Volkhard Mosler meint, die Krisentheorie von Karl Marx sei aktuell wie nie.
Das Gespenst geht wieder um. Angesichts
der Finanzkrise wird allerorten Karl Marx neu entdeckt. So nahm ihn die
Frankfurter Rundschau kürzlich auf die Titelseite. Unter der
Überschrift „Die Pleite des Kapitalismus" zitierte das Blatt Passagen
aus dem Kommunistischen Manifest. Auch die Hamburger Morgenpost fragte:
„Hatte Karl Marx doch Recht?". Und selbst Finanzminister Peer
Steinbrück meinte gegenüber dem „Spiegel": „Generell muss man wohl
sagen, dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so
verkehrt sind."
In der Tat: Was Karl Marx und Friedrich Engels vor 150 Jahren im
Kommunistischen Manifest schrieben, liest sich wie eine Beschreibung
der heutigen Zustände: „Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so
gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht
dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu
beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."
Krisentheorie
In seinem später verfassten Werk „Das Kapital" stellte Marx dar, worin
die Gesetzmäßigkeit besteht, die das kapitalistische System in die
Krise treibt. Seine zentrale These: Der Zyklus der Auf- und Abschwünge
ist dem chaotischen und auf Konkurrenz beruhenden Wesen des
Kapitalismus geschuldet. Weil es keine zentrale Planung der Wirtschaft
gibt, versucht jedes Unternehmen, den größtmöglichen Teil des Marktes
zu ergattern, indem es so viele Produkte wie möglich herstellt. Das
führt dazu, dass ständig mehr hergestellt wird als gekauft werden kann,
und es so zu Produktionsüberschüssen kommt. Dies schlägt sich auf die
Profite der Unternehmen nieder und zwingt sie, den Druck auf ihre
Angestellten weiterzugeben: Die Arbeitszeiten werden verlängert, die
Löhne gesenkt und Arbeitsplätze verlagert oder ganz abgebaut. Die
Arbeiternehmer haben dann weniger Geld, um Dinge zu kaufen, was
wiederum die Krise verschärft, bis das System in die Rezession geht.
Solche Wirtschaftskrisen kommen und gehen im Kapitalismus. Aber sie
werden mit der Zeit schlimmer.
Tendenzieller Fall der Profitrate
Marx fand heraus, dass hinter dem Prozess von Auf- und Abschwung der
kapitalistischen Wirtschaft ein besonderer Mechanismus wirkt. Dessen
Funktionsweise beschrieb er mit dem „Gesetz des tendenziellen Falls der
Profitrate". Damit meinte er nicht, dass die Einnahmen geringer würden.
Aber, so Marx, dass Verhältnis ihrer Investitionen zu dem Gewinn, den
diese einbringen, tendiert dazu, im Laufe der Zeit geringer zu werden.
Das liegt daran, dass wirklicher Wert nur aus der Arbeit von Menschen
entsteht. Denn der Wert, den Arbeiter produzieren, ist immer größer als
der Lohn, den sie dafür erhalten. Daher eignet sich der Unternehmer
einiges von dem Wert an, den seine Angestellten erwirtschaften. Dieser
„Mehrwert" bildet die Grundlage des Profits.
Aber der Wettbewerbsdruck treibt die Unternehmer dazu, den Anteil zu
reduzieren, den sie in Arbeit und Löhne investieren. Stattdessen
investieren sie eher in Technologie, mit der sie genauso viel mit
weniger menschlicher Arbeit produzieren lassen können. Durch die
Rationalisierung der Produktion, durch Erhöhung der Produktivität und
durch den beständigen Abbau der beschäftigten Arbeitskräfte kann ein
Kapitalist sein Stück vom Kuchen vergrößern. Aber das Ergebnis ist für
das gesamte System verheerend. Denn es bedeutet, dass die Zahl der
Arbeiter sich nicht annähernd so rasch vermehrt wie die Investitionen.
Aber die Arbeit ist die Quelle des Profits, die Energie, die das System
am Leben erhält. Wenn die Investitionen größer und größer werden, ohne
dass es eine entsprechende Ausdehnung der Quelle des Profits gibt, ist
die Krise schon vorprogrammiert.
Deshalb sah Marx, dass gerade der Erfolg des Kapitalismus, riesige
Investitionen in der Form neuer Anlagen anzuhäufen, einen tendenziellen
Fall der Profitrate mit sich bringen muss und damit auch die sich
ständig verschärfenden Krisen.
In der jüngsten Zeit hat die Mikroelektronik- und Computer-Industrie
ein klassisches Beispiel für diesen Prozess geliefert. Die Firmen, die
zuerst am Markt waren, machten riesige Profite. Aber als die
Produktionskapazität der Branche wuchs, und mehr Konkurrenten die Arena
betraten, brachen die Preise dramatisch zusammen. Die Profitrate sank,
und die schwächsten Firmen, wie zum Beispiel Nixdorf gingen unter.
Einzelne Kapitale glauben, dass sie ihre Profite durch neue Technologie
steigern können. Als einzelne können sie das auch. Aber die Verfolgung
ihrer individuellen Wettbewerbsziele bewirkt, dass die gemeinsamen
Ziele aller Kapitalisten untergraben werden. Das ist genau, was Marx
mit der widersprüchlichen Natur des Kapitalismus meinte. Dies bedeutet
nicht, dass die Profitrate in der Geschichte des Kapitalismus
kontinuierlich fällt. Wäre das der Fall, dann wäre das System schon
längst zum Stillstand gekommen. Marx selbst erwähnte eine Reihe von
„entgegenwirkenden Ursachen".
Entgegenwirkende Ursachen
Eine außergewöhnliche Steigerung der Ausbeutungsrate, die den
Lebensstandard der Arbeiter herabdrückt, ist ein Beispiel für einen
Umstand, der dem Fall der Profitrate entgegenwirkt. Zugang zu billigen
Rohstoffen durch Außenhandel ist ein anderes. Am wichtigsten ist, nach
Marx, die Verbilligung oder „Entwertung" des konstanten Kapitals
selbst.
Zunehmende Produktivität in den Industriezweigen, die Produktionsmittel
wie Maschinen oder Rohstoffe herstellen, verursacht einen Rückgang des
Werts ihrer Erzeugnisse, wie in jeder Branche. Dieser Rückgang bedeutet
nicht nur, dass Produktionsmittel billiger werden. Er bewirkt auch, was
Marx den „moralischen Verschleiß" bereits in der Nutzung befindlichen
konstanten Kapitals nannte. Kapitalisten, die ältere und teurere
Maschinerie in Betrieb haben, sehen sich Konkurrenten mit neuerer und
billigerer Ausrüstung gegenüber. Sie erleiden einen
Wettbewerbsnachteil. Die ältere Maschinerie ist einer erzwungenen
Entwertung unterworfen. Dies vermindert den Wert des konstanten
Kapitals, wirkt seiner Neigung zum Anwachsen entgegen - und damit den
daraus folgenden Wirkungen auf die Profitrate.
Aber diese Entwertung stellt für die betroffenen Firmen einen Verlust
des Kapitalwertes dar. Aus diesem Grund wird sie ihre Schwierigkeiten
vergrößern, wenigstens kurzfristig. Es gibt hier Parallelen zum
Anwachsen der Arbeitslosigkeit oder der industriellen Reservearmee, wie
Marx sie nannte. Zunehmende Arbeitslosigkeit hilft den Kapitalisten bei
ihrer Offensive gegen die Organisation der Arbeiter in der Produktion,
und trägt auf diese Weise zur Produktion von potentiellem Mehrwert bei.
Aber zumindest auf kurze Sicht erhöht die Arbeitslosigkeit die Probleme
der Kapitalisten beim Verkauf ihrer Produkte, oder bei der Realisierung
des Mehrwerts.
So gibt es für den Kapitalismus keinen einfachen Ausweg aus seinen
Schwierigkeiten. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Wirkung der
„entgegenwirkenden Ursachen" in Krisenzeiten am stärksten ist. Wenn das
System sich rasch ausweitet, und die Akkumulation hohes Tempo hat,
behält das Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals die
Oberhand über die entgegenwirkenden Tendenzen. Im Ergebnis fällt die
Profitrate. Krisen jedoch können dem Kapitalismus zumindest zeitweise
über seine Probleme hinweghelfen. Um die Dynamik von Krisen besser zu
verstehen, lohnt es sich, noch einen anderen Aspekt des Systems zu
betrachten - die Rolle der Banken.
Banken, Börsen und das Kreditsystem
Der von den Arbeitern erzeugte Mehrwert ergibt nicht bloß die Profite
der industriellen Kapitalisten. Teile davon gehen als Miete oder Pacht
an die Grundbesitzer, als Steuern an den Staat, als Zinsen an Banken
und Geldanleger. Die industriellen Kapitalisten sind bereit, den Banken
und anderen Finanzinstitutionen einen Teil der Beute abzutreten, weil
diese eine nützliche Rolle im System spielen. Die Kapitale müssen große
Geldsummen anhäufen, bevor sie investieren können. Bis dieser Punkt
erreicht ist, können sie ihre Überschüsse bei der Bank deponieren - und
Kapitale, die bereit sind zu investieren, aber noch nicht genug Geld
haben, können es ausleihen.
Das Bankensystem hilft tatsächlich, den Prozess der Akkumulation zu
beschleunigen. Das geschieht, indem das Geld von denen, die mit
Investitionen zögern, umgeleitet wird zu denen, die willens sind, zu
investieren.
Banken sind deswegen mächtige Institutionen. Sie helfen, die
Zentralisation des Kapitals zu großen Monopolen zu beschleunigen. Sie
tragen auch dazu bei, die schwachen, verlustreichen Kapitale in die
Pleite zu treiben, wenn sie ihnen Kredite sperren. Wenn ein Aufschwung
seinen Höhepunkt erreicht, steigt der Zinssatz für Darlehen. Die
Nachfrage nach Investitionsdarlehen wächst. Die Erwartung zukünftiger
Profite nährt Spekulationsgeschäfte an der Börse und im Warenhandel.
Kapitalisten sind bereit, auf steigende Profite und Preise zu setzen,
die es ihnen ermöglichen sollen, ihre Schulden mit Zinsen
zurückzuzahlen. Aber der Finanzmarkt und die Börse sind immer davon
abhängig, dass in der Produktion Mehrwert erzeugt wird.
Die Finanzmärkte stellen dar, was Karl Marx als „fiktives Kapital"
bezeichnete. Ihre Aktivitäten schaffen keine neuen Werte und weiten die
Produktion nicht aus. Auf ihnen wird mit den Profiten gespielt, die die
Arbeiter erwirtschaften, daher hängen sie letztlich von der Gesundheit
der realen Wirtschaft ab. Wie überzogen die Aktienpreise auch sein
mögen, sie stehen in Beziehung zu den Dividenden, die die Unternehmen
ausschütten, und diese wiederum hängen von der Profitabilität der
Wirtschaft ab. Wenn die Profite sinken, reduzieren die Unternehmen ihre
Dividendenauszahlung, und das drückt den Preis ihrer Aktien. Märkte
können eine Zeit lang die Entwicklung der realen Profite hinter sich
lassen. Aber dann schaffen sie eine spekulative Blase, die auf kurz
oder lang platzen muss. Wenn das passiert, hat es reale Auswirkungen.
Die Banken selbst können zusammenbrechen. Sie verleihen „das Geld
anderer Leute". Wenn die Anleger alle zugleich versuchen, ihr Geld
zurückzubekommen, wird die Bank zahlungsunfähig. Wenn nicht der Staat
oder die Zentralbank eingreift, kann die Bank das nicht überleben. Das
gesamte Finanzsystem kann zusammenbrechen, wie es am dramatischsten
1931 geschah. Eine Kreditklemme wie bei der jetzigen Finanzkrise 2008
bedeutet, dass auch verlässliche Firmen kein Geld mehr leihen können.
Damit wird ihnen die Möglichkeit genommen, ihre Maschinen zu erneuern
oder ihre laufenden Kredite zu begleichen. Im schlimmsten Fall können
sie in den Bankrott getrieben werden.
Die Krise heute
Was wir heute erleben, ist, dass an die Stelle des früheren Auf und Ab
der Konjunktur, des ständigen Wechsels von Krise und Aufschwung, die
weltweite, nicht enden wollende Krise getreten ist. Selbst in der
Bundesrepublik, die gern als mustergültiges Land des Wachstums
hingestellt wird, hat sich die Wirtschaft seit der Krise von 1974 nicht
mehr richtig erholt. Die Konjunkturaufschwünge sind flacher und kürzer
geworden. Sie reichen auch nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit
wesentlich abzubauen. Es gibt immer noch nicht genügend Investitionen,
um die Krise zu überwinden, und das gilt nicht nur für die
Bundesrepublik, sondern erst recht für Großbritannien, für Frankreich
und auch für Japan.
Marx sagte voraus, dass die Krisen des Kapitalismus mit seiner Dauer
sich notwendig verschärfen müssten, weil die Quelle des Profits, die
Arbeit, bei weitem nicht so rasch wächst wie die Investitionen, die
notwendig sind, um die Arbeiter zu beschäftigen.
Marx schrieb zu einer Zeit, als der Wert der Fabrik und der Maschine,
der notwendig war, um die Arbeiter zu beschäftigen, noch ziemlich
niedrig war. Er ist seitdem in die Höhe geschnellt, und heute kostet
ein Arbeitsplatz oft 100.000 Euro und mehr. Die Konkurrenz hat die
Firmen gezwungen, noch größere Anlagen und noch teurere Maschinen
aufzubauen. Der Zeitpunkt ist längst erreicht, wo in den meisten
Industriezweigen die Neuanschaffung von Maschinen gleichgesetzt wird
mit dem Abbau von Arbeitskräften. Die Arbeitsplätze in den wichtigsten
Industrieländern der Welt werden in den nächsten Jahren weiter
abnehmen.
Die Kapitalisten überlegen sich sehr genau, ob ihre Geldanlage Profit
bringt oder nicht, und wenn sich ihre Investitionen vervierfachen, ihre
Gewinne aber nur verdoppeln, halten sie inne. Eben das geschieht aber,
wenn die Industrie rascher wächst als die Quelle des Profits, die
Arbeit. Marx sagte voraus, dass ein Zeitpunkt erreicht werde, wo jede
neue Investition als gefährliches Abenteuer erscheine. Die Ausgaben für
eine neue Anlage und neue Maschinen würden dann kolossal sein, aber die
Profitrate wäre zugleich niedriger als je zuvor. Wenn dieser Punkt
erreicht sei, würden die einzelnen Kapitalisten oder auch die
kapitalistischen Staaten Pläne für riesige neue Investitionen schmieden
- aber sich zugleich davor fürchten, diese Pläne zu verwirklichen, weil
sie Angst vor dem Bankrott hätten. Die Weltwirtschaft von heute nähert
sich diesem Zeitpunkt.
Marx is' muss
Die krisenhafte Entwicklung zeigt, dass die grundlegenden Ideen und
Konzepte aus Karl Marx' „Kapital" nichts von ihrer Bedeutung verloren
haben. Der Kapitalismus ist zwar in seinem Umfang erheblich gewachsen
und hat seine Form verändert. Aber er beruht nach wie vor auf der
täglichen Arbeit der Lohnabhängigen. Er wird nach wie vor beherrscht
von der scharfen und manchmal blutigen Konkurrenz unter den
Kapitalisten selbst. Und er neigt mehr denn je zu chronischen Krisen,
die die Grenzen seiner geschichtlichen Reichweite ans Licht bringen.
Jedoch kann das Ergebnis der gegenwärtigen Krisenperiode nicht
vorausgesagt werden. Der Marxismus befähigt, zu verstehen, was vor sich
geht, und er dient als Anleitung zum Handeln. Er kann nicht den
endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus vorhersagen. Der hängt davon
ab, dass die Arbeiter der Welt erkennen, dass ausschließlich ihre
Arbeit dieses System am Leben hält, und dass sie die Macht haben, dem
ein Ende zu machen.
Zum Autor:
Volkhard Mosler ist Soziologe und Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.