Den Imperialismus "neu denken"?

Anmerkungen zu Panitch/Gindin

 

 

Laut Panitch/Gindin ist dem Kapitalismus eine strukturelle Logik immanent, die ihn nach Expansion und Internationalisierung streben läßt. Zwischen der Tendenz des Kapitalismus zu globaler Expansion und seiner jeweiligen historischen Entwicklung müsse allerdings unterschieden werden. Historisch sei es gegen 1900 zu einer Auflösung des internationalen Wirtschaftssystems und dann zu dessen Kollabieren “durch zwei grauenhafte Weltkriege und die Implosion der Great Depression” gekommen.(18) Die westliche Nachkriegsrekonstruktion ab 1945 sei als Antwort der kapitalistischen Staaten auf das vorangegangene Versagen der Globalisierung zu verstehen. Sie konnte sich “unter der Anleitung eines einzigartigen Akteurs ... (entfalten): dem amerikanischen imperialen Staat.”(31) Dieser verfügte, anders als seinerzeit das britische Empire und auch anders als noch der US-Staat nach dem ersten Weltkrieg, über “Kapazitäten für den Aufbau eines informellen Imperiums”. Genannt werden die ökonomische und militärische Stärke der USA, die Struktur des US-Staats, die Attraktivität des Produktions- und Kulturmodells der USA (Konzerne, Fordismus, Konsum, Hollywood). “Darüber hinaus erwies sich das amerikanische informelle Imperium mit der Züchtung multinationaler Konzerne und den damit verbundenen ausländischen Direktinvestitionen ... hinsichtlich der Durchdringung anderer Gesellschaften als weitaus effektiver.”(34) So konnten die USA die anderen kapitalistischen Mächte in ein “funktionsfähiges Koordinatensystem” unter ihrer Führung integrieren. Auf der vom US-Verhandlungsführer und New Dealer Harry Dexter White zusammen mit John Maynard Keynes ausgerichteten Bretton-Woods-Konferenz 1944 wurden die Weichen für das später so benannte fordistische Akkumulationsregime in den kapitalistischen Ländern der Welt gestellt.

 

Neoliberalismus – politische Antwort auf Errungenschaften

 

Ein Netzwerk von internationalen Organisationen, wie IWF, Weltbank und WTO-Vorläufer GATT wurde geschaffen. Die Hauptquartiere wurden zumeist in Washington angesiedelt, “ein Muster für ein bis zum heutigen Tag existierendes internationales Wirtschaftsmanagement ..., das dadurch gekennzeichnet ist, dass selbst wenn europäische oder japanische Finanzministerien und Zentralbanken Vorschläge machen ..., das amerikanische Finanzministerium und die amerikanische Notenbank Anordnungen treffen.”(48) Die Masse der US-Direktinvestitionen veränderte ihre Richtung, “so dass zwischen 1950 und 1970 der lateinamerikanische Anteil ... von 40 auf 20% fiel, während der westeuropäische sich verdoppelte, um schließlich genauso hoch zu sein, wie der kanadische Anteil, der bei 30% lag.”(51) Auf die bedeutenden Erfolge der Arbeiterbewegung im kurzen Goldenen Zeitalter des Kapitalismus kommen Panitch/Gindin erst im Zusammenhang mit der Krise des Fordismus zu sprechen, Erfolge, die nicht zuletzt durch die Systemkonkurrenz begünstigt wurden. Joachim Hirsch spricht von “erheblichen Auswirkungen auf die Gestalt des Imperialismus”, die die internationale Kräftekonstellation gehabt habe: “Sie bildete einen wesentlichen Hintergrund für die Durchsetzung des Fordismus, der einen starken Schub der inneren Expansion des Kapitals ... und damit eine wesentliche Ausdehnung der inneren Märkte bedeutet hat. ... Die dafür erforderliche Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse und politisch-institutionellen Strukturen (New Deal, sozialdemokratische Reformpolitik) sind zu einem wesentlichen Grad dem Ost-West-Konflikt geschuldet, der das Kapital aus legitimatorischen Gründen dazu veranlaßte, gewisse soziale Zugeständnisse zu machen.”1

 

Das Ende der Nachkriegsrekonstruktion, der Aufstieg Deutschlands und Japans zu Konkurrenten der USA, der “zunehmende ökonomische Nationalismus in der Dritten Welt sowie die wachsende Schlagkraft der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Kernländern”(56) werden von Panitch/Gindin als Faktoren gesehen, die in den 70er Jahren zur Krise des Bretton-Woods-Systems führten und die führenden kapitalistischen Mächte zu einem Strategiewechsel veranlaßten. Nach gewissen Stolperschritten setzte sich der Neoliberalismus durch, wiederum maßgeblich angestoßen und forciert durch die US-Regierung. Panitch/Gindin betonen die Rolle der Staaten bei der “Reorganisation des amerikanischen Imperiums im neoliberalen Zeitalter”(56): “Die Mechanismen des Neoliberalismus (die Ausweitung und Vertiefung der Märkte und des Wettbewerbsdrucks) mögen ... ökonomischer Natur sein, aber der Neoliberalismus war seinem Wesen nach eine politische Antwort auf die demokratischen Errungenschaften, die sich die unteren Klassen bis dahin erkämpft hatten und die sich ... zu einer Schranke für die Akkumulation entwickelt hatten. Der Neoliberalismus beinhaltete nicht ... nur die Umkehrung dieser Errungenschaften, sondern er schwächte ihre institutionellen Grundlagen ...Der Kapitalismus operierte nun unter einer neuen Form gesellschaftlicher Herrschaft, die (a) die Wiederbelebung der ökonomischen Basis für die amerikanische Dominanz, (b) ein universelles Modell für die Restauration der Profite in den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern, (c) die ökonomischen Voraussetzungen für eine Integration des globalen Kapitalismus versprach und auch weitgehend einhielt.” (65,66)

 

Gegen “Stufentheorie”?

 

Panitch/Gindin erheben den Anspruch, “den Imperialismus neu (zu) denken”. Die klassischen marxistischen Imperialismustheorien Rosa Luxemburgs, Bucharins und Lenins kritisieren sie als “reduktionistisch” und “ökonomistisch”, da sie den Imperialismus direkt von einer Theorie der ökonomischen Stufen oder Krisen abgeleitet hätten.(17ff.) Rosa Luxemburg hatte versucht, den Imperialismus aus der Akkumulationsdynamik des Kapitalismus zu erklären. Auch Bucharin und Lenin leiteten aus der Tendenz zur Überakkumulation ein zentrales Merkmal des Imperialismus ab, die Überflügelung des Warenexports durch den Kapitalexport. Bucharin und Lenin konzentrierten sich aber auf die aus der Konzentration und Zentralisation des Kapitals bis zirka 1900 entstandenen, neuen monopolkapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Lenin bezeichnete sie als den “Kern der Sache”. Seine Kurzdefinition des Imperialismus lautete, dass der “Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.”2 Auch in dem Bild, das Panitch/Gindin von der heutigen Globalisierung zeichnen, tauchen multinationale Konzerne und wachsender Kapitalexport in Form von Direktinvestitionen auf, die hauptsächlich in die Zentren fließen. Ihr Bild der heutigen Globalisierung setzt ein monopolkapitalistisches Stadium stillschweigend voraus. Folgt man den jährlichen UNCTAD-Berichten, so bestehen die zwischen den Ländern des entwickelten Kapitalismus hin und her fließenden Direktinvestionen im Wesentlichen aus Fusionen und Übernahmen.3 Größe und Richtung der Direktinvestitionen basieren also vornehmlich auf einem rapide vor sich gehenden Prozeß der Konzentration und Zentralisation, auf fortschreitender Monopolisierung des weltweiten Kapitals.

 

Die sich hieraus ergebende Vergesellschaftung der Produktion auf wachsender Stufenleiter wird von Panitch/Gindin als gegenseitige ökonomische Verflechtung und wechselseitige Durchdringung der entwickelten kapitalistischen Länder reflektiert. Nach Lenin treibt der Monopolkapitalismus die Vergesellschaftung der Produktion bis zu der Grenze, die unter privatkapitalistischen Bedingungen noch möglich ist. Er bezeichnet daher den Imperialismus als “höchstes Stadium des Kapitalismus.”4 Panitch/Gindin tun dies mit der Bemerkung ab, dass die Klassiker sich in Wirklichkeit “mit einer verhältnismäßig frühen Phase der kapitalistischen Entwicklung beschäftigt” hätten.(23) Damit vermengen sie eine Aussage zur inneren Logik der Entfaltung des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung mit den zur Zeit des ersten Weltkriegs in der marxistischen Linken vorhandenen Erwartungen eines nahe bevorstehenden weltweiten Übergangs zum Sozialismus, der bekanntlich bis heute nicht erfolgt ist. Selbst die Annahme, eine solche Vermengung sei schon bei den Klassikern selbst oder ihren Anhängern zu finden, ist noch kein Argument gegen die Hypothese eines “höchsten Stadiums”, das nach Lenin vielerlei “Züge einer Übergangsgesellschaft” trägt. Zu solchen “Zügen” des monopolistischen Kapitalismus könnte man auch die gewachsenen Planungs- und Regulierungskapazitäten kapitalistischer Staaten rechnen, die bei Panitch/Gindin im Fokus des Interesses stehen. Lenin wollte allerdings aufzeigen, dass Vergesellschaftung unter der Bedingung kapitalistischen Privateigentums die Widersprüche des Systems nicht lösen, sondern nur auf höherer Stufenleiter reproduzieren kann.

 

Jenseits der zwischenimperialistischen Konkurrenz?

 

Für Panitch/Gindin spricht die “entschiedene ökonomische und auch militärische Integration” unter US-Führung gegen die Vorstellung, es gäbe weiterhin zwischenimperialistische Konkurrenz. “Der Terminus 'Konkurrenz' (rivalry) bläst den ökonomischen Wettbewerb zwischen den Staaten weit über das hinaus auf, was dieser in der realen Welt von heute bedeutet.”(72) Dem ist entgegen zu halten, dass Kooperation die Konkurrenz als “die innere Natur des Kapitals” (Marx) nicht aufhebt. Das Monopolkapital negiert die freie Konkurrenz, schafft aber neue Formen der monopolistischen Konkurrenz: zwischen Konzernen, innerhalb derselben und zwischen monopolistischem und nichtmonopolistischem Kapital. Kooperationen werden eingegangen, um Vorteile gegenüber Dritten zu erlangen. Bei Verflechtungen durch Beteiligungen “assoziierter Kapitale” (Marx) wird immer auch darum gerungen, wer die Macht im Konzern behält oder erlangt. Nichtmonopolistische Kapitale können nur in ökonomischer oder technologischer Abhängigkeit von Großkonzernen agieren und werden von diesen abgeschöpft. Staat und Politik sind bemüht, optimale Bedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Monopole zu schaffen. Deregulierungen, Privatisierungen, Steuergeschenke und Kostensenkungen sollen erklärtermaßen die Expansion der “heimischen” Großkonzerne auf den Märkten anderer Nationalstaaten unterstützen. Zugleich will der “nationale Wettbewerbsstaat” (Hirsch) ausländische Investoren anziehen. Wenn eigene Märkte für ausländische Monopole geöffnet werden, dann allerdings nicht in der Absicht, die Monopolstellung der “eigenen” Konzerne zur Disposition zu stellen.

 

Der regulierte Wettbewerb auf den Heimatmärkten ist Druckmittel für Kostensenkung zu Lasten der arbeitenden Menschen und Anstoß für Umstrukturierungen und “Innovationen” als Gegentendenz zur Stagnation. In diesem Sinn ist der Neoliberalismus in der Tat auch “Modernisierung”. Vor allem aber ist das Hereinlassen ausländischer Monopole Vorraussetzung, um nach dem Prinzip der “Reziprozität” auch in die wichtigsten auswärtigen Märkte eindringen zu können. Es ist Bedingung für die eigene Expansion. Diese zielt auf Marktmacht im Weltmaßstab, also letztlich Verdrängung der Konkurrenten und weitere Zentralisierung.5 Der vom Neoliberalismus vergötterte “Freihandel” ist vor allem für die Starken von Nutzen, für die Schwächeren ist er bedrohlich. Da kapitalistische Länder sich ungleichmäßig entwickeln, provoziert Freihandel auch immer gegenläufige, protektionistische Tendenzen. In der Politik der Nationalstaaten schlägt sich dies so nieder, wie Gramsci mal formuliert hat, dass nämlich die politische Frage “Freihandel versus Protektionismus” sich immer um die “verschiednen Versuche, den Weltmarkt zu organisieren (dreht) und sich in diesen auf die vom Standpunkt der für die Nationalökonomie ... wesentlichen Industrien günstigste Weise einzugliedern”.6

 

Die laut Panitch/Gindin hierarchisch strukturierten Institutionen des internationalen Managements des Kapitalismus sind daher zugleich Felder der zwischenimperialistischen Konkurrenz. Dies schlägt sich heute vor allem in der Unfähigkeit dieser Institutionen zu Reformen nieder, mit denen man sich wandelnden weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnissen Rechnung tragen will. Vor allem EU und USA blockieren sich hierbei gegenseitig. Es schlug sich auch im Heiligendamm-Gipfel der G7 nieder: Britische und US-Regierung verhinderten im Interesse ihrer Finanzplätze jede noch so bescheidene Beaufsichtigung von Hedge-Fonds. Die deutsche Regierung unter der gern als “Öko-Thatcher” titulierten Kanzlerin Merkel startete mit ihrem Engagement für den globalen Klimaschutz eine seither ununterbrochene Werbekampagne für die auf dem Gebiet der Umwelttechnologie besonders starke deutsche Exportindustrie.7 Dabei nutzt sie geschickt eine Marktlücke, die der auf diesem Gebiet wohl kaum hegemonial zu nennende US-Imperialismus bietet. Zur effektiven Minderung der Gefahr einer Klimakatastrophe wurde nichts vereinbart. Das zeigt Grenzen der Regulierungsfähigkeit des heutigen Kapitalismus.

 

Oder andere Formen der Konkurrenz?

 

Lenin, Luxemburg, Bucharin gingen wie die meisten Marxisten ihrer Zeit davon aus, dass die Konkurrenz zwischen den Großkapitalisten der reichen Länder Grundlage der politischen Rivalität zwischen den damaligen europäischen Nationalstaaten war. Der erste Weltkrieg galt ihnen als die “Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln”. Sie glaubten, dass nur die sozialistische Revolution künftige Weltkriege verhindern könne. Seit 1945 dominiert in den Beziehungen zwischen den reichen kapitalistischen Staaten die Kooperation, zunächst in gemeinsamer Frontstellung gegen die UdSSR, aber auch nach 1991. Ausschlaggebender Faktor hierfür ist die absolute Übermacht der USA auf militärischem Gebiet. Eine Änderung dieser Kräfteverhältnisse ist für die absehbare Zeit nicht wahrscheinlich, und die USA sind mit der permanenten Innovation ihrer Rüstungen und Ausbreitung ihrer Stützpunkte bestrebt, einer solchen Änderung vorzubeugen. Imperialistische Kriege überziehen daher heute “nur” unbotmässige Länder der Peripherie mit Zerstörung und Tod. Insofern rennen Panitch/Gindin offene Türen ein. Indem sie jedoch den Begriff der zwischenimperialistischen Konkurrenz letztlich auf eine militärische Form der Austragung von Konkurrenz reduzieren, vermengen sie Form und Inhalt.

 

In Ökonomie und Politik verzichten die Monopole keineswegs darauf, den traditionellen Einfluß, den sie auf “ihre Staaten” ausüben, und ihre vielfältigen Verflechtungen mit ihnen bei der Konkurrenz auf dem Weltmarkt in die Waagschale zu werfen. Die US-dominierte Hierarchisierung des imperialistischen Staatenbündnisses kann daher nicht starr oder statisch gesehen werden. Die Konkurrenz der verschiedenen beteiligten Imperialismen sorgt dafür, dass sich expansive und aggressive Potenzen bündeln und gegenseitig anstacheln, wie dies beim Krieg gegen Jugoslawien der Fall war, der ursprüglich vom deutschen Imperialismus angezettelt wurde. Der Streit um “Energiesicherheit” in der EU, die Raketenpläne der USA gegenüber Rußland, die Unterschiede im Umgang mit dem Iran reflektieren ebenfalls konkurrierende Interessen. Für das kapitalistische Integrationsgebilde in Europa geht es, so Gretchen Binus, nicht mehr nur um “die Behauptung des europäischen Großkapitals innerhalb der Triade-Konstellation USA-EU-Japan. Als Triebkräfte neuer Strategien treten neben der Herausforderung der unilateralen Weltherrschaftsbestrebungen der USA immer stärker die gravierender werdende Ressourcen- und Rohstoffproblematik sowie die Herausbildung eines neuen wirtschaftlichen Weltzentrums in Asien mit Indien und China in den Vordergrund – empfunden als Bedrohung, aber auch als Chance für Machterhalt und Expansion.”8

 

Die Hierarchisierung kann auch deshalb nicht statisch gesehen werden, weil die “Rangfolge” der größeren und kleineren Imperialismen auf vielen Gebieten ständig umkämpft ist. Nur von einer ungleichen, US-gesteuerten Interdependenz zu sprechen, würde, so Gregory Albo, “partikulare Konzentrationen von Macht und Autorität an bestimmten Orten (ausblenden), durch die die Beziehungen zu anderen Orten geprägt sind. Japan, Deutschland, Canada, ja sogar Brasilien, Mexiko und Südafrika bilden alle, in der spezifischen Weise ihrer Beziehungen zu anderen, imperialistische Staaten in der Hierarchie des Weltmarkts. Und die Widersprüche in den ökonomischen Beziehungen der USA zur Welt bedeuten, dass in der nahen Zukunft von rivalisierenden imperialen Zentren wahrscheinlich beides ausgehen wird, alternative Handlungsstrategien ebenso wie größere Anstrengungen zur Kooperation.”9 Christian Zeller sieht die Geographie des heutigen Imperialismus als eine “Kaskade von ineinander geschobenen Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen, die ökonomisch, politisch und militärisch durchgesetzt werden.”10

 

Gibt es noch nationale Bourgeoisien?

 

Innenpolitisch dient “Wirtschaftspatriotismus” dazu, ein durch Korporatismus geprägtes Verhalten der Gewerkschaften im Interesse der “eigenen Konzerene” zu organisieren. Panitch/Gindin gehen der Frage nach, ob von einer dem “eigenen” Nationalstaat verbundenen Kapitalistenklasse überhaupt noch die Rede sein kann. Freilich halten sie “die Vorstellung einer transnationalen kapitalistischen Klasse, die von jeglicher staatlichen Bindung losgelöst ist und einen supranationalen Globalstaat ausbrütet, (für) ... weit übertrieben.”(72) Sie selbst verwenden an mehreren Stellen den von Poulantzas geprägten Begriff der “inneren Bourgeoisie”, einer Art Zwischending von nationaler und transnationaler Bourgeoisie. Für die “innere Bourgeoisie” ist der Nationalstaat, verstanden als “Verdichtung von Kräfteverhältnissen” nach wie vor “Brennpunkt ihrer Reproduktion”, zugleich sind ihre Interessen aufgrund der Internationalisierung der Produktion im Nationalstaat nicht mehr ausschließlich aufgehoben.11 Als Indikatoren für die Internationalisierung von Konzernen gelten gewöhnlich: die Zahl der ausländischen Töchter oder Filialen, der Anteil der im Ausland getätigten Umsätze und Erlöse oder die Anzahl der im Ausland beschäftigten Belegschaftsmitglieder. Solche Indikatoren beschreiben die Tendenz einer rasch voranschreitenden Internationalisierung der Produktion. Sie allein reicht, um eine Interessenlage der “inneren Bourgoisie” zu begründen, für die der Kreislauf Geld-Ware-Geld+ sich auf dem Weltmarkt abspielt, mit Folgen für ihre Ansprüche an staatliche Politik.

 

Kann aus der Internationalisierung der Produktion abgeleitet werden, dass es eine entsprechende Vergesellschaftung des Kapitals im Sinne einer Internationalisierung oder Multinationalisierung des Eigentums gibt? Panitch/Gindin sprechen an anderer Stelle von der Penetration Europas durch US-Investmentbanken und Unternehmen, die mit einer Implantierung US-amerikanischer Klassenmacht innerhalb des sozialen Gefüges europäischer Staaten verbunden sei.12 Bei Investmentbanken, die (meist als Konsortien) die größten Deals bei Fusionen und Übernahmen einfädeln oder abwehren, kann heute von einer Quasi-Monopolstellung der US-Institute gesprochen werden, auch wenn konkurrierende europäische Banken langsam nachholen. Zu untersuchen bleibt, ob die von Hilferding und Lenin seinerzeit auf der Ebene von Nationalstaaten konstatierte Herrschaft der Finanzoligarchie sich heute zur Herrschaft einer US-dominierten, transnationalen Finanzoligarchie entwickelt hat. Für Francois Chesnais ist “die von Lenin ... entwickelte Theorie des Imperialismus ... bereits eine Theorie, in der die Akkumulation ... dem Finanzkapital unterstellt ist und sich in einem globalisierten Rahmen vollzieht”. Er charakterisiert die neoliberale Phase als “finanzdominiertes Akkumulationsregime” mit der Wall Street als “Fluchtpunkt für das Anlagekapital der Besitzenden aus aller Welt.” Bei aller vom “autonomen” Finanzmarkt ausgehenden Disziplinierung der produzierenden Unternehmen sieht jedoch auch Chesnais den Finanzsektor als von der Realökonomie letztlich abhängige Größe.13

 

Die Konzerne in Produktion und Handel sind meist Aktiengesellschaften mit hohem Anteil von Streubesitz, manchmal hunderttausenden Eigentümern, die meisten davon institutionelle und eine zunehmende Zahl ausländische Investoren. Auch bei mehrheitlichem Streubesitz liegt die Macht über das vergesellschaftete Kapital aber meist bei wenigen Haupt- oder Großeigentümern und deren Funktionären, oft vertraglich oder in Formen von Kapitalverfügung abgesichert, wie Mehrfachstimmrecht, Depotstimmrecht der Banken oder Vorratsbeschlüsse des Managements.14 Geht es um Mobilisierung von Kapital, kann dieses nicht breit genug gestreut sein. Geht es um die Macht in Konzernen und Konzerngruppen, so ist das Beteiligungssystem immer noch geeignet, ökonomische Macht zu zentralisieren, zu behaupten oder zu bekommen. Aufgrund der Überkapazitäten der reichen Länder spielt heute die Zentralisation von Kapital eine größere Rolle als Erweiterungsinvestitionen. Marx bezeichnete die Zentralisation als “Enteignung von Kapitalisten durch Kapitalisten”. Enteignungsprozesse für Regionen und Bevölkerungen gehen auch heute mit Restrukturierungen, Ausgliederungen und Kapazitätsabbau einher, welche den Fusionen und Übernahmen folgen. Die Frage nach dem Vorhandensein einer nationalen Bourgeoisie oder der Zusammensetzung der “inneren Bourgeoisie” wird daher für jeden Nationalstaat anders zu beantworten sein, je nachdem, ob seine Kapitalisten zu den Gewinnern oder den Verlierern der “Globalisierung” gehören.15 Ein Vergleich zwischen Deutschland und Ungarn würde dies zeigen.

 

Aggressivität, Krisenhaftigkeit und Krisenmanagement

 

Mit dem Irakkrieg hat sich der US-Staat nach Panitch/Gindin zum “unverhüllten Imperium” gemausert. Sein größtes Problem sei das Verhältnis zu den “non-integrated gaps”, den Ländern der Peripherie, die sich nicht in die Globalisierung integrieren ließen: “Der Neoliberalismus mag darin erfolgreich sein, bereits entwickelte kapitalistische Staaten zu stärken; für kapitalistische Entwicklung an sich erscheint er mehr und mehr als Fehlstrategie.”(81) Warum? Nach Meinung von David Harvey erweist sich im Verhältnis zu den Entwicklungsländern “die allgemein vorgebrachte Behauptung, es handle sich beim Neoliberalismus um freien Wettbewerb statt um monopolistische Kontrolle, um fairen und freien Handel, als Lüge, was wie üblich durch den Marktfetischismus verschleiert wird.”16 Auch Lenin und zuvor Hilferding sahen im Monopol “nicht Freiheit, sondern Herrschaft”. Ihnen zufolge ist dem Imperialismus daher eine Tendenz zur Aggression nach außen und zur politischen Reaktion nach Innen wesenseigen.17 Die Gründe für die heutigen Kriege in Afghanistan und im Irak sind vielfach untersucht worden.18 Doch sind dies nicht die ersten Aggressionen, mit denen sich der Imperialismus nach 1945 “unverhüllt” gezeigt hat. Das tat er auch in der Zeit des Fordismus (Iran, Algerien, Vietnam). Wenn Panitch/Gindin zur Erklärung der heutigen Aggressivität auffällig oft psychologische Motive anführen, wie “Verlockungen einer Strategie der unilateralen Militär-Intervention”, “Arroganz der Macht”, “Einsamkeit der Macht” (81f.), so ist dies nicht mehr nur Betonung der relativen Selbständigkeit staatlichen Agierens, sondern schon verselbständigte Personalisierung von Macht. Die Aggressionspotentiale des Systems bleiben ausgeblendet.

 

Panitch/Gindin können den Imperialismus nicht neu erfinden. Ihre beachtliche Wirkung in der heutigen Imperialismus-Diskussion beruht darauf, dass sie der unter Linken häufig anzutreffenden Überzeichnung der Krisenhaftigkeit eine realistischere Darstellung des heutigen Kapitalismus entgegen setzen. Sie verweisen darauf, dass in der neoliberalen Phase eine Rekonstruktion des Kapitalismus zugunsten von Profitsteigerung und Stabilisierung der Klassenherrschaft des weltweiten Kapitals stattgefunden hat. Dabei ist ihre Sicht sehr stark auf die wenigen reichen, hochentwickelten kapitalistischen Länder und deren relativ erfolgreiche Regulierung zentriert. Gravierende Probleme wie das der weltweiten Polarisierung von Reichtum und Armut, des Hungers, des Raubbaus an der Natur, der Zunahme von Ungleichmäßigkeiten und Deformationen, bilden bei dieser Analyse einen eher schattenhaften Hintergrund. Unreflektiert bleibt auch die zunehmende politische Frontstellung der “alten” kapitalistischen Länder gegen aufstrebende “staatskapitalistische” Länder wie China und Russland.

 

Für Panitch/Gindin ist die Krisenhaftigkeit des Systems nicht aufgehoben, sie neigen jedoch zu der Einschätzung, dass das Management dieser Krisen weiterhin möglich bleibt.(78) Nicht nur habe sich die Welt nun seit beinahe 25 Jahren daran gewöhnt, mit einem US-Handelsbilanzdefizit zu leben, sondern die globale Stabilität habe sich mittlerweile sogar in ein Abhängigkeitsverhältnis von diesem Defizit begeben.(70) Damit sagen sie allerdings implizit, dass die Möglichkeiten, die Ungleichgewichte durch Management statt durch Krisen zu beseitigen, abgenommen haben. Die jüngsten Turbulenzen im Gefolge der Subprime-Krise veranschaulichen, welche Rolle auch im heutigen Kapitalismus Mißtrauen und Panikreaktionen gegeneinander agierender Marktteilnehmer spielen. Die Irrationalität des Gesamtsystems zeigt sich, wenn Banken sich im rationalen Eigeninteresse gegenseitig kein mehr Geld leihen, und gerade dadurch eine Finanzkrise auslösen. Latente Panik und Labilität dürften zusammen mit dem doppelten US-Defizit weiter wachsen. Somit behält auch Bucharin recht, der 1915 gegen Kautskys Idee eines Welttrusts betonte: “Die zukünftige Weltwirtschaft in ihrer kapitalistischen Form befreit diese Wirtschaft nicht von den ihr immanenten Elementen der Nichtanpassungsfähigkeit.”19

 

 

 

 

1 Joachim Hirsch, Was ist eigentlich Imperialismus? http://www.linksnetz.de/K_texte/K_hirsch_imperialismus.html Hirschs Imperialismusbegriff basiert auf der Akkumulationstheorie.

 

2 W.I.Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. 1916. In: LAW II, S. 729

 

3 Vgl. UNCTAD World Investment Report 2006. http://www.unctad.org/en/docs/wir2006_en.pdf ; Gretchen Binus, Konzernmacht in der Europäischen Union. 2006. S. 35ff. http://www.dieterdehm.de/pdf/konzernmacht-studie.pdf

 

4 Francois Chesnais meint, dass aufgrund seiner langen Dauer, “Herausbildung, Funktionsweise und Krise der verschiedenen Akkumulationsregimes eine Hilfe bei der analytischen Gliederung des Stadiums des Imperialismus in Phasen oder Perioden darstellen” können. Vgl. Francois Chesnais, Das finanzdominierte Akkumulationsregime. In: Christian Zeller (Hrsg.), Die globale Enteignungsökonomie. Münster 2004. http://www.staytuned.at/sig/0032/32919 Dass im Titel von Lenins Broschüre ursprünglich vom “jüngsten” statt vom “höchsten Stadium” die Rede war, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. Vgl. Georges Labica, Vom Imperialismus zur Globalisierung. In: Z 52/2002, S. 37. Eine Kurzdarstellung von Lenins Imperialismustheorie findet sich bei: Willi Gerns, Lenins Imperialismustheorie und heutiger Kapitalismus. In: Marxistische Blätter 3/2000. S. 59ff.

 

5 Vgl. Gretchen Binus, Globalisierung ohne Großkapital? In: Z 52/2002. S. 50ff. und: Binus, Konzernmacht... (s.o.) Vgl. auch: Norbert Walter, Wettbewerb Ja – Solange wir die Starken sind. http://www.dbreasearch.com/PROD/DBR_INTERNET_EN-PROD/PROD0000000000213643.pdf

 

6 Gefängnishefte 2, 315. Zitiert nach: Michael R. Krätke, Antonio Gramscis Beiträge zu einer Kritischen Ökonomie. http://www.glasnost.de/index.html

 

7 Vgl. Margit Antesberger, Wie der Schuldner zum Chef-Financier wird. In: Marxistische Blätter 4/07, S. 45. Sowie: “Der Klimawandel läßt sich managen”, in: Handelsblatt 31.7.2007 und “Merkel bietet China und Indien Klimakompromiss an”, in: HB 30.8.2007.

 

8 Binus, Konzernmacht ..., S. 20.

 

9 Gregory Albo, Cracks in the Facade: The US- and the World Economy. 2003. S. 20. http://evakreisky.at/onlinetexte/gregory_albo_the_us_and_the_world_economy.pdf

 

10 Christian Zeller, Globale Enteignungsökonomie und Kaskaden des Imperialismus. Bern 2004, S. 1.

 

11 “Obwohl die gegenwärtige Phase durch die Internationalisierung des Kapitals gekennzeichnet ist, bleibt die Nation in transformierter Form für die Bourgeoisie dennoch Brennpunkt ihrer Reproduktion, die heute die Form einer Inter- oder Transnationalisierung annimmt. Dieser harte Kern der modernen Nation liegt im unveränderlichen Kern der Produktionsverhältnisse als spezifisch kapitalistischen begründet.” (Nicos Poulantzas, Staatstheorie. 1978, S. 109f.)

 

12 Leo Panitch/Sam Gindin, Finance and American Empire. Socialist Register 2005, S. 53. In einem Interview mit der Zeitschrift Z erwähnt Panitch das “schwedische Kapital, die sechzehn Familien, denen Schweden gehört”, gewiss über den Daumen gepeilt. (Z 52/2002, S.81) Eine Analyse der Bourgeoisien der reichen Länder steht noch aus.

 

13 Francois Chesnais, Das finanzdominierte Akkumulationsregime (Siehe: Fussnote 4)

 

14 Vgl. Gretchen Binus, Monopolistisches Eigentum. Aktuelle Trends. In: Utopie kreativ 158/Dez. 2003, S. 1092.

 

15 Für die Eigentümerstruktur der 100 größten Konzerne der BRD im Bereich Handel und verarbeitendes Gewerbe (nach der Welt 500-Liste 2006) ergeben eigene Recherchen folgendes Bild: 32 werden durch Clan-Eigentum (traditionelle Kapitalistenfamilie) kontrolliert; 16 befinden sich in Streubesitz mit unklarer Dominanz; bei 12 ist der Staat oder eine staatliche Bank Hauptaktionär, bei 4 weiteren größter Aktionär; 7 werden von 2-3 privaten Großeigentümern gemeinsam kontrolliert, 5 weitere von Erben-Stiftungen; 5 befinden sich in genossenschaftlichem Eigentum; 5 werden “multinational” kontrolliert durch mehrere, private und/oder staatliche Großeigentümer aus verschiedenen Ländern; 14 sind 100%-ige Töchter ausländischer Konzerne (6 USA, 4 GB, 3 F, 1 Schweden).

 

16 David Harvey, Der neue Imperialismus. VSA 2005, S. 130

 

17 LAW II, S. 725 und 762f.

 

18 Vgl.u.a. Marxistische Blätter Special zum Irakkrieg 1/2003.

 

19 Nicolai Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft. Kapitel 12. http://marxists.org/deutsch/archiv/bucharin/1917/imperial/12-kap12.htm

 

 

 

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Fundort:

http://www.alice-dsl.net/beatelandefeld/texte/pagin.html