Die deutschen Medien interpretierten die Geländegewinne der ukrainischen Armee mit ihrer Gegenoffensive bei Charkiw nahezu unisono als „Wendepunkt“ des Krieges. Sie habe Russland „eine schwere Niederlage zugefügt“, im Osten werde „es ernst“. Bereits zuvor hatten militärtheoretische Erwägungen zu der Feststellung geführt, dass das eigentlich überraschende Resultat des Krieges die Ineffektivität der russischen Kriegsführung sei. Der Journalist Wolfgang Michal allerdings kritisierte im Freitag scharf „die Schreibtischhelden von FDP und Grünen“, die mit deutschen Panzern in der Ukraine „eine neue Panzerschlacht um den Donbass führen“ wollen. Das ist 80 Jahre nach den großen Panzerschlachten des zweiten Weltkrieges, 1943 war die größte dieser Schlachten die am „Kursker Bogen“, mit der die Deutschen die Initiative der Kriegsführung endgültig verloren hatten. Jetzt „Rache für Kursk“, und die Ukrainer kämpfen es aus?
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick schrieb: „Die Mehrheit der Analysten – ich eingeschlossen – sah zu Beginn des Krieges für die Verteidiger nur wenig Chancen, der vermeintlichen Überlegenheit des Aggressors standhalten zu können. Die Mängel der russischen Kriegsführung waren überraschend. Miserable Operationsführung, mangelhafte Logistik bis hin zu schwacher soldatischer Moral – dies im Gegensatz zur ukrainischen Widerstandskraft, deren Intensität ebenso überraschte.“
Auch dies muss als eine Folge des Systemwechsels betrachtet werden. Im zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion eine kommunistische Regierung, eine kommunistische Militärführung und Parteimitglieder bis auf die Soldaten-Ebene in der Truppe, die zum Sturmangriff voranstürmten, auch wenn sie selbst „für die Sache“ unausweichlich sterben mussten. Putin hatte die kommunistische Machteroberung 1917 verurteilt, weil sie Russlands Kriegsführung im ersten Weltkrieg sabotiert hatte und daran hinderte, 1919 in Versailles bei den Friedensverhandlungen mit auf der Seite der Sieger zu sitzen. Putins Macht ist nicht die Fortsetzung der Sowjetunion mit anderen Mitteln, wie unbedarfte Interpreten es auch in Deutschland zuweilen interpretieren, sondern er will an die Herrschaft der Zaren anknüpfen.
Deren Kriegsführung war jedoch meist militärisch ineffektiv und aufwendig. Der Nordische Krieg von Peter I. benötigte über 20 Jahre, um den Zugang zur Ostsee dauerhaft zu gewinnen, Katharina II. brauchte sechs Jahre Krieg gegen das Osmanische Reich, um die Krim und den Anschluss an das Schwarze Meer zu erringen. Rücksicht auf die Opfer unter der eigenen Truppe und unter der Zivilbevölkerung wurde nicht genommen, die Generäle waren oft inkompetent, die Truppenkommandeure und Versorger korrupt. „Russland ist groß und der Zar ist weit“, galt in der Regel auch für die Militärführer. Insofern haben wir es bei der russischen Kriegsführung heute mit keiner Erscheinung zu tun, die es in der russischen Geschichte nicht schon gegeben hätte.
Dessen ungeachtet ist das westliche Siegesgeheul zu früh. Bismarcks berühmter Satz: „Russland ist nie so stark oder so schwach, wie es scheint“, gilt auch heute. Varwick betonte daher, dass sich „trotz des ‘Nebels des Krieges’“ – was eine Formulierung von Clausewitz in Bezug auf die Ungewissheiten eines jeden Krieges ist – „die militärischen und politischen Kräfteverhältnisse“ deutlich bestimmen lassen. Das heißt: „Den Ukrainern gelingt es zwar, durch das Zusammenziehen von Kräften sowie milliardenschwere westliche Waffenlieferungen und Unterstützung bei Ausbildung, Aufklärung und Zielerfassung punktuelle lokale Überlegenheit zu erreichen und damit auch lokale Durchbrüche zu erzielen. Die Eskalationsdominanz liegt jedoch auf russischer Seite.“ Eine solche Feststellung gelte heute als „russenfreundlich“, merkt Varwick an, ist in der Tat jedoch nur eine realistische Beschreibung der Lage. Das heißt: „Die russischen Möglichkeiten sind keineswegs am Ende. Russland ist vielmehr bereit und in der Lage, seine selbst definierten militärischen Ziele in der Ukraine mit kaltem und langem Atem zu erreichen.“ Und Varwick setzte hinzu: „Allerdings ist unklar, wie diese Ziele aussehen.“ Das ist nach wie vor das eigentliche Problem. Solange niemand weiß, was die letztlichen Kriegsziele Russlands sind, sind auch alle Spekulationen darüber, wie man zu einem politisch-diplomatischen Ausgang aus diesem Krieg kommt, reine Spekulation.
Zu den Eigenheiten dieses Krieges gehört, dass er ein Aggressionskrieg Russlands bleibt, sich einige Charakteristika jedoch geändert haben. Als Zar Putin im Februar den Befehl zum Krieg gab, schienen seine Begründungen, es ginge gegen den Faschismus in der Ukraine und es sei ein Krieg des Westens gegen Russland, monströs und reine Zweckpropaganda – wie einst die Behauptung der US-Administration unter George W. Bush, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen, weshalb man sofort den Irak überfallen müsse. Je länger der Krieg jedoch andauert, desto mehr nimmt er den Charakter an, den Putin damals behauptet hatte. Dass es inzwischen ein Krieg des Westens gegen Russland ist, in dem die Ukraine das Kanonenfutter stellt, ist unzweifelhaft.
Was den anderen Punkt anbetrifft, vor einigen Jahren galt der Satz: Im Kampf zwischen dem Zaren und den Bojaren hat in Russland der Zar gewonnen und in der Ukraine die Bojaren. Inzwischen hat Selenskij im Namen des Kriegsrechts die ukrainischen Oligarchen alle seiner Macht unterworfen. Der Präsident verbot oppositionelle Fernsehsender, seine Staatsanwälte klagten seinen Vorgänger Petro Poroschenko des Hochverrats an, er gestaltete den Obersten Gerichtshof unter Verletzung der ukrainischen Verfassung um, unterzeichnete Gesetze zur Diskriminierung der russischen Sprache und verbot elf politische Parteien. Die westliche Propaganda-Behauptung, die Ukraine würde „unsere Freiheit“ verteidigen, erweist sich als reine Lüge.
Am Morgen des 6. September eröffnete Selenskij virtuell die New Yorker Börse. Er teilte mit, das Land sei offen für Investitionen ausländischer Unternehmen in Höhe von 400 Milliarden US-Dollar. Zu diesem Zwecke wurden die Märkte geöffnet, die Zölle gesenkt, die Industriebestimmungen dereguliert und die Arbeitsgesetze neoliberal eingeebnet. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson schätzte ein, dass die von der ukrainischen Regierung „verhängten neuen arbeitsfeindlichen Notstandsgesetze“ nur mit der neoliberalen Agenda von Pinochet nach dem Putsch gegen Allende 1973 zu vergleichen seien. Wenn man davon ausgeht, dass die einzige Siegchance der Ukraine darin besteht, „den Westen immer tiefer in den Krieg zu ziehen“ (Michal), so ist der Ausverkauf an das westliche Kapital die nächstliegende Möglichkeit.
Am 21. September wurde mitgeteilt, dass Putin eine Teilmobilmachung angeordnet hat, womit 300.000 russische Reservisten, die bereits militärisch ausgebildet sind, zu den Fahnen gerufen werden. Im Westen wurde dies als „Zeichen der Schwäche“ interpretiert. Tatsächlich folgt das der militärischen Logik seit Peter I.: Wenn die bisher bereitgestellten militärischen Kräfte nicht ausreichen, muss man aus der Tiefe Russlands neue bereitstellen. Während die ukrainischen Kräfte – schon wenn man die Bilder der „siegenden“ Soldaten sieht, sind das meist ältere Männer – durch die Levée en masse eine punktuelle Überlegenheit an einzelnen Frontabschnitten erreicht hatten, kann sich die russische Armee mit frischen Kräften so aufstellen, dass sie an den einzelnen Frontabschnitten eine neue Überlegenheit erringt. Und gegebenenfalls an der Schwarzmeerküste auch bis zur rumänischen Grenze vorrücken kann, um die Ukraine zu einem Binnenstaat zu machen.
Dennoch ist Putins Order zur Teilmobilmachung auch eine gute Nachricht. Sie bedeutet, dass in der jetzt kommenden neuen Phase des Krieges Atomwaffen wohl nicht eingesetzt werden.