Über kritische Soziale Arbeit in Zeiten des Neoliberalismus
Im neoliberalen Kapitalismus werden alle Bereiche der Gesellschaft den Marktgesetzen unterworfen und auf die Befriedigung von Gewinninteressen ausgerichtet. Dies gilt also auch für Gesundheit, Kultur und Sozialwesen. Welche Folgen das für die Soziale Arbeit hat, analysiert Mechthild Seithe.
Der Neoliberalismus ist das Wirtschaftssystem der 2. Moderne und er ist natürlich immer noch ein kapitalistisches System, sozusagen der "entfesselte Kapitalismus".
Er hat sich bzw. wurde nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und im Kontext der Globalisierung in den westlichen Ländern dieser Welt etabliert und stellt alles unter die Maxime der Gewinnorientierung und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Diese ist damit nicht an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und gesellschaftlicher Entwicklung interessiert - es sei denn, dieses fördert wiederum ihre eigenen Gewinninteressen.
Die Marktwirtschaft des entfesselten Kapitalismus erhebt folgerichtig den Anspruch, alles und alle Bereiche der menschlichen Gesellschaft unter die Marktgesetze zu stellen und wie ein Marktgeschehen zu führen. Das bezieht sich also auch auf die Bereiche, die bisher - auch im Kapitalismus der 1. Moderne - einvernehmlich als nicht marktfähig und nicht marktförmig betrachtet und behandelt wurden, also auch auf die Bildung, das Gesundheitswesen, die Kultur und nicht zuletzt auf den sozialen Bereich der Gesellschaft.
Allumfassende Ökonomisierung
Alles wird instrumentalisiert und benutzt, um eine Gesellschaft herzustellen und aufrechtzuerhalten, in der nicht die Bedürfnisse von Menschen zählen, sondern die "alternativlosen" Erfordernisse des kapitalistischen Marktes. Menschen sind verpflichtet, ihren Teil eigenverantwortlich zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen beizutragen. Sie sind nicht mehr die Souveräne der Gesellschaft, sondern die DienerInnen der Wirtschaft. Es geht nicht um Menschen mit Persönlichkeit und Würde, sondern allein nur noch um ihre Funktion als Humankapital.
Für die Gesamtgesellschaft und für die Weltbevölkerung sind die Folgen unübersehbar. So muss man zum einen die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich nennen, sowie das Phänomen, dass es wieder Menschen unterschiedlicher Wertigkeit gibt, nämlich die Nützlichen und die eher Überflüssigen. Galuske (2008)1 spricht vom unternehmerischen Habitus, der nun jedem abverlangt werde und der jeden dazu verpflichte, seine Arbeitskraft wie ein Unternehmer zu pflegen, ständig anzubieten und sie auch unter persönlich schädigenden Bedingungen auszuführen. Die allgegenwärtige Marktlogik macht auch nicht vor dem Alltag der Menschen halt und hat für die alltägliche Lebensführung vielfältige Konsequenzen, denn sie führt zu einer Ökonomisierung lebensweltlicher Beziehungen (z.B. in der Beziehungspflege) und der Persönlichkeitsentwicklung. Menschliche Probleme und Bedürfnisse und ebenso die Menschen selbst werden damit zur Ware.
Innerhalb (z.B. beim Umgang mit Arbeitslosen) und vor allem auch außerhalb unseres Staates schafft der Neoliberalismus barbarische Verhältnisse, beutet Völker aus, zettelt Kriege an, zerstört die Lebensgrundlage ganzer Landstriche und missbraucht allerorten Menschen zugunsten unternehmerischer Gewinne. Er geht einher mit der Verabschiedung von den Werten des Humanismus und der Aufklärung - obwohl, wie wir alle wissen, stets genau das Gegenteil behauptet wird. Gleichwohl wird er offiziell als Garant von Wohlstand und Frieden gepriesen. Und viele Menschen in unserer Gesellschaft - und auch viele SozialarbeiterInnen - halten ihn für alternativlos und "gar nicht so schlimm".
Nun ist der Neoliberalismus kein Naturereignis, sondern ein Ergebnis der Kräfteverhältnisse in der westlichen Gesellschaft. Zugrunde liegen also all den Neuerungen oder Reformen - wie sie im sogenannten Modernisierungsverständnis genannt werden - politische Entscheidungen. Und die haben wiederum mit den konkreten Machtverhältnissen und mit der Machtakkumulation der Kräfte zu tun, die in dieser Gesellschaft über den Reichtum der heutigen Menschheit verfügen.
Soziale Arbeit und Neoliberalismus
In der Sozialen Arbeit spiegelt sich die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im Rahmen des Neoliberalismus deutlich wider. Richard Sorg stellte fest: "Im Teilbereich der Sozialen Arbeit sind die allgemeinen ökonomischen Prozesse der Durchkapitalisierung wie durch ein Brennglas zu studieren."2
Wer heute als Sozialarbeitende/r in der Praxis tätig ist, wird zwangsläufig mit einer veränderten Sozialen Arbeit konfrontiert, die sich auf einem "Sozialen Markt" verkaufen und rechnen muss. Das hat gravierende Folgen für die zeitlichen und finanziellen Ressourcen und bedeutet, dass Ziele und Strukturen der Sozialen Arbeit nunmehr von außen gesteuert werden.
Dabei ist zu beachten, dass die Auseinandersetzung innerhalb der Sozialen Arbeit mit dem sie dominierenden Neoliberalismus nicht einfach eine Auseinandersetzung mit dem Einzug der Technologie in die Soziale Arbeit und auch nicht einfach nur eine Auseinandersetzung mit neuen Finanzierungsmodellen oder Konzepten ist.
Es geht vielmehr um ganz grundlegende, prinzipielle Fragen der Sicht auf die Gesellschaft und ihre Menschen. Tatsächlich berühren alle Fragen, die uns derzeit in der transformierten Sozialen Arbeit bewegen, immer auch die Ursachen dieser Entwicklung, d.h. zum einen den politischen Willen, der diesen entfesselten Kapitalismus unterstützt und fördert, und zum anderen das wirtschaftliche System selbst, das solche Entwicklungen forciert. Damit aber richten wir uns als kritisch Sozialarbeitende immer auch gegen das ökonomische und politische System, das genau diese Werte und Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit produziert und braucht. Wenn die kritische Sozialarbeit z.B. gegen die zu geringen Zeitkontingente für bestimmte Maßnahmen kämpft, oder z.B. dagegen, dass sozial Benachteiligte in dieser Gesellschaft nicht selten ausgegrenzt, verachtet und alleine gelassen werden - dann geht es immer auch um gesellschaftliche Kritik z.B. am bestehenden Menschenbild des neoliberalen Systems.
Deswegen kann die Neoliberalisierung innerhalb der Sozialen Arbeit auch nicht einfach als berufspolitisches Problem und auch nicht nur allein als soziales Anliegen gesehen werden. Unsere Bemühungen, unsere Kritik und unser Widerstand gehen zwar von dem aus, was wir alltäglich erfahren und erdulden: von den Verhältnissen in der Sozialen Arbeit. Aber sie können dort nicht stehen bleiben. Es gilt, sich zusammenzuschließen mit den anderen professionellen Bereichen des Sozialen, des Gesundheitswesens und der Bildung, mit den Betroffenen, insbesondere mit den Verlierern des Systems und schließlich mit den sozialen und politischen Bewegungen, die alle der verzweifelte Versuch eint, zu verhindern, dass die Menschheit im Interesse einiger Weniger in absehbarer Zeit vor die Wand fährt.
Sozial Management
Die neoliberale Transformation der Sozialen Arbeit geht einher mit den Begriffen Ökonomisierung, aktivierender Staat und mit dem Begriff des Sozial Management.
Ökonomisierung in der Sozialen Arbeit bedeutet nicht die angemessene Berücksichtigung der Tatsache, dass z.B. Soziale Arbeit auch Geld kostet. Nach Galuske geht es beim Prozess der Ökonomisierung insgesamt um eine "Verschiebung des Kräfte- und Machtverhältnisses von Markt, Staat und privaten Haushalten zugunsten des Marktes"3.
Ökonomisierung heißt, dass alles und alle in dieser Gesellschaft unter die ökonomischen Gesetze von Effizienz und Konkurrenz gestellt werden.
Dem Sozial Management kommt dabei die Rolle zu, die ökonomischen Gesetze z.B. in den Bereichen Soziales und Gesundheit (frühere Non-Profit-Bereiche) durch- und umzusetzen. Die Betriebswirtschaft wird in diesem Prozess zur wissenschaftlichen Leitdisziplin sämtlicher gesellschaftlicher Aktivitäten.
Aus dieser Transformation folgen für die Soziale Arbeit eine neue Struktur und ein neues Menschenbild. PraktikerInnen erfahren diese Veränderungen und ihre problematischen Folgen tagtäglich in ihrer Arbeit.
Besonders gut zu beobachten ist dieser Prozess z.B. in der Kinder- und Jugendhilfe:
Die Kinder- und Jugendhilfe ist in Deutschland spätestens mit der Novellierung des §78 SGBVIII Ende der 90er Jahre zu einem Markt mutiert. Hier entschloss sich der Gesetzgeber dazu, zum einen in der Kinder- und Jugendhilfe auch gewinnorientierte Träger zuzulassen und zum anderen, die gesamte Kinder- und Jugendhilfe zukünftig wie einen Markt zu behandeln, auf dem Unternehmen Produkte anbieten. Dieser Schritt bedeutete die Legitimation der und den allgemeinen Aufruf zur Verbetriebswirtschaftlichung.
Das sogenannte "New Public Management" wurde zum Leitprinzip in den öffentlichen Bereichen Gesundheit, Bildung, Kultur und Soziales und ist heute das vorherrschende Steuerungssystem.4
Im Wesentlichen sind es folgende Strukturelemente und Folgen, die die neoliberale Veränderung der Sozialen Arbeit bestimmen:
Als Markt zeichnet sich Soziale Arbeit dadurch aus, dass Träger nunmehr Unternehmer sind und sich so verhalten müssen und dass Wettbewerb und Effizienz zu den bestimmenden Merkmalen erwünschter Sozialer Arbeit zählen. Das Gesetz ökonomischer Effizienz dominiert folglich fachliches und inhaltliches Denken. Ein Zweck der neoliberalen Umsteuerung der Sozialen Arbeit war es von Anfang, die sozialen Kosten einzudämmen. Hinzu kommt: Knappe Ressourcen gelten als notwendig, um die Selbsthilfekräfte der bedürftigen Menschen zu fördern und damit die professionelle, teure Hilfe überflüssig zu machen.
Das betriebswirtschaftliche Denken kann der Komplexität der sozialen Gegenstände jedoch nicht gerecht werden. Ökonomisierte Soziale Arbeit orientiert nur auf sichtbare Erfolge. Die Standardisierung der Leistungen und der in ihrem Kontext eingesetzten Instrumente führt zur Entwicklung einer Art "Fast-Food-Sozialarbeit".5
Die Arbeitsbedingungen und Einstellungsverhältnisse der Sozialarbeitenden sind in vielen Fällen prekär. Selbständig denkende SozialarbeiterInnen sind nicht wirklich erwünscht und können unter diesen Arbeitsbedingungen auch kein kritisches Potential entwickeln.
Dramatische Folgen für Betroffene
Nicht weniger problematisch sind die Folgen der neoliberalen Umsteuerung Sozialer Arbeit für ihre Klientel, also die betroffenen Menschen.
In dem auf den Kopf gestellten "Sozialstaat"6 kontrolliert und produziert der Markt die Soziale Arbeit.
Dieser "aktivierende Staat" hat ein grundsätzlich verändertes Verhältnis zu seinen BürgerInnen. Der Hilfe suchende Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Das bedeutet konkret, dass Menschen die Verantwortung und ggf. die Schuld für ihre Probleme allein zugeschoben werden. Der Mensch ist selbst verantwortlich für sein Schicksal und ebenso für seine Fehler und Probleme.
Es gibt keine gesellschaftlich verursachten Probleme, sondern nur individuelle. Es geht heute in der Sozialen Arbeit immer weniger um die Menschen selbst, um die Wiederherstellung ihrer Handlungsfähigkeit und ihrer Würde als darum, dass sie auf den Weg gebracht werden sollen, sich zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu entwickeln. Was dabei "nützlich" meint, liegt in der ökonomisierten Gesellschaft in der Definitionsmacht der Wirtschaft.
Menschen gelten für Politik und Verwaltung entweder als effizient oder aber als ineffizient. In die Ineffizienten zu investieren lohnt eben nicht.7 Unterstützung erhält man nur noch gegen entsprechende Gegenleistungen.
Gleichzeitig aber werden die vorhandenen Hilfebedarfe nicht ernst genommen. Für die KlientInnen bedeuten die immer weiter verknappten Ressourcen einen hohen Qualitätsverlust der Hilfen. Wenn man bedenkt, dass die Qualität der Hilfen im Sinne fachlich ausgerichteter psychosozialer Unterstützung durch die Steuerungsmaßnahmen immer kurzatmiger und oberflächlicher wird und damit das Ziel der Selbsthilfe und Nachhaltigkeit verpasst, dann wird deutlich, dass hier Sozialleistungen zurechtgestutzt werden sollen auf das Niveau einer minimalistischen Nothilfe.
Schließlich zeigt sich deutlich, dass es in der Sozialen Arbeit immer mehr um Kontrolle, um die Verhinderung postulierter Gefahren und um die Überwachung von Menschen geht. Auf offenkundige Skandale und Problemlagen in dem Bereich der Sozialen Hilfen (z.B. bei Kindstötungen) reagieren die Politik und ihre Verwaltung mit noch mehr Kontrolle, noch mehr Druck und noch mehr Sanktionen. Man scheint dort davon auszugehen, dass es noch nicht genug sei mit der Steuerung und der Neoliberalisierung. Ganz offensichtlich hat die Politik nicht aus den alten Fehlern gelernt - ganz im Gegenteil! Ihr geht es offenbar darum, "alle Faktoren einer markt- und betriebswirtschaftlich denkenden Sozialen Arbeit noch weiter zu treiben"8.
Diese Entwicklung in der Sozialen Arbeit währt schon einige Zeit, sie hat vor der Wende begonnen und ungefähr um 2005 an Fahrt zugelegt.
"Der Schaden, der durch die bereits seit gut 20 Jahren herrschende Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit [...] angerichtet wurde", so stellen Otto und Ziegler (2012) fest, "wird in der offiziellen Fachwelt und ebenso von den politischen Verantwortlichen schlicht negiert. Vielmehr herrscht die Meinung vor, dass noch mehr Steuerung erforderlich sei."9
Was kann kritische Soziale Arbeit tun?
Die Neoliberalisierung des Sozialen und der Gesellschaft ist eine politische Entscheidung derjenigen, die von dieser Entwicklung profitieren und die nun alles tun, diese Entscheidung als unumstößlich, zwingend und selbstverständlich darzustellen. So formuliert z.B. auch Thiersch: "Es wird suggeriert, es sei, wie es sei, es könne nicht anders sein, dies sei das Gesetz der Geschichte. Die globalisierte Ökonomie ließe keine Wahl, es sei ein Naturgesetz, dem man sich nicht verwehren könne."10
Die Aufgabe einer "kritischen Sozialen Arbeit" zeigt sich vor allem im Bemühen um die Formulierung und Realisierung von Perspektiven einer anderen, veränderten Sozialen Arbeit.
Der entscheidende Punkt ist, dass kritische Soziale Arbeit sich nicht arrangiert, sich nicht auf subversiven Widerstand beschränkt und nicht versucht, das Ganze auszusitzen (wie es leider z.B. schon der 11. Jugendbericht vormachte). Vielmehr müssen die grundlegenden Unvereinbarkeiten eines "Sozialen Marktes" mit den Zielen und Aufgaben der Profession Soziale Arbeit unmissverständlich klar gemacht werden. Es geht also auch darum, Konflikte eben nicht zu vermeiden.
So gesehen liegt die aktuelle Entwicklung durchaus auch in der Verantwortung der Sozialen Arbeit und damit auch in der Mitverantwortung der konkreten Sozialarbeitenden (WissenschaftlerInnen, Leitungen, Fachkräfte).
Auch wenn es z.B. gerade für Sozialarbeitende in der Praxis sehr schwierig scheint, sich zu wehren, auf anderen Bedingungen zu bestehen und mit dem Finger auf Missstände und Ungerechtigkeiten und auf Gesetzesverletzungen zu zeigen - kritisch denkende SozialarbeiterInnen können sich nicht hinter diesen Schwierigkeiten verstecken.
Die Geschichte der Sozialen Arbeit, also der ehemaligen Fürsorge, lehrt, dass Soziale Arbeit - wenn sie sich nicht wehrt - u.U. vollständig in gesellschaftliche Verbrechen hineingezogen werden kann. Auch die KollegInnen im Faschismus haben sich mehrheitlich angepasst, haben sich damit beruhigt, dass sie ja nicht wirklich entscheiden können, dass sie ja schließlich ihre Familie ernähren müssen, dass alles vielleicht ja doch gar nicht so schlimm ist, wie es aussieht usw.
Vorweg ist zu sagen: Widerstand gelingt nur dann, wenn man ihn als persönliches und existentiell wichtiges Anliegen für sich selbst akzeptiert hat und erlebt. Es geht eben nicht um ein bisschen Aufbegehren und ein bisschen Reform und Verbesserungen, sondern um existentielle Fragen dieser Gesellschaft und des Lebens in dieser Gesellschaft.
Kritischer Widerstand ist auf die Dauer nur machbar, wenn man gemeinsam agiert: Es gilt, gemeinsam zu handeln, keinen sinnlosen Einzelkampf zu führen, sich abzusichern, Partner zu suchen, teilzunehmen an einer aktiven, qualifizierten Gruppe von SozialarbeiterInnen, die gemeinsame Strategien entwickelt (vgl. www.einmischen.com).
Es gilt z.B., als Person und als Gruppe eine andere, eine aktive Haltung zu entwickeln gegenüber den Zumutungen des Neoliberalen in unserer Profession und sich nicht als angeblicher "Jammerlappen" abspeisen zu lassen. Das heißt: keine Akzeptanz für die Dominanz der Verwaltung und des betriebswirtschaftlichen Denkens zu zeigen und Sensibilität für die Frage zu entwickeln: "Geht es hier um Soziale Arbeit im Sinne der ethisch und wissenschaftlich begründeten Profession oder bestimmt hier jemand ganz anderer, was Soziale Arbeit ist." Es gilt, verwendete Begriffe auf ihre wirkliche Bedeutung hin zu prüfen, denn viele sozialpädagogische Begriffe sind quasi neoliberal besetzt und bedeuten nur zum Schein das, was sie vorgeben.
Gearbeitet werden muss sowohl an konkreten Strategien der Gegenwehr als auch an der Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins und der eigenen Kraft und Widerstandsfähigkeit. Die erforderliche Sensibilität und Widerstandsfähigkeit kann man z.B. - auch gemeinsam - im Rahmen der Reflexion der eigenen Praxis entwickeln. Das würde eine inhaltliche Erweiterung des Reflexions- und Supervisionsgedankens um die kritische Betrachtung der Praxisbedingungen bedeuten.
Tatsächlich sind die erforderlichen Veränderungen nicht ohne Kampf zu haben, nicht ohne Druck durchzusetzen und nicht ohne massive und offene Konflikte auf die Tagesordnung zu bekommen. Wer davor zurückscheut, wird sich mit kleinen Reformen zufrieden geben und dazu beitragen, dass letztlich alles so weiter geht bzw. noch fester verankert wird, weil der Widerstand ausbleibt und weil - mit den Worten von Rosa Luxemburg gesagt - "der Knoten der Herrschaft sich immer weiter zuzieht". Will man Druck erzeugen, so braucht man die Bereitschaft und den Mut, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es sich hier um tatsächliche Interessenkonflikte handelt: Der herrschenden Politik und ihrer konkreten Sozialpolitik geht es gezielt um das Sparen an den Kosten des Sozialen und darum, ein neoliberales Menschenbild durchzusetzen, das durch Entwertung und Exklusion die Ausbeutung der Menschen weiter erleichtert. Und wenn PolitikerInnen das nicht explizit wollen oder es ihnen nicht bewusst ist, so dulden sie es immerhin.
Die kritische Soziale Arbeit dagegen will die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und etwas tun gegen die massiven Kollateralschäden eines entfesselten Kapitalismus.
Dabei sind "die anderen" nicht die MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, die JugendamtsleiterIn und auch nicht die SozialdezernentIn, denn die bekommen ihre Weisungen ebenfalls "von oben". Es geht nicht um das Schaffen von Feindbildern und nicht um Schwarz-Weiß-Malerei, sondern um die klare und unverschleierte Feststellung, dass in unserer Gesellschaft massive Interessengegensätze bestehen.
Und es geht leider auch um die traurige Erkenntnis, dass die herrschende, neoliberale Ideologie sich derzeit ohne sichtbare Gegenwehr in der Praxis und in den Köpfen Sozialarbeitender festzusetzen scheint.
Anmerkungen
1) Michael Galuske 2008: "Fürsorgliche Aktivierung - Anmerkungen zu Gegenwart und Zukunft Sozialer Arbeit im aktivierenden Staat", in: B. Bütow / K.-A. Chassé / R. Hirt (Hg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat, Opladen: 9-28.
2) Richard Sorg 2012: "Kapitalismus und Soziale Arbeit", in: Ulrike Eichinger / Klaus Weber (Hg.): Soziale Arbeit. Texte kritische psychologie 3. Hamburg: 97-122; hier: 115.
3) Michael Galuske 2002: Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer Theorie Sozialer Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft, Weinheim: 144.
4) Vgl. z.B. K.-A. Chassé 2014: "Re-Politisierung der Sozialen Arbeit", in: B. Bütow / K.-A. Chassé, / W. Lindner: Das Politische im Sozialen. Historische Linien und aktuelle Herausforderungen der Sozialen Arbeit, Opladen: 83-108.
5) Vgl. Mechthild Seithe 2012: Schwarzbuch Soziale Arbeit, Wiesbaden.
6) Vgl. z.B. M. Butterwegge 2015: "Sozialstaatsentwicklung, Armut und Soziale Arbeit", in: Sozial Extra, 2/15: 38-41.
7) Vgl. z.B. H.-J. Dahme / N. Wohlfahrt 2005: "Sozialinvestitionen. Zur Selektivität der neuen Sozialpolitik und den Folgen für die Soziale Arbeit", in: H.-J. Dahme / N. Wohlfahrt (Hg.): Aktivierende Sozialarbeit. Theorie - Handlungsfelder - Praxis, Hohengehren: 6ff.
8) Hans-Uwe Otto / Holger Ziegler 2012: "Impulse in eine falsche Richtung - Ein Essay zur neuen ›Neuen Steuerung‹ der Kinder- und Jugendhilfe", in: Forum Jugendhilfe 1/2012: 15-25.
9) Ebenda.
10) Hans Thiersch 2013: Rede zum Internationalen Tag der Sozialen Arbeit in Berlin. In: http://einmischen.com, http://einmischen.info/joomla2.5/index.php/was-ist-das-unabhaengige-forum-2/aktivitaeten-ufo/inter-tag-der-sozialen-arbeit-19-3-2013/blogbeitraege-inter-tag-der-sozialen-arbeit/959-rede-von-prof-dr-hans-thiersch-auf-der-demo (Zugriff 11.12.2015).
Mechthild Seithe, Jg. 1948, Prof. Dr. phil, Dipl. Psychologin, Dipl. Sozialarbeiterin; 18 Jahre Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe, 1993 bis 2011 Hochschullehrerin (FH Jena); Veröffentlichungen u.a. "Schwarzbuch Soziale Arbeit"; Internet: http://www.zukunftswerkstatt-soziale-arbeit.de und Webseite http://www.einmischen.com (Unabhängiges Forum kritische Soziale Arbeit). Adresse: mech.seithe@gmx.de.