Ein Blick in den Spiegel vom 23. März 2024 zeigt es beispielhaft. Fast 35 Jahre nach dem Mauerfall gilt noch immer nur die bundesrepublikanische Geschichte als deutsche Norm. Da helfen auch die jüngsten Aufregungen und Diskussionen um die Bücher von Katja Hoyer oder Dirk Oschmann nichts.
Sophie Garbe und Milena Hassenkamp wurden 1994 bzw. 1989 geboren, beide sind westdeutsch sozialisiert. Das ist per se kein Vorwurf und auch kein Mangel. Sie arbeiten als Redakteurinnen des Spiegel. Dort haben die jungen Autorinnen laut Hausmitteilung ein Jahr lang zum Thema Schwangerschaftsabbrüche recherchiert. Das ist viel Zeit, und sie gebar einen sechsseitigen Artikel unter dem Titel „Der Angst-Paragraf“ in bester Spiegel-Manier.
Der aktuelle politische Streit um den Paragrafen 218, der „Kulturkampf um das ungeborene Leben“, Blicke in die Geschichte werden thematisiert. Besuche bei Ärzten und betroffenen Frauen, ihre Erfahrungen werden ausgebreitet. So heißt es: „Seit 1871 stellt der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland grundsätzlich unter Strafe.“ Die aktuelle Situation in den USA, Frankreich und Polen wird beschrieben. Die Diskussionen in der Alt-Bundesrepublik werden ebenso beleuchtet wie die im vereinten Deutschland ab 1990.
Nur eins kommt fast gar nicht vor – der Paragraf 218 und die DDR. Fast gar nicht deshalb, weil tatsächlich ein Satz in dem zeitlich und räumlich umfassenden Text existiert, der so lautet: „Durch die Wiedervereinigung musste das Abtreibungsstrafrecht ein zweites Mal überarbeitet werden, um die liberalere Rechtslage der DDR und die der Bundesrepublik zu vereinheitlichen.“ (Hervorhebungen H.S.)
In der DDR galt über lange Zeit ein gänzlich anderes Recht beim Schwangerschaftsabbruch, es war nicht nur lediglich liberaler. „Vereinheitlichung“ – der euphemistische Begriff meint Abschaffung eines DDR-Gesetzes. Die beiden Autorinnen hätten mit Leichtigkeit feststellen können, dass am 9. März 1972, einen Tag nach dem als Feiertag begangenen Internationalen Frauentag, die Volkskammer der DDR den Paragrafen 218 strich und das neue „Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung“ mit 487 Stimmen annahm. Vierzehn Fraktionsmitglieder der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands stimmten dagegen, acht Abgeordnete enthielten sich. „Damit wurde in der Geschichte der DDR zum ersten und letzten Mal in der Volkskammer ein Gesetz mit Gegenstimmen verabschiedet.“, ist sogar auf einer Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung zu lesen. Das neue Gesetz hatte nicht nur in der Volkskammer, sondern auch in den Kirchen ablehnende Stimmen hervorgerufen und war unter Medizinern in der DDR zumindest umstritten.
Westdeutsche beschreiben und erklären wieder einmal ihre Welt, Ostdeutsche kommen dabei nicht vor. Einige Tage zuvor am 13. März beschrieb Sabine Rennefanz in ihrer Kolumne „Neue Heimatkunde“ einen ähnlichen Sachverhalt – die Abschaffung des Paragrafen 175 vor dreißig Jahren. Der Deutschlandfunk unterschlug einfach die bereits 26 Jahre vorher erfolgte Streichung des Paragrafen in den Gesetzbüchern des „Unrechtsstaates DDR“. An anderer Stelle in ihrer Kolumne betonte Rennefanz, es stimme nicht, dass „in Deutschland“ „immer noch“ der Paragraf 218 gelte. Schließlich formuliert sie: „An dem Abtreibungsrecht sind fast die Einheitsverhandlungen gescheitert. Es gab einen Kampf um eine liberale Regelung, die 1995 vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde. Damals wurde auch 218 wieder in den östlichen Ländern eingeführt.“
Pikanter Weise erscheint die Kolumne der ostdeutschen Autorin Rennefanz ausgerechnet im Spiegel, allerdings lediglich online und hinter einer Bezahlschranke. Sie musste für ihre Feststellung auch nicht ein Jahr lang recherchieren. Die jungen westdeutschen Redakteurinnen hätten dennoch einen redaktionsinternen Blick auf den Text ihrer ostdeutschen Kollegin werfen können. Das muss man allerdings auch wollen. Der Begriff Westplaining wurde hier von Sabine Rennefanz, die jahrelang in England lebte, übernommen. Übertragen bedeutet er so etwas wie „Westabflachung“.