Der Vorname Gyde kommt aus dem Dänischen oder Friesischen und wird von Namensforschern mit „Gottesfriede“ übersetzt. Die FDP-Politikerin Gyde Jensen hat sich gerade entgegengesetzt getummelt. Obwohl doch immer wieder gern behauptet wird, dass von der jungen Generation auch junge Impulse in Richtung einer friedlichen Welt ausgingen. Das scheint sich als Illusion zu erweisen.
Die junge Dame ist Jahrgang 1989 und stammt aus Rendsburg in Schleswig-Holstein. An der Universität Kiel studierte sie Politikwissenschaft mit internationaler Ausrichtung, war dann für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung international unterwegs und wurde 2016 auf den vierten Listenplatz der Landes-FDP Schleswig-Holstein für die Bundestagswahl 2017 gesetzt. Da die Liberalen im Land drei Mandate errangen und der Listenzweite seines nicht annahm, weil er inzwischen Wirtschaftsminister in der Landesregierung war, rückte Jensen in den Bundestag ein. Derzeit jüngste weibliche Abgeordnete, übernahm sie im Januar 2018 den Vorsitz des Menschenrechtsausschusses.
Auf der Tagesordnung der Bundestagssitzung am 29. Mai 2020 gab es einen Zusatzpunkt 13, das war ein Antrag von Gyde Jensen, Alexander Graf Lambsdorff und der FDP-Fraktion unter dem Titel „Sicherheitsgesetz für Hongkong verurteilen – Das Prinzip ,Ein Land, zwei Systeme' bewahren“. Die Begründungsrede der Antragsteller hielt Jensen. Gleich zu Beginn bezog sie sich auf den einschlägig bekannten Anführer der Randalierer in Hongkong namens Wong (Das Blättchen 19/2019), der jüngst verkündet hatte, das Sicherheitsgesetz sei der „letzte Sargnagel für die Autonomie Hongkongs“. Daraus leitete Jensen ab: „Hongkong ist am Scheideweg, und mit Hongkong steht dieser geopolitische System- und Wertewettbewerb Spitz auf Knopf.“ Der Witz ist nur, dass im Unterschied zu den USA und anderen Staaten des Westens das jetzige China zu keiner Zeit gefordert hat, sein politisches System auf andere Länder zu übertragen, sondern nur erklärte, über seine innere Ordnung selbst zu bestimmen und westliche Modelle nicht zu übernehmen. Die Grundannahme der Antragstellerin beruht auf einer Behauptung, für die es keinen stichhaltigen Beleg gibt. Die unausgesprochene Forderung ist der „Regime-Change“ in China, für den Hongkong den Hebel bieten soll. Die Sicherheit in Hongkong ist jedoch eine innere Angelegenheit Chinas, zu dem seit 1. Juli 1997, nach der Übergabe durch die Kolonialmacht Großbritannien, auch die vorherige Kronkolonie gehört. Auf welchen Paragrafen Hongkongs Autonomie beruht, ist der Souveränität der Volksrepublik nachgeordnet. Die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung als Voraussetzung jedes modernen Staatswesens ist Sache der jeweiligen Behörden. Und jeder, der die Bilder von der Randale in Hongkong gesehen hat, weiß, dass keiner dieser behelmten, maskierten und mit Molotow-Cocktails um sich werfenden sogenannten Freiheitskämpfer des Joshua Wong von der deutschen Polizei auf einer Demonstration in Deutschland auch nur fünf Minuten lang hingenommen würde.
Da die Autonomie nach dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ Eingang in den chinesisch-britischen Übergabevertrag von 1994 genommen hat, kann Großbritannien die Frage nach der Umsetzung auch rechtsförmig stellen. Deutschland ist bekanntermaßen nicht Vormund Großbritanniens, nach dem Brexit erst recht nicht. Von Berlin aus handelt es sich folglich um Anmaßung oder reine Propaganda oder beides. Gyde Jansen verkündete allerdings den „Vertragsbruch“ durch die chinesische Regierung – durch ein Gesetz, das noch gar nicht erlassen ist und über dessen konkrete Bestimmungen noch niemand etwas weiß. Bisher hat der Volkskongress, das große Parlament Chinas, lediglich den Ständigen Ausschuss des Parlaments beauftragt, ein solches Gesetz zu erlassen.
Jensen verstieg sich dann zu der Feststellung, Deutschland und die EU müssten dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping „ganz klarmachen, dass er auf der Weltbühne keine Narrenfreiheit besitzt“. Ist es „Narrenfreiheit“, wenn China in China bestimmt? Was meint das realpolitisch? Am Anfang des 20. Jahrhunderts intervenierten sechs europäische Kolonialmächte sowie die USA und Japan militärisch in China, gegen den sogenannten Boxeraufstand. Kaiser Wilhelm II. verabschiedete das deutsche Expeditionskorps am 27. Juli 1900 mit seiner berüchtigten „Hunnenrede“, worin er forderte: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“ Das wird oft zitiert und gehört zu einer anderen Zeit. Interessanter ist die Begründung. Die deutschen Truppen sollten „fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten und grausamen Feind“. Das könnte aus dem Schatzkästlein der heutigen China-Hasser kommen.
Allerdings, die Verhältnisse, die sind nicht so. Das heutige Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern und einer rein konventionellen Armee, die nur in Teilen einsatzfähig ist, wird der atomar bewaffneten Supermacht China mit 1,4 Milliarden Menschen kaum Angst einflößen. Deshalb fordert Gyde Jensen, Deutschland und die EU müssten sich „endlich für direkte, personenbezogene Sanktionen gegenüber KP-Funktionären einsetzen“. Wie einst gegen Libyens Gaddafi? Das wirkte auch erst, nachdem USA- und NATO-Truppen Libyen in Schutt und Asche gelegt und den Staat zerstört hatten. Diese deutsche Drohung ist grotesk, da fällt einem nur noch eine Fabel von Krylow ein: „Seht nur, was das Möpschen kann, es bellt den Elefanten an!“ So fiel Jensen nur noch ein, die Kanzlerin solle den EU-China-Gipfel, der im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft für das zweite Halbjahr geplant ist, abblasen und Deutschland die Initiativen der USA gegen China unterstützen.
Der Rest der Debatte im Bundestag war nicht viel besser. Norbert Röttgen (CDU) teilte Jensens Lagebeschreibung: „China ist und wird die größte außenpolitische Herausforderung für Deutschland, Europa und den Westen in den nächsten Jahren.“ Er meint, es sei allzu schade, dass der Westen nicht mehr den Gang der Dinge in der Welt bestimmt, und machte gleich eine längere Liste auf: nach Hongkong kommen Taiwan, das Südchinesische Meer, die Seidenstraßen-Initiative – die wieder nur als imperiale Politik, nicht als globale Infrastrukturmaßnahme interpretiert wird – und Afrika, Handelsbeziehungen, Menschenrechtsfragen. Allerdings meinte er, einen Handelskrieg oder neuen Kalten Krieg gegen China nicht führen zu wollen, und lehnte eine Absage des EU-China-Gipfels ab. Diese Position teilte auch Niels Annen (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt. Er unterstrich, dass es in Hongkong nicht nur um Grundrechte und Freiheiten der Hongkonger Bürger gehe, sondern auch um die „legitimen Interessen ausländischer Investoren“. Hört, hört!
Stefan Liebich, der sich eigentlich vom Amt des außenpolitischen Sprechers seiner Fraktion verabschiedet hatte, sprach für die Linkspartei. Jedenfalls tauchte Gregor Gysi, der diese Funktion Anfang Mai übernommen hatte, in dieser Debatte nicht auf. Zu Recht kritisierte Liebich als einziger Redner die „kolonialen Verbrechen des Westens, auch Deutschlands“ und distanzierte sich sehr behutsam von den „Aktionsformen“ der Demonstranten in Hongkong. In der Sache jedoch bemühte er sich, im Rudel der offiziellen deutschen Außenpolitiker nicht aufzufallen, und wiederholte alle gängigen Forderungen gegen China. Bis auf einen sehr vorsichtigen Hinweis darauf, dass die deutsche Regierung in Sachen Türkei oder Saudi-Arabien nicht so forsch auftritt. Das macht die Sache in Bezug auf das Verhältnis zu China aber auch nicht besser. Katrin Göring-Eckardt (Grüne) verglich Hongkong heute mit Berlin 1989. Das ist sachlich völliger Humbug, weil der Fall der Berliner Mauer das Scheitern des Realsozialismus in Europa markierte, während die Angst des Westens vor China aus dem Aufstieg des Landes zu neuerlicher Größe resultiert. Gleichwohl forderte Göring-Eckardt „eine grundsätzliche Neuorientierung unseres Umgangs mit China“. Aber wohin denn? China war 2019 das vierte Jahr in Folge wichtigster Außenhandelspartner Deutschlands mit einem Umsatz von etwa 206 Milliarden Euro.
Für die USA ist Hongkong nur ein Teil ihrer Positionierungen gegen China, neben Handelskrieg, Militäraktionen zur See in der Nähe der chinesischen Küste, Stützpunktpolitik in Südkorea und Japan, Taiwan-Politik… Nachdem Washington erneut Druckmaßnahmen verkündet hatte und in den USA gewalttätige Proteste nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd ihren Lauf nahmen, höhnte der Chefredakteur der chinesischen Global Times, Hu Xijin: „Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, hat die gewaltsamen Proteste in Hongkong einst als ,schönen Anblick' bezeichnet – nun können die US-Politiker diesen Anblick von ihren eigenen Fenstern aus genießen.“ Das ist ein grober Klotz auf einen groben Keil. Die Deutschen in Liliput sind bisher unterhalb des Gesichtsfeldes des chinesischen Gulliver geblieben. Der Größenwahn geschichtsvergessener Jungpolitiker will das ändern – unter dem Beifall der üblichen Verdächtigen jeden Alters.