Seit dem Nachkriegsaufbau trägt die Wirtschaftsleistung erheblich zum deutschen Selbstverständnis bei. Das erhält jetzt einen Dämpfer. Nach der aktualisierten Prognose des Internationalen Währungsfonds für 2023 (von Ende Juli) verzeichnet Deutschland als einziges Land unter den Industrie- und Schwellenländern einen Rückgang der Wirtschaftsleistung: um 0,3 Prozent. In den anderen wird von einem Wachstum ausgegangen, in Indien um 6,1 Prozent, China 5,2 und Brasilien 2,1 Prozent, selbst im Falle Russlands wird – trotz westlicher Sanktionen – ein Plus von 1,5 Prozent prognostiziert. Die BRICS bleiben stärkster Motor der Weltwirtschaft. Aber auch im Feld der G7 ist Zuwachs angesagt, in den USA von 1,8 Prozen, Japan 1,4 Prozent und der Euro-Zone als Ganze um 0,9 Prozent.
Der Aufschrei in den wirtschaftspolitischen Medien kam prompt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört, betonte, die Inflation drückt den Konsum, die hohen Energiepreise lassen die Produktion sinken. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten verwiesen darauf, dass 26 Prozent der Mittelständler darüber nachdenken, ihr Geschäft aufzugeben, jeder fünfte Unternehmer erwäge, ins Ausland zu gehen, vor allem wegen der überbordenden Bürokratie in Deutschland. Hinzu kämen der Fachkräftemangel, zu wenige Investitionen in die Infrastruktur und die abnehmende Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Das Institut der deutschen Wirtschaft verwies auf das NEET-Problem – NEET heißt „Not in Education, Employment or Training“, also nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung. Das sind in Deutschland derzeit 630.000 Menschen zwischen 15 und 24 Jahren; während zehntausende Ausbildungsplätze nicht besetzt werden.
In Umlauf sind zugleich Erklärungsversuche, die sich psychologischer Interpretationen bedienen. Die Berliner Zeitung vom 17. Juli 2023 publizierte einen Essay unter dem Titel: „Verfall der Moral“. Ausgangspunkt ist eine Umfrage, wonach im Falle eines Krieges jeder dritte bis vierte Deutsche „Deutschland so schnell wie möglich verlassen [würde], und nur jeder zehnte Deutsche würde kämpfen“. Weiter heißt es: „Eine Nation, für die niemand kämpfen will, ist zum Scheitern verurteilt. Staaten scheitern meist nicht, weil sie besiegt werden, sondern weil sie sich selbst aufgeben.“
Der Autor heißt Muamer Bećirović. Er ist noch jung und wurde, wie man im Internet nachlesen kann, 1996 in München geboren, studierte in Wien Politikwissenschaft und Geschichte, lebt dort jetzt als Publizist, forscht zu Diplomatiegeschichte und Internationaler Politik. Der Name Bećirović verweist auf eine bosnische Herkunft – dort haben nach dem Ende Jugoslawiens alle drei Volksgruppen um ihre nationalen Interessen gekämpft. Vielleicht stechen ihm die deutschen Zustände auch deshalb besonders ins Auge.
Bećirović folgt zunächst der üblichen Anschuldigung, dafür seien besonders die Bundeskanzler Schröder und Merkel verantwortlich zu machen, betont dann aber: „Es kam eine Generation an die Macht, die keine Katastrophen kennt.“ Es liege jedoch „weniger an der Natur der fehlenden strategischen Kontinuität in einer Demokratie als vielmehr am Verfall der Moral“; die deutsche Führung verfolge „keine großen Ziele mehr“. Das jedoch verortet er im Zustand der Gesellschaft: „Wohlstand verändert Gesellschaften, die nicht kämpfen müssen, um zu existieren. Die Werte verschwimmen, das Nebensächliche wird zum Hauptsächlichen. Das Gleichgewicht zwischen Individualismus und Kollektiv gerät außer Kontrolle, der persönliche Vorteil wird zum dominierenden Faktor.“
Es mangele uns heute an „Eliten, die ihre persönlichen Interessen einer größeren Sache opfern“. Dabei verweist Bećirović auf die britischen Eliten, die im Ersten Weltkrieg einen großen Teil der gefallenen Offiziere stellten. Dieses Beispiel passt jedoch nicht in die gewählte Argumentationsstruktur. Zunächst einmal war das mit den preußischen Junkern und dem kaiserlichen Offizierskorps ähnlich. Vor allem aber haben die Deutschen im 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen zweimal versucht, Weltmacht zu werden und Europa zu erobern, und sind beide Male kläglich gescheitert. Insofern haben wir es in Deutschland heute mit einer „post-heroischen“ Gesellschaft zu tun, in der das Wissen der Großeltern und Urgroßeltern aufbewahrt ist, dass Krieg zu nichts Gutem führt. Gleichwohl bleibt zutreffend, dass es in Deutschland – im Unterschied etwa zu Großbritannien, Frankreich und anderen Nationen in Europa – verbreitet keinen oder nur einen geringen positiven Bezug auf den nationalen Zusammenhang gibt.
Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, bekannt vor allem durch seine Arbeiten zur Bildungs- und Jugendforschung, wendet auf die derzeitige deutsche Gesellschaft den Ansatz der „posttraumatischen Belastungsstörung“ an (TAZ, 03.08.2023). Viele Menschen hätten das Gefühl, durch die Coronapandemie aus dem normalen Lebensrhythmus geworfen worden zu sein. Wir hätten es mit einer „psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun“, die jetzt eigentlich Ruhe bräuchte. Stattdessen „stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung.“
Das Kölner Rheingold-Institut, das sich eigentlich mit Marktforschung und „Markenaufbau“ beschäftigt, hat für die Identity Foundation – eine Stiftung, die in Köln philosophische Themen der Wechselseitigkeit von individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit öffentlich in die Diskussion bringt – eine Studie zur „Zuversicht der Deutschen“ angefertigt, die den Titel trägt: „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit“. Die Studie dürfte sozialwissenschaftlichen Standards entsprechen: Zunächst wurde eine Online-Befragung von 1000 repräsentativ ausgewählten Personen (der 18- bis 65-jährigen Bevölkerung) durchgeführt, dann wurden 35 Personen in psychologischen Tiefeninterviews befragt.
Die Herausgeber der Studie bezeichnen das Ergebnis als „dramatisch“. Ein Großteil der Bevölkerung sei im Hinblick auf Politik und Gesellschaft „desillusioniert“ und reagiere „auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück“. Drei Viertel der befragten Personen hätten das Gefühl, „dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun“. 86 Prozent sind der Meinung, die Politik müsse übergreifende Lösungen schaffen; da sie dabei versage, vertrauen nur 34 Prozent der Regierung. 59 Prozent fühlen sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert, nur 39 Prozent informieren sich noch ausführlich über das Weltgeschehen.
Die fünf Themen, die von den Befragten als besonders dringlich wahrgenommen werden, sind Inflation (51 Prozent), Altersarmut (46 Prozent), Klimawandel (43 Prozent), bezahlbarer Wohnraum (41 Prozent) und Energiekrise (41 Prozent). Das bedeutet, dass für 57 Prozent der Deutschen die Klimakrise nicht zu den fünf wichtigsten Krisen gehört.
Die Bearbeiter der Studie sprechen von einem „Vorhang der Verdrängung, der das private Leben zusehends von der öffentlichen Sphäre trennt“, und folgern, dass „übergreifende politische Fragen und globale Bedrohungen […] der direkt erlebbaren, gegenwärtigen persönlichen Betroffenheit untergeordnet“ werden. „Die am Beginn der Coronakrise und des Ukrainekrieges erlebten Ohnmachtsgefühle sollen sich nicht wiederholen.“ So werde eine „hohe private Zuversicht möglich, die allerdings von einem diffusen Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung begleitet ist“. Die Deutschen befänden sich „psychologisch betrachtet nicht in einer (visionären) Zeitenwende, sondern in einer gedehnt wirkenden Nachspielzeit“. Sie hofften, dass die Verhältnisse, „die sie kennen und schätzen, wenigstens noch eine gewisse Zeit fortbestehen. Eine aktivierende, von Ideen getragene Aufbruchsstimmung bleibt weitgehend aus.“
Dazu passen die NEETs ebenso, wie die wachsende Zahl der Wehrdienstverweigerer: Trotz ausgesetzter Wehrpflicht hat sich 2022 die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in Deutschland auf 1.123 verfünffacht; neben Reservisten und Berufssoldaten reichen auch Ungediente ihre Verweigerung ein (MDR aktuell, 08.08.2023). Womit wir wieder bei der bemängelten Bereitschaft sind, dieses Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Der Zustand des deutschen Fußballs könnte hier ebenfalls eingeordnet werden. Das aber wäre ein anderes Thema.