarz stellt gegenüber Lagarde klar: „Unsere Hauptkonkurrenten sitzen nicht mehr in der EU, sondern in den USA und Japan sowie in aufstrebenden Schwellenländern wie China und Indien.”8 Auch wenn der EU-Binnenmarkt zusammenkracht – die deutschen Konzerne sehen in ihrer Weltmarktorientierung die größere Expansionsmöglichkeit. Doch auf globaler Ebene liegen die Probleme nicht anders. Die US-Konsumenten sind mittlerweile wegen Arbeitslosigkeit oder Furcht vor Arbeitslosigkeit weniger verschuldungsbereit. China, dessen Binnenmarkt noch nicht groß genug ist, wird die fehlende Nachfrage der US-Konsumenten nicht ersetzen können.


Doppelkrise

Am Ende wird auch die Bundesregierung ihren Protektionismus aufgeben und Griechenland unter die Arme greifen müssen. Das erfordern die Interessen der deutschen Gläubiger, der Banken und Rüstungskonzerne, wie auch die strategischen Interessen des Gesamtkapitals am Erhalt der Währungsunion. Bundesbankchef Axel Weber hat den Kurs Berlins erläutert: Der Stabilitätspakt setze auf Disziplinierung durch den Markt und verbiete ausdrücklich Nothilfen. Es sei gewollt, dass Regierungen, die zu hohe Schulden machten, höhere Zinsen bezahlen müssen. Hilfszusagen müssten so unbestimmt bleiben, dass die Betroffenen sich nicht darauf verlassen könnten, aber zugleich klar sei, dass man im Notfall irgendwie eingreifen werde: „Konstruktive Uneindeutigkeit ist ein wichtiges Element.”9

Wäre die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise nur eine zyklische Krise, bei der eine gewisse Zeit nach dem Absturz die Talsohle durchschritten ist und die Produktion wieder ausgedehnt wird, dann könnten die Beschwörungsformeln, wonach es mit jedem Zehntelprozent Wachstum wieder aufwärts gehe, vielleicht die „sich aufhellende Stimmung” erzeugen, von der aus Sicht der Mainstream-Ökonomen die ganze Wirtschaft abhängt. Doch es handelt sich um eine Doppelkrise, um eine Verflechtung des zyklischen Abschwungs mit einer Krise des neoliberalen Regimes. Dies spricht für länger anhaltende „systemische” Stockungen und Störungen.

Das neoliberale, finanzdominierte Akkumulationsregime,10 das sich durch harten Klassenkampf von oben zunächst unter Thatcher und Reagan, seit den 90ern auch in Deutschland durchsetzte, war selbst schon ein reaktionärer Ausweg aus der Überakkumulationskrise Mitte der 70er Jahre. Es bildete sich in der Umbruchperiode nach 1974/75 heraus, in „Stolperschritten aus der Krise”, wie es die kanadischen Ökonomen Panitch und Gindin formulierten, und beendete die „30 goldenen Jahre des Kapitalismus” von 1945-1975.11

Seit Mitte der 70er Jahre leiden die reichen kapitalistischen Länder wieder unter chronischer Überakkumulation.12 „Globalisierung”, Deregulierung, Privatisierung und staatliche Umverteilung von unten nach oben wurden Methoden, dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Zusammen mit Restrukturierungen im Zuge einer vertieften internationalen Arbeitsteilung hat dies zwar die Profitraten wieder steigen lassen, aber zugleich haben sich die chronischen Ungleichgewichte der Weltwirtschaft verstärkt: zwischen „Realwirtschaft” und einem immer aufgeblähteren Finanzsektor, zwischen Volkswirtschaften mit ständigen Exportüberschüssen und Schuldnerländern, zwischen Arm und Reich weltweit, aber auch in Form gewachsener sozialer Polarisierung innerhalb der reichen Länder.

Im Kapitalismus, in dem es keine planmäßige Wirtschaftsentwicklung gibt, sondern Konkurrenz und Profitprinzip über Investitionen und damit auch über die Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens entscheiden, kann das für die Funktionsfähigkeit nötige Gleichgewicht der verschiedenen Sphären der Wirtschaft sich nur krisenförmig durchsetzen, im Nachhinein, wie Marx sagt, „als Reaktion gegen die beständige Aufhebung des Gleichgewichts”.13

Das gilt nicht nur für zyklisch auftretende Disproportionen, sondern auch für chronische, die sich langfristig ansammeln. Planungsfähigkeit bleibt durch die inneren Widersprüche des Systems begrenzt. Sie erschöpft sich weitgehend in Krisenmanagement. Dies ist nicht viel mehr als eine Anpassung der Bourgeoisien und ihrer Staaten an die nach wie vor spontan, hinter dem Rücken der Beteiligten wirkenden ökonomischen Gesetze.

So verhindern Konkurrenz und Protektionismus zugunsten der für die Nationalökonomien jeweils entscheidenden Branchen eine effektive gemeinsame internationale Regulierung: Die USA und die EU fordern von China eine Aufwertung seiner Währung. Deutschland und China fordern von den USA den Abbau von Defiziten. Berlin und Paris fordern von den USA und GB mehr Transparenz bei Hedge-Fonds. Die USA und GB fordern von Deutschland die Stärkung des Binnenmarkts. Da die jeweils im Ausland sitzenden Sünder sich nicht willig zeigen, läuft im Ergebnis alles so weiter wie bisher, bei zunehmender Unsicherheit.


Schwarz-gelbe Chaostruppe

Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse, zwischen gesellschaftlicher Planung und Anarchie des Marktes kann letztlich erst durch den Sozialismus gelöst werden. Unter kapitalistischen Bedingungen werden verschiedene Klassenkräfte auf unterschiedliche Richtungen drängen, in denen nach relativen, vorübergehenden Lösungen gesucht wird. So lässt sich heute ein sozialreaktionärer Ausweg aus der Krise nur verhindern, wenn Schritte durchgesetzt werden, durch die die Krisenlasten nicht von den arbeitenden Menschen, sondern von den Verursachern, den großen Kapitaleigentümern, bezahlt werden.

Die Herrschenden haben die Krise keinesfalls im Griff und verheddern sich in den Widersprüchen des Systems. Sind die nun drohenden Staatspleiten eine Folge zu lockeren Geldes und zu hoher Staatsausgaben? So sehen es die neoliberalen Hardliner. Frühzeitig begannen sie, die deutsche Schuldenbremse als Vorbild für einen „Ausstiegsmechanismus” auch international anzupreisen. Begleitmusik der Kanzlerin zur Schuldenbremsendiskussion war das Lied von der „sparsamen schwäbischen Hausfrau”, die wisse, dass auf Dauer niemand „über seine Verhältnisse leben kann”.

Anders im Herbst 2009: Die neu gebildete schwarz-gelbe Regierung kündigt Steuererleichterungen an, mit denen vor allem „Leistungsträger” und Besserverdienende entlastet werden. Das rief selbst bei einigen „Sachverständigen” Kritik hervor. Es steht jedoch nicht im Widerspruch zur neoliberalen Politik. Schon Bush hat in den USA gezeigt, dass die sich mit einem rechten Keynesianismus durchaus verbinden lässt, solange die Staatsknete an den Rüstungssektor, Vermögende und Besserverdiener fließt. „Wachstumsbeschleunigungsgesetz” nennt sich das bei Kanzlerin Merkel und sie hat die sparsame schwäbische Hausfrau mal eben in die Besenkammer gesteckt. In einer Krise könne man nicht dauernd nur „Sparen, sparen, sparen” sagen.

Geht es um Wachstum? Bedacht werden fast nur Schichten, die zum Leben genug haben, das Geld also nicht ausgeben, sondern in „Vorsorgeprodukten” anlegen. Das ist auch Bündnispolitik gegenüber Teilen der Mittelschichten, um sie im „bürgerlichen Lager”, bei der neoliberalen Stange zu halten.14 Dennoch stellt Schäuble die „große Steuerreform” unter Finanzierungsvorbehalt. Das bringt Streit mit der FDP.

Beim Spitzengespräch mit den Verbänden der Wirtschaft im März hört sich Angela Merkel die geharnischte Kritik der 70 anwesenden Vertreter von BDI, BdA, DIHT und ZDH an: Die Regierung solle „umgehend eine große Steuereform in Angriff nehmen”. Zugleich wird vor der „exorbitanten Staatsverschuldung im Euro-Raum” gewarnt. Dort und bei den weniger gut Verdienenden der BRD soll es beim „Sparen, sparen, sparen” bleiben. Klassenkampf von oben.

Umfragewerte der FDP sind vor der NRW-Wahl schlecht. Die Wirtschaftsverbände stärken ihr den Rücken: Sie fordern die „einkommensunabhängige Gesundheitsprämie”, eine „Deckelung der Arbeitgeberbeiträge”, „Entkopplung der Gesundheitskosten vom Lohn.”15 Ein klares „Weiter-so” mit dem neoliberalen Umbauprogramm. Kritik gibt es nur am Erscheinungsbild der zerstrittenen „Wunschkoalition”. Das Krisenmanagement des Merkel-Steinbrück-Gespanns wurde vom Volk als ungerecht empfunden, erschien aber alternativlos. Die schwarz-gelben Nachfolger werden nach wenigen Monaten von einer Mehrheit als Chaostruppe wahrgenommen.

Kritik am Umverteilungskurs kommt von linken Keynesianern wie Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie: „Vom Wachstumsbeschleunigungsgesetz ... werden kaum wachstumsfördernde Wirkungen ausgehen.” Die vorgesehenen Steuersenkungen setzten maximal einen einmaligen Wachstumsimpuls von rund fünf Milliarden Euro. Einnahmeausfälle des Staates und zusätzliche Ausgaben von gut acht Milliarden Euro im Jahr stünden dem gegenüber. Sollte die Regierung später versucht sein, die Aufwendungen durch Ausgabenkürzungen zu kompensieren, „fielen die Wachstumseffekte der Steuersenkungen sogar negativ aus. Das gilt in noch stärkerem Maße für die geplante Umstellung der Einkommensteuer auf einen Stufentarif.”


Vorschläge des IMK für 2010

Das gewerkschaftsnahe Institut fordert, „nach dem Abklingen der Impulse aus Konjunkturpaket II ein weiteres Konjunkturprogramm folgen zu lassen”. Dieses solle sich aber deutlich stärker auf Investitionen konzentrieren und ökologische Modernisierung sowie das Bildungssystem ins Zentrum stellen. „Wir müssen diese Zukunftsfragen ohnehin angehen und wir unterstützen damit die Konjunktur in einer schwierigen Phase.“ Auch nach dem Abklingen der Krise sollten die Investitionen weiter gesteigert werden, dann aber gegenfinanziert durch gezielte Erhöhung von Steuern. Dafür infrage kämen „die Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer und einer Vermögensteuer sowie höhere Erbschaftsteuern und ein höherer Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer.”16

So vernünftig diese Vorschläge auch sind – die Bourgeoisie wird sich allein durch Argumente nicht für Ideen begeistern lassen, für deren Umsetzung sie mehr Steuern zahlen soll. Im real existierenden Kapitalismus der BRD haben just zehntausende Steuerbetrüger aus Angst vor dem Staatsanwalt Selbstanzeige beim Finanzamt erstattet. Dies gilt nur als Spitze eines Eisbergs. Die Macht der Reichen und ihrer Vermögensverwalter ist in den letzten Jahrzehnten so gewachsen, dass es fast einer Revolution bedarf, um Steuererhöhungen für Millionäre durchzusetzen, die auch wirklich greifen.

Soll eine nachhaltigere Entwicklungsrichtung der deutschen Wirtschaft eingeleitet werden, die diese weniger anfällig für Exporteinbrüche macht, dann geht das nur durch Druck von unten, nur wenn die DGB-Gewerkschaften dafür mobilisieren. Lohnkämpfe sind eine effektive Möglichkeit. Höhere Löhne bringen mehr Kaufkraft, Einnahmen für die Sozialkassen, Steuereinnahmen für Investitionsprogramme und mehr für die Renten. Mit dem Ausgang der Tarifrunde im Metallbereich wurde eine Möglichkeit, die Weichen neu zu stellen, verschenkt.

Berthold Huber sprach nach seinen Zugeständnissen an die Metallunternehmer von einer „krisenbedingten Durststrecke”, die es zu überbrücken gelte. Im April 2009 – die Distanz zum Absturz der Wirtschaft war noch geringer – hatte er tiefere Einsichten:

„Das marktradikale Wirtschaftsmodell ist gescheitert. ... Ob aus diesem Scheitern aber ernsthafte Konsequenzen gezogen werden, ist offen. Die Kräfte, die von der marktradikalen Politik profitieren, sind nach wie vor einflussreich. Ihr Ansehen hat zweifellos gelitten. Daher sammeln sie sich neuerdings unter der Fahne der sozialen Marktwirtschaft. Die Krise gibt ihnen erhebliche Erpressungspotenziale an die Hand. Leere Auftragsbücher, wachsende Arbeitslosigkeit und fehlende Finanzierungen werden sicherlich benutzt werden, um Druck auf Löhne, Arbeitszeiten und Sozialleistungen zu machen. ... Um zu verhindern, dass das ganze Spiel noch einmal von vorne beginnt, brauchen wir daher eine starke Mobilisierung in den Betrieben und in der Öffentlichkeit.”17

Eine Mobilisierung wurde dann nur punktuell angegangen. Das ganze Spiel begann von vorne: Kapazitätsabbau, Fusionen, Übernahmen, Schließungen gehören zur „Bereinigung” durch die Krise. Die expansionswilligen Konzerne sind darauf vorbereitet. Sie wollen durch Einsparung von Arbeitskräften, Druck auf die Arbeitskosten, Sozialkürzungen stärker aus der Krise hervor gehen als sie hineingegangen sind. Umso schwächer gehen dann die Lohnabhängigen daraus hervor.

Der DGB legte im Dezember 2008 ein eigenes Konjunktur- und Wachstumsprogramm vor, das höhere Einkommen und einen „Mix aus Konsumanreizen und öffentlichen Investitionen” fordert. Der von den Privatisierungsbefürwortern herbeigeführte Investitionsstau in den Kommunen sollte aufgelöst, mehr öffentliche Investitionen in sozial nützlichen Bereichen, wie Bildung, Gesundheit, ökologisch gerechtes Verkehrswesen sollten „nicht nur Konjunktur und Wachstum ankurbeln”, sondern „darüber hinaus wichtige bildungs- und klimapolitische Weichen für einen qualitativ neuen Wachstumspfad unserer Volkswirtschaft”18 stellen.


Jobwunder” durch maßvolle Gewerkschaften?

Der DGB entwickelte für dieses Programm keine öffentlich wirksamen Aktionen. Er nahm es nur mit in die Gesprächsrunden bei der Kanzlerin. Daher wurde es in der Bevölkerung als mögliche Alternative zur Politik der Regierung kaum bekannt. So kam es bis zum heutigen Tag auch zu keiner Weichenstellung für einen qualitativ neuen Wachstumspfad. Renate Künasts Aufkreuzen an der Spitze der DGB-Demonstration im Mai 2009 war kein „Green New Deal” .

Viele Forderungen des DGB-Programms sind heute so aktuell wie 2008. Nur die Abwrackprämie und die Verlängerung der Kurzarbeit spielten für die regierungsamtliche Konjunkturpolitik eine Rolle, da sie auch im Konzerninteresse lagen. In den Kommunen, die Hauptträger öffentlicher Investitionen und des Großteils der öffentlichen Daseinsvorsorge sind, wurde kaum Druck entwickelt, um dem Sparzwang stärker entgegenzuwirken. Sinkende Steuereinnahmen werden die Kommunen künftig noch stärker ausbluten.

Die Kanzlerin war voll des Lobes für die „Besonnenheit” der deutschen Gewerkschaften in der Krise. Gewerkschaften, die Maß halten, „Arbeitnehmer”-Flexibilität und Kurzarbeit gelten nunmehr als offizielle Begründung, weshalb die Krise in Deutschland weniger Arbeitslose gebracht habe als in manchem anderen europäischen Land. Vom „deutschen Jobwunder” ist die Rede. Erzählt wird die Legende vom Stillhalten, das sich gelohnt habe.

Real liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Februar gerade mal 1 Prozent unter dem Durchschnitt der Eurozone und steigt 2010 weiter an. Mit dem Einsatz von „automatischen Stabilisatoren”, wie staatlichen Zuschüssen zu Kurzarbeit und Sozialbeiträgen, konnte vielleicht noch Schlimmeres verhindert werden. Das geschah auch, um die Gewerkschaften der BRD ruhig zu halten. Zu den von der herrschenden Klasse zunächst befürchteten sozialen Unruhen kam es nicht. Bei der Verlängerung der Kurzarbeit setzen die Unternehmer zudem auf die Annahme, die Krise werde nicht lange dauern und es werde bald wieder Fachkräftebedarf geben.

Die Kanzlerin gab Michael Sommer das Versprechen, keine Lockerung des Kündigungsschutzes in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Was ist diese Zusage wert? Zuerst wurden in der Krise die Leiharbeiter gefeuert. Jede Menge reguläre Arbeitsverhältnisse, jeder 20. Arbeitsplatz in der gewerblichen Wirtschaft wurden 2009 schon weggespart, und es bahnt sich an, dass mehr Zeit- und Leiharbeiter mit schlechterem Kündigungsschutz im nächsten Aufschwung an ihre Stelle treten werden.19 Das weitgehende Stillhalten der Gewerkschaften konnte Verschlechterungen nicht verhindern, Weichen für eine andere Richtung der Entwicklung nicht stellen.

Gewiss: Unsicherheit und Angst in der Krise erschweren eine Mobilisierung. Doch auch im Aufschwung kommt „unten” nichts mehr an. Seit Mitte der 70er wurde die Massenarbeitslosigkeit zur chronischen Erscheinung. Die Prekarisierung erhält in der Krise einen neuen Schub. Von selbst, durch bloßes Überbrücken, werden die Kampfbedingungen nicht besser. Im Gegenteil: Viel spricht dafür, dass selbst herkömmliche soziale und demokratische Reformen, wie der DGB sie fordert, ohne Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte des großen Kapitals nicht mehr möglich sind.

Eurogruppenchef Juncker und Frankreichs Finanzministerin Lagarde setzen sich mittlerweile für höhere Löhne in Deutschland ein. Sicher nicht, weil sie den arbeitenden Menschen hier etwas Gutes tun wollen – sie tun es, um den Bourgeoisien anderer EU-Länder mehr Spielraum zu verschaffen.20 In diesen Ländern gibt es stärkere Aktionen der Gewerkschaften gegen eine „Lösung” der Krise auf ihre Kosten. Das nützt auch den Lohnabhängigen bei uns, und es läge in ihrem Interesse, wenn die hiesigen Gewerkschaften mehr als verbale Solidarität zeigen würden. Eine Gelegenheit, Kräfte zu bündeln, ist gegeben. Nur durch Klassenkampf von unten kann verhindert werden, dass das neoliberale Spiel von vorn beginnt.

 

Brennpunkt Kommunen

Gegenwehr formiert sich in unserem Land an vielen, oft unerwarteten Stellen. „Wir machen den Scheiß nicht mehr mit!” lautet ein von der Landes-Arbeitsgemeinschaft soziokultureller Zentren Nordrhein-Westfalens initiierter Aufruf an Kommunalpolitiker, in dem es u. a. heißt:

„... Immer mehr geht es darum, ein bestimmtes Bild von Stadt in die Welt zu setzen: das Bild von der ‚pulsierenden Metropole’ ... Stattdessen nehmen die Probleme in den Städten zu: zunehmende Arbeitslosigkeit und soziale Probleme, schlechte Bildungschancen, steigende Mieten und sinkende Einkommen, verrottete Straßen und abbruchreife Schulgebäude. ... Wir können wählen zwischen Angeboten für Kinder und Jugendliche, für Hartz IV-EmpfängerInnen, für Opern- und KonzerthausbesucherInnen, Volkshoch- und Musikschulen oder den Angeboten der soziokulturellen Zentren und freien Gruppen. Aber wir wollen keine Neiddebatte, die Bereiche nicht gegeneinander ausspielen. ... Und deshalb sind wir auch nicht dabei, beim Sparen den Weg zu bereiten. An die Adresse der Verantwortlichen von Bund und Land: Wir weigern uns, das Spielchen weiter mit zu machen. Wir sagen: Hört auf mit dem Scheiß! Treibt es nicht zu weit! Wir lassen uns nicht für blöd verkaufen und deshalb machen wir bei dem Umverteilungsspiel nicht mehr mit. Wir wollen weder dabei helfen, das von euch angerichtete Finanzdesaster auf unsere Kosten auszubaden, noch denken wir daran, unser Tafelsilber zu verhökern. Wir wollen weiterhin in lebenswerten Städten leben, wir wollen für unsere Kinder und Jugendlichen eine positive Zukunft, wir wollen, dass alle Menschen auch weiterhin sagen können: das ist meine Stadt und darauf bin ich stolz!“21

Der Aufruf benennt Widersprüche, die in den sozialen Konflikten auf kommunaler Ebene ausgetragen werden. Dazu kommen Konflikte um Kindertagesstätten, Bibliotheken, Kliniken, Möglichkeiten für Breitensport, um Naherholung und Verkehr. Immer geht es um Bedarf der Bevölkerung, der missachtet wird und um die Arbeitsbedingungen der in diesen Bereichen der Reproduktion Beschäftigten. Zum Beispiel gefährdet die Sparpolitik eine Umsetzung des ab 2013 geltenden Anspruchs auf einen Kitaplatz. Der Bund setzt den Elternbedarf mit 35 Prozent nur etwa halb so hoch an, wie die Kommunen selbst. Nötig wird die Abwehr neuer Wellen von Privatisierung. PPP-Firmen stehen Gewehr bei Fuß, um bei städtischen Diensten einzusteigen, die vorher kaputt gespart wurden.

Auf der anderen Seite droht ein Roll -back für zaghafte Ansätze von Rekommunalisierung. So wehren sich derzeit 150 Stadtwerke mit dem Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) gegen eine Verlängerung von AKW-Laufzeiten, die sie als Wettbewerbsverzerrung zugunsten der privaten Energiemonopolisten sehen. Sie planten im Vertrauen auf das Auslaufen von AKWs Investitionen in eine dezentalere und klimafeundlichere Energieversorgung. Auch wenn es hier „nur” um Widersprüche zwischen privaten und staatlichen kapitalistischen Betrieben geht – günstiger für die Bevölkerung sind die Pläne der Stadtwerke, aus ökologischen Gründen und weil Energieversorgung in die öffentliche Hand gehört.

Betriebe und Kommunen werden Brennpunkte des Kampfes gegen einen reaktionären Ausweg aus der Krise bleiben. Auf beiden Feldern spielen die Gewerkschaften für die Richtung des Auswegs eine Schlüsselrolle. Wichtige Impulse können auch von anderen sozialen Bewegungen ausgehen. Doch der für einen qualitativ neuen Wachstumspfad nötige Druck, ohne den die herrschende Klasse keine Abstriche an Profiten und Privilegien machen wird, wird ohne die Gewerkschaften kaum zu schaffen sein.

Die IG Metall hatte, oft in Kooperation mit der Friedens- und Ökologiebewegung, in den 80er Jahren begonnen, Konzepte für Rüstungskonversion, sozial und umweltverträgliche Produktion, ökologischen Umbau der Autoindustrie, zu erarbeiten. Für das Aufzeigen konkreter Möglichkeiten eines neuen Wachstumspfads macht es auch heute Sinn, wenn Gewerkschaften, Experten aus den Bewegungen und Kommunalpolitiker sich zusammen tun, um gemäß dem neuen Stand der Produktivkräfte und des Wissens, gemäß heutigen technischen Möglichkeiten, Konzepte, politische Forderungen und Aktionen für derartige Projekte zu entwickeln. Im parallelen und gemeinsamen Handeln können alle Kräfte stärker werden, die eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt durchsetzen wollen, selbst wenn es sicherlich mehr als eines Anlaufs bedarf, um die Neoliberalen zum Rückzug zu zwingen.


1 „Zeitarbeit nimmt zu. Aufschwung in Sicht”, Hamburger Abendblatt 25.7.2009

2 „Deutschlands größte Jobkiller”, Handelsblatt online 26.2.2010; „Deutsches Jobwunder. Arbeitsmarkt freut Schäuble”, ebenda

3 „Elite sucht das Heil in China”, Handelsblatt online 30.1.2009

4 Zu den Tarifrunden siehe in dieser Ausgabe: Manfred Dietenberger, Tarifkampf in der Krise.

5 Vgl. Beate Landefeld, Debakel der Exportweltmeisterschaft. Junge Welt 2.3.2009

6 Thomas Fricke, Experiment am lebenden Griechen. FTD online 4.3.2010

7 Gerd Höhler, Weiche Südflanke. Handelsblatt online 6.11.2008

8 „Oettinger verteidigt deutsche Exportpolitik”, sueddeutsche.de 16.3.2010

9 „Bundesbank positioniert sich gegen EWF”, Handelsblatt online 10.3.2010

10 Vgl. François Chesnais, Das finanzdominierte Akkumulationsregime. In: Christian Zeller (Hrsg.), Die globale Enteignungsökonomie. Münster 2004. http://www.

staytuned.at/sig/0032/32919

11 Panitch/Gindin, Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium. VSA 2004, S. 56 ff. Rezension in Marxistische Blätter 6-2007

12 Überakkumulation ist nach Marx „Überproduktion von Kapital” und „heißt nie etwas anderes als Überproduktion von Produktionsmitteln, Arbeits- und Lebensmitteln-, die als Kapital fungieren können”, also profitabel verwertbar sind. (Kapital III, MEW 25, S. 261 ff.)

13 Kapital I, MEW 23, S. 377.

14 Der Sozialwissenschaftler Ingo Schmidt sieht die Wende zum Neoliberalismus seit der Krise 1974/75 auch als Seitenwechsel sozialer Schichten, z. B., im Wahlverhalten: „An die Stelle wohlfahrtsstaatlicher Klassenkompromisse sind herrschende Blöcke aus neuen Mittelschichten und Finanzkapital getreten.“ Köder sei dabei die Anti-Inflationspolitik. Angesichts „begrenzter Geldvermögen, deren Verwaltung und Anlage zudem vom hochkonzentrierten Finanzkapital kontrolliert wird,“ ist nach Schmidt die ökonomische Rolle der Mittelschichten dabei zweitrangig, „für die Legitimierung des Finanzmarktkapitalismus spielen sie dagegen eine wichtige Rolle.“ Ingo Schmidt (Hrsg.), Spielarten des Neoliberalismus. Hamburg 2008, S. 13 f.

15 „Spitzentreffen: Wirtschaft nimmt sich Merkel zur Brust”, Handelsblatt online 5.3.2010

16 Pressemitteilung „Ausblick auf das Wirtschaftsjahr 2010 – IMK: Konjunkturprogramm nützt Wirtschaft mehr als Steuersenkungen” vom 6.1.2010. http://www.boeckler.de /37883_102327.html

17 Berthold Huber, Alle Instrumente nutzen. Interview in TAZ 17.04.2009.

18 DGB-Konjunkur- und Wachstumsprogramm. Dezember 2008, S. 2

19 Vgl. „Unsichere Jobs werden zur Regel”, Handelsblatt online 17.3.2010

20 Zu Unterschieden in der Interessenlage und Politik europäischer Eliten: Beate Landefeld, Europäisiert sich die Bourgeoisie? Marxistische Blätter 1-2010

21 http://www.soziokultur-nrw.de/?id=1266247931