Sozialisten haben Religion immer als widersprüchliches Phänomen begriffen und entsprechend gehandelt. Ein historischer Abriss von Volkhard Mosler.
Karl Marx war Atheist und Kritiker
jeglicher Religion. Einer seiner meistzitierten Aussprüche lautet:
„Religion ist das Opium des Volks". Doch er meinte damit nicht nur,
dass Religion von oben verordnete „Volksverdummung" sei. Das volle
Zitat lautet vielmehr: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck
des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das
wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur,
das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände
ist. Sie ist das Opium des Volks."
Religion kann also das Leid der Menschen ausdrücken. Der bekannte
Revolutionär Lenin drückte es ganz ähnlich aus: „Die soziale
Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht
gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den
einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr
der entsetzlichsten Leiden und unmenschlichsten Qualen bereitet als
irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. -
darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion."
Als „Opium des Volks" kann Religion den Massen helfen, dass Leid zu
dulden, weil sie auf Besserung im Jenseitigen hoffen. Gleichzeitig kann
der Glauben die Menschen im Widerstand gegen Ungerechtigkeit lähmen,
indem sie sie veranlasst, den Trost in einer anderen Welt zu suchen und
nicht das Hier und Jetzt zu ändern.
Die vielen Gesichter der Religion
Unter bestimmten Umständen aber kann sich in Religion auch das Streben
nach radikaler Veränderung ausdrücken. Zudem sind religiöse Ideen
höchst anpassungsfähig an gesellschaftliche Entwicklungen. Marx
formulierte es so: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht
nicht den Menschen". So war die christliche Religion in ihren ersten
drei Jahrhunderten eine revolutionäre Kraft zur Befreiung von
Sklaverei, dann war sie als katholische Staatskirche bis ins späte
Mittelalter eine reaktionäre Ideologie der besitzenden Feudalklasse, um
dann als Protestantismus und Calvinismus als Ausdruck der
frühbürgerlichen Befreiungsbewegung erneut revolutionäre Sprengkraft zu
entfalten.
Gerade weil Religion ebenso oft Motor des gesellschaftlichen
Fortschritts war wie Hemmschuh im Sinne der jeweils herrschenden
Klassen, ist es erforderlich nicht von „der Kirche" oder „der Religion"
zu sprechen, sondern jeweils genau zu analysieren, welche
gesellschaftlichen Kräfte sich dahinter verbergen. Der Katholizismus
der IRA in Irland erfüllt eine andere gesellschaftliche Funktion als
der Katholizismus im faschistischen Spanien unter General Franco.
Einmal ist er begrenzt antiimperialistisch und fortschrittlich, das
andere Mal ist er Ausdruck faschistischer und imperialistischer
Herrschaft. Auch heute gibt es neben einer konservativen christlichen
Partei wie der CDU einen Hugo Chavez, der sich auf die südamerikanische
Befreiungstheologie beruft und zugleich den Papst verehrt.
Bebel und Bismarcks Kulturkampf
Ein Beispiel, was diese Analyse der Religion als widersprüchliches
Phänomen für die praktische Politik bedeuten kann, stellt die Haltung
des Sozialdemokraten August Bebel zu Bismarcks „Kulturkampf" gegen den
Katholizismus dar.
Der Begriff Kulturkampf kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
auf. Er wurde für den weltanschaulichen und politischen Konflikt
zwischen der Katholischen Kirche und dem antiklerikalen Liberalismus,
der für die Trennung von Staat und Kirche in der Tradition der
Aufklärung stritt, verwendet.
Der konservative Reichskanzler Otto von Bismarck sah durch den
Katholizismus die Vormachtstellung des protestantischen Preußens im neu
gegründeten Deutschen Reich gefährdet. Er verdächtigte die katholische
Kirche und die katholische Zentrumspartei sogar staatsgefährdender
Umtriebe: „Das Zentrum steigert die vom Kommunismus der Gesellschaft
drohenden Gefahren", schrieb er 1871.
Die stärkste politische Kraft im neuen Reich war damals die Liberale
Partei, die noch zehn Jahre zuvor fast eine demokratische Revolution
gegen die preußische Monarchie unter Bismarcks Führung gewagt hatten.
Bismarck nutzte den Konflikt zwischen Liberalismus und Katholizismus
für seine politischen Zwecke, die Stärkung einer autoritären
preußischen Monarchie mit halbfeudalen, vorbürgerlichen Zügen.
Den Auslöser des Kampfes bildeten das 1870 erlassene
Unfehlbarkeitsdogma des Papstes und die Gründung der katholischen
Zentrumspartei in Preußen. Der Papst versuche - so die liberalen
Kritiker - mit diesem Dogma auch in Deutschland seinen politischen
Einfluss mittels der Kirche durchsetzen. Bismarck erließ daraufhin den
so genannten Kanzelparagraphen, der es katholischen Priestern verbot,
sich von der Kanzel zu politisch-gesellschaftlichen Themen zu äußern.
1872 erfolgte das Verbot des Jesuitenordens, der als Speerspitze der
Gegenaufklärung in Europa galt. Hunderte von Priestern und Bischöfen
verloren ihre Stellen. Sehr viele Priester wurden von ihrem Wohnort
verbannt.
Im gleichen Jahr wurde ein Schulaufsichtsgesetz erlassen, das alle
Schulen, auch die konfessionellen, unter Staatsaufsicht stellte.
1874/75 setzte Bismarck die Zivilehe durch, was eine standesamtliche
Funktion des Staates zur Folge hatte. So erschien Bismarck im Lichte
eines Vorkämpfers von Freiheit und Aufklärung gegen eine Rückkehr ins
katholische Mittelalter. Unter dem Mantel des Aufklärers gelang es ihm
so, seine polizeistaatliche Macht zu etablieren und dafür die
Zustimmung der Liberalen zu erhalten.
August Bebel war der einzige Abgeordnete des linken, demokratischen
Flügels, der dieses Spiel durchschaute und im Reichstag dagegen seine
Stimme erhob: „Meine Herren, dem Staat ist es vollkommen gleichgültig,
ob der Papst unfehlbar ist oder nicht, ihm ist es auch vollkommen
gleichgültig, ob die Jesuiten gegen die Moral verstoßen (...), der
Staat hat allezeit verflucht wenig nach der Moral gefragt (...). Was
den Herrn Reichkanzler reizt, ist, dass er von der katholischen Seite
in politischen Dingen nicht für unfehlbar angesehen wird (...)."
Bebel stimme deshalb gegen das Verbot des Jesuitenordens. Den liberalen
Aufklärern rief er zu, sich mit der Zustimmung zu solchen
Maulkorbgesetzen gegen die Kirche zum „Polizeibüttel" zu machen.
Friedrich Engels warnte damals ebenfalls wiederholt vor einem falschen,
bürgerlichen Atheismus und Antiklerikalismus und sprach sich dagegen
aus, diesen ins Parteiprogramm der Sozialisten zu schreiben. Und so
standen im Erfurter Programm der SPD von 1891 ganz im Sinne dieser
Erfahrungen nur drei dürre Worte über den Glauben: „Religion ist
Privatsache".
Die Bolschewiki und die Religion
Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit Religion lieferten die
russischen Bolschewiki. Schon vor der Oktoberrevolution 1917 war ihr
Parteiprogramm zwar klar atheistisch ausgerichtet, Atheismus galt aber
niemals als Voraussetzung für die Parteimitgliedschaft. Vielmehr war
für sie Religion Privatsache eines jeden Bürgers. Im Jahr 1905 hielt
Lenin eine Schmährede gegen diejenigen, die den Atheismus in das
Parteiprogramm aufnehmen wollten. Dort betonte er: „Durch keine
Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären,
wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des
Kapitalismus aufgeklärt wird."
Lenin war sich darüber im Klaren, dass es politischem Selbstmord
gleichkommen würde, darauf zu pochen, dass Arbeiter vor dem Eintritt in
eine revolutionäre Partei ihre religiösen Ideen aufgeben. Im Gegenteil
forderte er, Gläubige „zielstrebig" für die Partei zu gewinnen: „(...)
wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen
Überzeugungen", schrieb er 1909.
Als die Bolschewiki im Oktober 1917 zur Macht kamen, erklärten sie den
Sowjetstaat für nichtreligiös, aber nicht für antireligiös. Im Dezember
wurde die russisch-orthodoxe Kirche entmachtet und verlor ihre
Eigentumsrechte. Geburtsregister, Heirat, Scheidung und Bildung wurden
zu nichtreligiösen Aufgaben des Staats erklärt. Kirchen wurden
umgewandelt in Schulen, Wohngebäude, Klubs und so weiter.
Gleichzeitig hatten religiöse Gruppierungen das Recht, bei den
zentralen und örtlichen Beamten Eingaben für die Nutzung eines
beliebigen Gebäudes als Gebetshaus zu machen. Auch die Schulen waren
säkular, aber nicht antireligiös.
Islam und die russische Revolution
Muslime hatten unter dem russischen Imperialismus schwer gelitten. Die
Wut darüber entbrannte im Ersten Weltkrieg. Im Sommer 1916 kam es zu
einem Massenaufstand gegen die Einführung der Wehrpflicht in
Mittelasien, bei dem 2500 russische Kolonialisten ihr Leben verloren.
Dem Aufstand folgte die blutige Unterdrückung: Die Russen metzelten
rund 83.000 Menschen nieder. Die Krise des Zarismus radikalisierte
deshalb im Jahr 1917 Millionen Muslime, die Religionsfreiheit und
Nationalrechte einforderten - die ihnen von der neuen revolutionären
Regierung der Bolschewiki auch gewährt wurden.
Das Ziel der bolschewistischen Politik bestand darin, so weit wie
möglich Wiedergutmachung für die Verbrechen des Zarismus an nationalen
Minderheiten und ihren Religionen zu leisten. Dabei ging es nicht nur
um eine Frage einfacher Gerechtigkeit und grundlegender Demokratie,
sondern auch darum, dass auf diese Weise die Klassenunterschiede
innerhalb religiöser und nationaler Gruppen in den Vordergrund rücken
konnten. Nationale Autonomie und Unabhängigkeit von Russland wurden so
zu einem entscheidenden Bestandteil sowjetischer Politik. In einer
Erklärung der jungen Sowjetregierung „an alle werktätigen Mohammedaner
Russlands und des Ostens" vom 24. November 1917 hieß es: „Muslime
Russlands (...) ihr, deren Moscheen und Gebetshäuser von den Zaren und
Unterdrückern Russlands verwüstet wurden, deren Überzeugungen und
Sitten mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Sitten, eure
nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und
unantastbar. Wisset, dass eure Rechte wie die aller Völker Russlands
unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen."
Ein umfangreiches Programm mit dem Titel „korenisatsia" oder
„Indigenisierung" wurde aufgelegt, das heute als „positive
Diskriminierung" bezeichnet würde. Als Erstes wurden die russischen und
kosakischen Kolonisten und ihre Ideologen in der russisch-orthodoxen
Kirche kaltgestellt. Die Vorrangstellung der russischen Sprache wurde
aufgehoben, und in den Schulen, Verlagen und staatlichen Einrichtungen
durften wieder Regionalsprachen gesprochen und geschrieben werden.
Einheimische nahmen führende Positionen im Staat und den
kommunistischen Parteien ein und wurden bei Stellenbesetzungen vor
Russen bevorzugt. Universitäten wurden eingerichtet, um eine neue
Generation nichtrussischer Akademiker auszubilden. Viele muslimischen
Führer unterstützten bedingt den Arbeiterstaat - vor allem weil sie
davon überzeugt waren, dass ihnen die Sowjetmacht am ehesten
Religionsfreiheit gewähren würde.
Stalins Angriff auf den Islam
Wie andere Errungenschaften der russischen Revolution auch wurde die
Religionsfreiheit mit dem Aufstieg des Stalinismus ab Mitte der 1920er
Jahre zurückgedrängt. In dem Bemühen, Macht zu bündeln und die
staatliche Kontrolle zu stärken, entdeckte die wachsende stalinistische
Bürokratie, dass der russische Nationalismus bei Betonung der
Kontinuität zwischen Stalinismus und den Zaren ein mächtiges Werkzeug
sein konnte, die Arbeiter der größten nationalen Gruppierung - sprich:
der russischen - an das Regime zu binden. Deshalb griff Stalin immer
häufiger „nationalistische Abweichungen" in den nichtrussischen
Republiken an und förderte die Wiedergeburt des russischen
Chauvinismus.
In diesem Kontext griffen die Stalinisten den Islam frontal an. Unter
dem Vorwand des Kampfs gegen „Kriminalität auf Grund überkommener
Sitten" stellten sie „Frauenrechte" in den Mittelpunkt ihrer Kampagne,
und in Usbekistan und Aserbaidschan vor allem das Schleiergebot. Die
Parole lautete „Hudschum", was in den Sprachen Mittelasiens so viel wie
„Angriff" oder „Sturm" hieß. Nach zwei Jahren weitgehend unwirksamer
Propaganda trat der „Hudschum" am 8. März 1927, dem Internationalen
Frauentag, in seine Massenaktionsphase. Auf Großveranstaltungen wurden
Frauen aufgefordert, den Schleier abzulegen: Kleine Gruppen
einheimischer Frauen sollten zur Bühne gehen und ihre Schleier in die
Freudenfeuer werfen. Der Autor einer neu erschienenen Geschichte des
Hudschums weist darauf hin, dass in den Anfangsjahren der Sowjetmacht
den Bolschewiki nicht im Traum der Gedanke gekommen wäre, Muslimfrauen
zur Ablegung ihres Schleiers zu ermutigen - geschweige denn, sie zu
zwingen.
A-, nicht anti-religiös
Ein Kommentar von Volkhard Mosler
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass es die Aufgabe von
Linken sei, einen besonderen Kampf gegen die Religion zu führen. Marx
und Engels waren Gegner eines militanten Antiklerikalismus.
Sie lehnten es ab, der Religion einen besonderen Kampf anzusagen, sie
zu verbannen oder gar zu unterdrücken. Vielmehr ging es ihnen darum,
die zerrissene Welt zu heilen, die Ursache des Schmerzes zu beseitigen,
um so die Einnahme von „Schmerzmitteln" überflüssig zu machen.
Daraus folgt: Sozialisten kämpfen für die vollständige Trennung von
Staat und Kirche. Aber nicht die Verfolgung und Unterdrückung von
Religion, sondern ihre vollständige Befreiung von jeglicher staatlicher
Bevormundung ist das „linke Prinzip" gegenüber der Religion.
Die heutige Linke sollte nicht hinter diese Position zurückfallen - nur
so werden wir Muslime für den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus
gewinnen.