Kapitalistische Ausbeutung, Rassismus, sexualisierte Gewalt, Massenschlachten
Ende März 2020 mussten zwei junge Männer je 250 Euro Strafe zahlen, weil sie zu zweit am Stadtsee meiner Wahlheimatstadt gegrillt haben. Mir kam das absurd und willkürlich vor, während die Lokalzeitung die Kriminalisierung als angemessenes Durchgreifen geradezu abfeierte. Ähnliches geschah während und nach dem ersten Covid19-Lockdown auch an etlichen anderen Orten. Viele Menschen wurden in den letzten Monaten kriminalisiert, weil sie die Abstands-, Hygiene- oder andere Corona-Regeln nicht eingehalten haben. Nun sind diese Regeln gewiss mehrheitlich sinnvoll; aber anders als die oben erwähnten Studenten wurde der Fleischproduzent Westfleisch bisher nicht belangt, obwohl sich im Westfleisch-Schlachthof in Coesfeld im Mai 2020 mindestens 283 Arbeiter*innen mit dem Corona-Virus infiziert haben, weil Westfleisch nicht dafür gesorgt hat, dass die überwiegend aus Rumänien kommenden Schlachtarbeiter*innen die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten können. (1)
Offenbar noch dramatischer ist die Situation für die Menschen, die für Tönnies in Rheda-Wiedenbrück unter extrem unwürdigen Bedingungen Tiere am Fließband töten und zerstückeln. „Die Tönnies Unternehmensgruppe hatte 2019 einen Jahresumsatz von 7,3 Milliarden Euro. Dafür mussten 20.800.000 Schweine und 440.000 Rinder gewaltsam sterben“, so die gemeinnützige Organisation „Liberation Now“ am 21. Juni 2020. (2) In Rheda-Wiedenbrück werden täglich bis zu 30.000 Schweine getötet. Es ist eine von 29 Produktionsstätten des weltweit agierenden Konzerns.
„Clemens Tönnies ist nicht nur ein Rassist, sondern das System Tönnies ist Menschenschinderei“
Clemens Tönnies ist bekannt als Mäzen und war bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender von Schalke 04. Er ist Chef des zweitgrößten Schweine-Schlacht-Konzerns in Europa. Sein menschenfeindliches, rassistisches Weltbild zeigte der einflussreiche Kapitalist im August 2019. Beim Tag des Handwerks lehnte der Patriarch als Festredner vor 1.600 Menschen in Paderborn Steuererhöhungen im Kampf gegen den Klimawandel ab. Dabei stellte er einen angeblichen Zusammenhang von Energieversorgung, Klimawandel und „Überbevölkerung“ in Afrika her. Statt die Abgaben zu erhöhen solle man lieber jährlich 20 Kraftwerke in Afrika finanzieren, „dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren.“ (3)
Die Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg formulierte daraufhin im August 2019 treffend: „Tönnies ist nicht nur ein Rassist, sondern das System Tönnies ist Menschenschinderei“. (4) Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werksvertragsarbeiter*innen seien eine Horrorwelt: „In Kellinghusen sind rumänische Werksvertragsarbeiter von Vorarbeitern zusammengeschlagen worden, ein rumänischer Kollege, George Berca, hatte einen Unfall, bei dem er sich die Hand verstümmelte. Tönnies dazu: Selbstverstümmelung! Diese Zustände sind zwangsläufige Folgen des Werkvertragssystems und des System Tönnies. Präses Peter Kossen hat für die überausgebeuteten WerksvertragsarbeiterInnen deshalb den Namen Wegwerfmenschen gefunden. Zu Recht. (…) Wir alle, zusammen mit GewerkschafterInnen, Tierschutz- und Tierrechtsgruppen, kämpfen gegen das System Tönnies und für die Abschaffung von Werkverträgen.” (5)
In den Fleischfabriken von Tönnies arbeiten die Menschen vor allem aus Rumänien und Bulgarien auch heute noch zu Billiglöhnen und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Besonders schlimm ist die Situation der Frauen, die über 30 Prozent der Arbeiter*innenschaft bei Tönnies ausmachen und oft auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Inge Bultschnieder, Gründerin der Interessengemeinschaft „WerkFAIRträge“ (6), kämpft seit 2012 gegen die katastrophalen Zustände in der Massenschlachterei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. In einem EMMA-Interview mit Annika Ross berichtet sie, warum sie sich mit dem Milliardär Tönnies anlegt: „Ich lag 2012 im Krankenhaus. Neben mir lag Katja, eine junge Bulgarin, total abgemagert. Sie war bei Tönnies am Fließband zusammengebrochen. Sie hatte keine Krankenversicherung. Plötzlich kam jemand in unser Zimmer und machte ihr Dampf, sie möge gefälligst bald wieder bei der Arbeit erscheinen, sonst würde er sie rausschmeißen. (…) Katja erzählte von den unsäglichen Arbeitsbedingungen. Stehen in der Kälte. Angetrieben werden durch die Vorarbeiter. Katjas Job war es, mit dem Messer Schinken vom Knochen zu lösen. Sie musste immer wieder zustechen. Das ist Schwerstarbeit. Ihre Hand- und Ellbogengelenke waren total entzündet. Sie hat mir erzählt, für 200 Stunden Arbeit im Monat hätte sie um die 1.100 Euro netto bekommen. Davon musste sie rund 300 Euro Miete für ein Bett in einem Zimmer mit Stockbetten für acht Leute und 100 Euro für die Fahrt ins Werk bezahlen. Überstunden wurden nicht entgolten. Das Reinigen des Arbeitsplatzes galt nicht als Arbeitszeit.“ (7)
In der Interessengemeinschaft WerkFAIRträge engagiert sich auch die Ärztin Almuth Stork, die damals im Rettungswagen Notdienste gefahren sei und ständig zu Tönnies musste, weil sich Arbeiter*innen verletzt hatten. Inge Bultschnieder: „Als Almuth einmal einen schwerverletzten Arbeiter aus der Halle ziehen wollte, der sich mit der Kettensäge fast das ganze Bein abgetrennt hatte, haben die dort nicht einmal das Band mit den rotierenden Schweinehälften angehalten. Die sind ihr in den Rücken geknallt. Ein anderes Mal musste die Ärztin einem Arbeiter die Haut von den Füßen ziehen. Ein scharfes Desinfektionsmittel war ihm in die Schuhe gelaufen. Aber der Vorarbeiter gab ihm keine neuen Gummistiefel, erzählte Almuth, und der Arbeiter musste den ganzen Tag darin weiterarbeiten. Almuth war 15 Jahre Notärztin in Rheda-Wiedenbrück, in der Zeit hatte sie mindestens einmal pro Woche einen Einsatz bei Tönnies: Schwächeanfälle, abgetrennte Gliedmaßen, gebrochene Knochen. Einmal, hat sie erzählt, hatte sich ein Arbeiter in einer Abstellkammer erhängt, der wurde tagelang nicht gefunden und niemand wusste, wer er war.“ (8)
Inge Bultschnieder hat von vielen Frauen erfahren, dass es beispielsweise in den Umkleidekabinen bei Tönnies sexuelle Übergriffe gegeben hat. Tönnies dominiert als mächtiger Arbeitgeber und Mäzen die Stadt Rheda-Wiedenbrück. Weil sich Inge Bultschnieder für die Tönnies-Arbeiter*innen einsetzt, wird sie angefeindet. Schlimm sei es gewesen, als sie 2015 der Arbeiterin Michaela geholfen habe. Die Rumänin war nach eigenen Angaben von ihrem Vorarbeiter schwanger. „Sie war total eingeschüchtert. Sie hatte ihr Baby allein in einer Garage bekommen und es danach ausgesetzt. Sie wusste sich einfach nicht anders zu helfen und musste ja auch wieder am Band stehen. Das Kind wurde zur Adoption freigegeben, Michaela zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. In der Vernehmung sagte sie, man habe ihr gedroht, dass sie den Job verliere, wenn sie schwanger würde. Michaela ist viel Schlimmes in ihrem Leben passiert, sie hat nie gelernt, sich zu wehren. Hier wurde sie dann als ‚die Hexe mit Syphilis“ gebrandmarkt“, berichtet Bultschnieder.
Die Unterbringung der Arbeiter*innen in überfüllten, verwahrlosten, teilweise verschimmelten Wohnungen zu Wuchermieten ist nach wie vor katastrophal. Der 1,5 bis zwei Meter Abstand, der anderswo die Corona-Pandemie erfolgreich begrenzen konnte, lässt sich unter solch miesen Bedingungen kaum einhalten. Mehr als 2.000 der 7.000 Arbeiter*innen bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück haben sich mit dem Coronavirus aufgrund dieser skandalösen Arbeits- und Lebensbedingungen infiziert. (9) Kurz nachdem sich im vorrübergehend geschlossenen Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück die Fließbänder in Bewegung setzten, wurden am 27. Juli bereits 31 neue Corona-Infektionen öffentlich. (10)
Ich möchte auf die am Anfang des Artikels erwähnten grillenden Studenten zurückkommen. Muss denn nun auch der für die katastrophalen Zustände in Rheda-Wiedenbrück verantwortliche Milliardär, Rassist und Superspreader Tönnies eine Strafe zahlen? Nein, offensichtlich nicht. Wie nennt sich das? Klassengesellschaft.
Nachdem Bundesarbeitsminister Heil (SPD) einen Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen angekündigt hat, ließ Tönnies Mitte Juli 2020 kurzerhand 15 sogenannte Vorratsgesellschaften am Amtsgericht Gütersloh für Rheda-Wiedenbrück eintragen. „Die Vermutung verschiedener Nutzerinnen und Nutzer: Tönnies wolle das Verbot von Werkverträgen umgehen, weil dieses nicht für Firmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden gelte. (…) Ob Tönnies die neuen Gesellschaften allerdings tatsächlich nur vorsorglich hat eintragen lassen, oder ob ein bestimmter Zweck im Hinblick auf das Verbot von Werkver- trägen verbunden ist, bleibt offen“, so die tagesschau am 30. Juli 2020. (11)
Proteste gegen Tönnies und Co.
In den vergangenen Wochen fanden direkte gewaltfreie Aktionen gegen Tönnies statt. So wurde am 4. Juli die Schlachtfabrik in Rheda-Wiedenbrück blockiert und ein Banner mit der Aufschrift „Shut down Tierindustrie“ entrollt (siehe Interview und Artikel in dieser GWR). Wegen einer ähnlichen Schlachthofblockade in Kellinghusen im Oktober 2019 fordert der Tönnies-Konzern nun 40.000 Euro Schadensersatz von Aktivist*innen. Das Bündnis „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“ unterstützt die Betroffenen und ruft zu einer Demo gegen Tönnies am 29. August 2020 in der Ortschaft in Schleswig-Holstein auf. Die Aktivist*innen erwarten zeitnah einen Schadenersatzprozess. Bündnis-Vertreterin Katja Suhr äußerte sich dazu am 12. August in der „jungen Welt“: „Das Geschäftsmodell von Konzernen wie Tönnies beruht auf Tierleid, Naturzerstörung und Ausbeutung. (…) Während Tönnies für all die vom Unternehmen verursachten Schäden nicht aufkommen muss, sollen jetzt diejenigen bezahlen, die die tödliche Maschinerie für ein paar Stunden unterbrochen haben“. (12) Die Aktivist*innen fordern die Enteignung der Fleischkonzerne und die sofortige Umstellung auf eine ökologische und solidarische Produktion von Nahrungsmitteln.
Tönnies ist ein skrupelloser Kapitalist wie er im Buche steht. Das Fazit meines GWR-Onlinekommentars vom 23. Juni bleibt aktuell: Der Kampf für eine klassenlose, herrschafts- und gewaltfreie Gesellschaft ist auch das solidarische Eintreten für Ökologie und eine sozial gerechte Welt, in der es keinen Kapitalismus, keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, keinen Rassismus und keine industriellen Massenschlachtungen mehr gibt. (13)
Bernd Drücke
Anmerkungen:
1) Siehe dazu: Die Fleischindustrie in der Coronakrise. Hotspot Schlachthof, Kommentar von Renate Brucker, in Graswurzelrevolution Nr. 450, Sommer 2020, https://www.graswurzel.net/gwr/2020/06/die-fleischindustrie-in-der-coronakrise
2) Quelle: https://www.facebook.com/liberation.hannover/
7) https://www.emma.de/artikel/schweinerei-eine-frau-hebt-toennies-sumpf-aus-337907 (Abgerufen am 21.7.2020, EMMA)
8) ebd.
9) https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/vor-corona-ausbruch-gravierende-arbeitsschutzverstosse-bei-toennies-100.html [Stand: 24.9.2020, 14:00 Uhr]
11) https://www.tagesschau.de/faktenfinder/toennies-faktenfinder-101.html
12) https://www.jungewelt.de/artikel/384445.schlachthofblockade-t%C3%B6nnies-fordert-schadensersatz.html
13) Das System Tönnies. Ausbeutung, Rassismus, kapitalistisches Massenschlachten, Kommentar von Bernd Drücke, auf: https://www.graswurzel.net/gwr/2020/06/das-system-toennies/
Literaturtipp:
Leo Tolstoi, Clara Wichmann, Elisée Reclus, Magnus Schwantje u.a.: Das Schlachten beenden! Zur Kritik der Gewalt an Tieren. Anarchistische, pazifistische, feministische und linkssozialistische Traditionen, überarbeitete Neuauflage 2019, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, 192 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-13-7, https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/das-schlachten-beenden/
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 451, September 2020, www.graswurzel.net