Um das Jahr 1980 herum hatte sich in der Wirtschaftspolitik der hochentwickelten kapitalistischen Länder der Neoliberalismus durchgesetzt. Ronald Reagan (Reaganomics), Margret Thatcher (Thatcherismus) und Helmut Kohl (Wendepolitik) betrieben unter dem Slogan „Weniger Staat, mehr Markt“ eine Politik, die auf Deregulierung, Steuersenkung, Sozialabbau, Privatisierung öffentlichen Eigentums, Zurückdrängung der Gewerkschaften und Entfesselung des Unternehmertums gerichtet war. Zu ihren geistigen Ratgebern gehörten mit Friedrich von Hayek und Milton Friedman die wichtigsten Galionsfiguren neoliberalen ökonomischen Denkens jener Jahre. Gemessen an der Entwicklung der Staatsquote und der Produktion von Gesetzen wurde der Staat zwar nicht wirklich abgebaut, aber im Hinblick auf das eigentliche Ziel, die Stabilisierung der Profitrate, war diese Politik durchaus erfolgreich. Die Finanz- und Konzerneliten festigten und verbesserten ihre Position und ihre Einkommen und Vermögen wuchsen um ein Vielfaches rascher als beim Durchschnitt.
Milton Friedmans Sohn David, Professor für Rechtswissenschaften, plädierte schon zu Zeiten des größten Einflusses seines Vaters für eine weit stärkere Marktradikalität. In „The Machinery of Freedom. Guide to a Radical Capitalism“ von 1971 forderte er einen vollständigen Rückzug des Staates aus allen ökonomischen Aktivitäten. Öffentliche Aufgaben, einschließlich des Rechtswesens und der Geldschöpfung sollten weitgehend durch private Unternehmen wahrgenommen werden und seien den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. Während zum Beispiel im deutschen ORDO-Liberalismus der Freiberger Schule der Staat den Ordnungsrahmen des wirtschaftlichen Handelns, den Wettbewerb und die Geldwertstabilität aufrechtzuerhalten hat und gewisse reproduktive und soziale Funktionen ausübt, sollen im „radikalen Kapitalismus“ all diese Aufgaben privaten Akteuren und der Spontanität des Marktes überlassen bleiben. Das zentrale Schlagwort dieser staatsfeindlichen Denkschule, auch als Anarcho-Kapitalismus bezeichnet, lautet „Privateigentum und Freiheit!“
Wenn die radikal-libertäre Schriftstellerin Ayn Rand, Freundin des späteren Fed-Präsidenten Alan Greenspan, als Mutter dieser Denkschule gelten kann, dann der US-amerikanische Ökonom Murray N. Rothbart als deren Vater. Er bezeichnete sich zwar als der österreichischen Schule der Nationalökonomie, geprägt von Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, zugehörig, argumentierte aber weit radikaler in Bezug auf Markt und Staat. Als bedeutendster deutschsprachiger Vertreter dieser Richtung des Marktfundamentalismus gilt Hans-Hermann Hoppe, der lange Zeit in den USA lebte und lehrte. Weil ihm die von Hayek dominierte neoliberale Mont Pèlerin Society nicht marktradikal und staats- und demokratiefeindlich genug war (er meinte – vielleicht sogar zu Recht – selbst jeder rechte Sozialdemokrat könne sich darin zu Hause fühlen), gründete er 2006 die Property And Freedom Society. Sein Schlüsselwerk „Eigentum, Anarchie und Staat. Studien über die Theorie des Kapitalismus“ erschien 1987. Es kann, wie viele andere anarcho-kapitalistisch ausgerichtete Arbeiten, von den Seiten der Ludwig-von-Mises-Institute heruntergeladen werden. Seine Kernaussage lautet: „Moralisch und ökonomisch zu rechtfertigen […] ist allein das System eines individualistischen (Privateigentum-)Anarchismus, d.i. eines 100 % Kapitalismus bzw. einer reinen Privatrechtsgesellschaft.“ Ein Interview für die rechtsextreme Zeitschrift Junge Freiheit war mit seinem Slogan „Freiheit statt Demokratie“ überschrieben. Die Interviewer waren sich nicht sicher, ob er in Deutschland womöglich als Verfassungsfeind verhaftet würde.
Der aktuelle Star des Anarcho-Kapitalismus ist der neugewählte argentinische Präsident Javier Milei. Der Hundeliebhaber gab seinen Tieren die Namen Milton, Murray und Robert und bezeichnete sie als seine wichtigsten Ratgeber. Er meinte natürlich nicht die Hunde, sondern Milton Friedman, Murray Rothbart und Robert Lucas. Der Nobelpreisträger Lucas ist Schöpfer der Theorie der rationalen Erwartungen, nach der staatliches Handeln niemals so rational sein könne wie der Markt. Im Gesamtergebnis der Entscheidungen der Millionen von Marktteilnehmern mit ihren jeweils individuellen Erfahrungen und Sichten seien alle relevanten Informationen und Erwartungen bereits eingepreist, weshalb jeder staatliche Eingriff entweder weniger rational oder nur destruktiv sein könne. Käme es zu Krisen, hätte dafür der Staat die Verantwortung.
Die Wahl Mileis zum Präsidenten ist Ausdruck der Verzweiflung einer Majorität des argentinischen Volkes, allen voran erheblicher Teile der Arbeiterklasse. Obwohl das Land zur Gruppe der Schwellenländer gehört und gerade erst in die Runde der BRICS-Staaten aufgenommen werden sollte, befindet es sich in einer desolaten Lage. Gleichgültig, welche Regierung in den vergangenen Jahrzehnten an der Macht war, kam es immer wieder zu tiefen Wirtschaftskrisen. Die realen Pro-Kopf-Einkommen großer Teile der Bevölkerung sinken oder stagnieren seit langem, Inflationsraten und Arbeitslosenquoten explodierten, der Staat leidet seit eh und je an einer zu hohen Verschuldung; Sozialdienste, Bildungswesen und Infrastruktur liegen am Boden. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Missmanagement, Korruption und Selbstbedienungsmentalität ließen die immer wieder aufgenommenen Auslandskredite versickern.
Ablehnung und Hass gegenüber den etablierten Parteien und Politikern trieb über die Hälfte des argentinischen Wahlvolkes in die Arme des rechtsextremen Milei. Kurz vor Weihnachten legte er den Entwurf seines Reformprogramms vor, das den Beifall der Unternehmerverbände, des Internationalen Währungsfonds und der Börse von Buenos Aires fand, aber auch die Gewerkschaften und viele Bürger zu Protesten auf die Straße trieb. Sein Programm umfasst die Aufhebung von Mietgesetzen, die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten, die Abschaffung von Industriesubventionen, die Erleichterung von Privatisierungen, Umwandlung der staatlichen Unternehmen in Aktiengesellschaften, um sie anschließend zu privatisieren, die Liberalisierung diverser Märkte oder die Öffnung des Internetmarktes für Firmen wie Starlink von Elon Musk, der Milei im Wahlkampf unterstützt hatte.
Um die Gegenwehr von der Straße und den Gewerkschaften auszuschalten, will er den Notstand ausrufen lassen. Solange sein Gesetzespaket im Parlament, in dem er über keine Mehrheit verfügt, verhandelt wird, dürfte er sich wohl noch zurückhalten. Aber sobald der Notstand ausgerufen ist, könnten viele Dämme brechen. Erinnern wir uns: Als 1973 Pinochet im Nachbarland Chile seine Militärdiktatur errichtet hatte, übernahmen die Chicago-Boys, eine Riege ultraliberal und monetaristisch orientierter Ökonomen, die ihr Handwerk an Milton Friedmans und Friedrich von Hayeks Hochburg, der Universität von Chicago, erlernt hatten, das wirtschaftspolitische Heft in die Hand. Marktradikalität und Diktatur gingen eine verhängnisvolle Alliance ein, um den Widerstand der Bevölkerung gegen die Beseitigung von politischen, sozialen und Arbeitnehmerrechten zu brechen. Die chilenische Wirtschaft wuchs dank massiver Kapitalzuflüsse zunächst so stark, dass Milton Friedman 1982 von einem „ökonomischen Wunder“ sprach. Aber just im selben Jahr rutschte das Land in eine Krise, die tiefer und länger war als in anderen vergleichbaren Ländern; das neoliberal-monetaristische Experiment erwies sich letztlich als Flop. Zu ihrer Rettung wurden damals mehr Banken verstaatlicht, als das unter der Präsidentschaft des Sozialisten Allende jemals der Fall gewesen war. Die Chicago-Boys mussten selbst noch unter Pinochet allmählich gemäßigteren Vertretern des Neoliberalismus Platz machen.
Ob Milei diese Lehre zur Kenntnis genommen hat oder tatsächlich sein Kettensägen-Massaker an staatlichen Institutionen verüben kann, bleibt angesichts des sich formierenden politischen Widerstands abzuwarten. Die Zentralbank hat er jedenfalls erstmal nicht wie angekündigt in die Luft gesprengt. Soviel Anarcho-Kapitalismus geht den herrschenden Eliten Argentiniens dann wohl doch zu weit.