Ist Deutschland Kriegspartei?

„[…] eine Eskalation des Krieges zu einem Krieg
zwischen Russland und der NATO verhindern […]“

Olaf Scholz, Bundeskanzler,
Erklärung im Bundestag, 25.01.2023

„Es kommt ja ganz entscheidend darauf an,
dass eben Deutschland und dass auch die NATO
nicht Kriegspartei sind.“

Saskia Esken, SPD-Ko-Vorsitzende,
in der ARD am 29.01.2023 auf die Frage,
ob sie die Lieferung von Kampfjets
und U-Booten an Kiew ausschließe

Kaum hatte unsere Außenamtselevin mal wieder diplomatisches Porzellan zerschlagen, indem sie vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg, wenn auch eher beiläufig, aber doch immerhin erklärte: „we are fighting a war against Russia“, da schwoll ein vielstimmiger Chor einschlägiger deutscher Dementierer – Politiker, Experten, Medien – an, wohl nicht zuletzt um die Öffentlichkeit zu beschwichtigen: Das sei nicht wörtlich gemeint gewesen und schon gar keine quasi offizielle Kriegserklärung an Moskau:

  • „Ich würde nicht sagen, dass Deutschland im Krieg mit Russland ist“, Jürgen Hardt, Außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag.
  • „Das war eindeutig eine Erklärung nach innen, im Kreis der befreundeten Mitglieder des Europarates“, Matthias Herdegen, Völkerrechtler, Universität Bonn.
  • „Quatsch“, Berliner Zeitung, 01.2023.

Natürlich konnte dadurch nicht verhindert werden, dass Moskau die Steilvorlage aufgreift und Baerbocks Aussage auf die Goldwaage legte („Moskau fordert Klärung“, dpa, 27.01.2023).

Trotzdem darf der Aufreger wohl eher der allenthalben spürbaren professionellen Unreife der Außenministerin zugeschrieben werden als einem bewussten Vorsatz, von jetzt auf gleich mal eben den Dritten Weltkrieg auszurufen. Ganz abgesehen davon, dass die Abgabe von förmlichen Kriegserklärungen als Akt staatlicher Politik nach den Regularien des Kriegsvölkerrechts seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gänzlich aus der Mode gekommen ist und dass sie auch in den Zeiten davor üblicherweise nicht in freier Rede, an unpassendem Ort und in Abwesenheit des Adressaten erfolgte.

Auf einem ganz anderen Blatt hingegen stehen die permanenten politischen und medialen Bemühungen hierzulande, bei jeder Ausweitung der Waffenlieferungen des Westens an Kiew diesen Schritten einen Anstrich gleichbleibender Harmlosigkeit zu verpassen – die NATO, Deutschland eingeschlossen, werde damit nicht zur Kriegspartei im Ukraine-Konflikt. So gerade erst wieder bei der Entscheidung, in Kürze nun auch schwere Kampfpanzer (Abrams, USA; Challenger, Großbritannien; Leopard, Deutschland und andere) ins Kriegsgebiet zu versenden:

  • „Völkerrechtlich ist klar: Wer ein Land darin unterstützt, sich zu verteidigen, wird dadurch nicht zur Kriegspartei“, Bundesjustizministerium.
  • „Kriegspartei wird ein Staat […] erst, wenn er mit eigenen Soldaten in die Kampfhandlungen eingreift“, DIE WELT, 27.01.2023.
  • „Nein, auf keinen Fall“ werde Deutschland mit Leopard-Lieferungen an Kiew Kriegspartei, Bundeskanzler Olaf Scholz im ZDF, 25.01.2023.

Ob solche Äußerungen aus Halbwissen resultieren oder einem (womöglich unbewussten) Trieb zur Selbstbeschwichtigung entspringen mag dahingestellt bleiben. Die Frage an sich – ob Deutschland und andere NATO-Staaten im Ukraine-Konflikt bereits Kriegspartei sind oder ab wann sie es gegebenenfalls sein könnten – hat zwei grundsätzliche Aspekte, einen völkerrechtlichen und einen sicherheitspolitischen.

Was die völkerrechtliche Seite anbetrifft, so hat sich damit nach Ausbruch des Ukraine-Krieges der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mehrfach befasst. In einem Sachstands-Papier vom 5. Mai 2022 mit dem Titel „Lieferung von ‚schweren Waffen‘ an die Ukraine“ heißt es, dass die Frage, ob Waffenlieferungen an Kriegsparteien mit dem traditionellen Neutralitätsgebot gemäß Haager Konvention (V) vom 18. Oktober 1907 prinzipiell zu vereinbaren seien, völkerrechtlich als weitgehend geklärt angesehen werden dürfe: „Die militärische Unterstützung einer Konfliktpartei in Form von Waffenlieferungen – und zwar unabhängig von deren Art und Umfang – überschreitet nicht [Hervorhebung im Papier – W.S.] die Grenze zur Konfliktteilnahme.“

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Exkurs: Zugleich machte das Papier darauf aufmerksam, dass entsprechende Militärtransporte, die etwa „die gelieferten Panzer auf Sattelschleppern oder per Bahn von der ukrainischen Westgrenze nach Kiew oder in den Donbas an die ‚Front‘ bringen“, ein „legitimes militärisches Ziel“ gemäß Art. 48 Zusatzprotokoll I/Genfer Konvention darstellten. Und zwar nicht unbedingt erst ab Landesgrenze Ukraine, wie ein anderes Sachstands-Papier („Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“, 16.03.2022) im Hinblick auf die seinerzeit diskutierte Lieferung polnischer MiG-29-Kampfjets an Kiew bereits einige Wochen zuvor unterstrichen hatte: „Die polnische Air Base […] wäre nach dem ius in bello ein legitimes militärisches Ziel und dürfte gemäß humanitärem Völkerrecht […] von Russland angegriffen werden.“

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Herausgearbeitet hat der Wissenschaftliche Dienst im letztgenannten Sachstands-Papier darüber hinaus, wann die militärische Unterstützung einer Kriegspartei die Grenzen des Neutralitätsgebots gemäß Haager Konvention möglicherweise überschreitet: „Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei [Hervorhebung im Papier] bzw. Ausbildung an solchen Waffen [Hervorhebung im Papier] in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“

Bloß – „in Rede“ steht diese Grenzüberschreitung längst nicht mehr. Bereits am 26. April 2022 hatte die damalige deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärt: „Wir arbeiten gemeinsam mit unseren amerikanischen Freunden bei der Ausbildung von ukrainischen Truppen an Artilleriesystemen auf deutschen Boden.“ Da war die Ausbildung ukrainischen Militärs auf amerikanischen Basen in Deutschland offenbar schon einige Zeit angelaufen, wie ein Sprecher des US- Verteidigungsministers – Medienberichten zufolge – am 29. April 2022 bestätigt hatte. Und aktuell? Dieser Tage wurde die hiesige Öffentlichkeit informiert: „Ukrainische Soldaten zur Marder-Ausbildung eingetroffen“ (NDR, 27.01.2023).

Insgesamt werden bis Juni 2023 im Rahmen der sogenannten EU Military Assistance Mission zunächst 15.000 ukrainische Militärangehörige auf EU-Gebiet ausgebildet und weitere 15.000 sollen folgen.

Doch damit nicht genug. Dass US-Militärpersonal, das bereits vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine agierte, seither eine maßgebliche Rolle bei der Kriegführung Kiews spielt, insbesondere in Sachen Einsatz gelieferter US-Waffen und hinsichtlich der Zielzuweisungen für diese Systeme, ist kaum noch ein Geheimnis. Experten meinen überdies, dass etwa im Falle der Versenkung des Flaggschiffes der russischen Schwarzmeerflotte, des Lenkwaffenkreuzers Moskva, durch einen ukrainischen Raketenangriff im April 2022 und bei der Zerstörung einer Unterkunft der russischen Streitkräfte im Donbas durch einen Luftangriff Anfang Januar 2023, die zu den bisher schwersten russischen Verlusten an einem einzigen Kriegstag führte, die dafür maßgebliche Aufklärung der militärischen Zielkoordinaten durch westliches Militär geleistet wurde.

Eine dieser Tage publizierte Studie der US-amerikanischen RAND-Corporation mit dem Titel „Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“ („Einen langen Krieg vermeiden. Die US-Politik und der Verlauf des Russland-Ukraine-Konflikts“) enthält folgende summarische Bewertung: „Das Ausmaß der indirekten Beteiligung der NATO-Verbündeten an diesem Krieg ist atemberaubend. Die Unterstützung umfasst Waffen und andere Hilfsgüter im Wert von Dutzenden von Milliarden Dollar für die Ukraine, taktische Nachrichtendienst-, Überwachungs- und Aufklärungsunterstützung für das ukrainische Militär […].“

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Exkurs: In den sozialen Medien zirkulieren Zahlenangaben über die bisherigen Kriegsverluste in der Ukraine, die vom israelischen Geheimdienst stammen sollen – darunter: 234 tote NATO-Soldaten (Offiziere, Ausbilder, Einsatzkräfte, USA, Großbritannien), 2458 tote NATO-Soldaten (Polen, Deutschland, Litauen …). Diese Angaben können allerdings nicht unabhängig überprüft werden.

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Die in der Überschrift dieses Beitrages gestellte Frage, ob Deutschland im Ukraine-Konflikt Kriegspartei ist oder nicht, kann also leider nicht so klar beantwortet werden, die der Bundeskanzler und andere dies immer wieder weismachen wollen. Eher im Gegenteil.

Dieser Befund leitet unmittelbar zu der Frage über, wie sich die Angelegenheit sicherheitspolitisch darstellt. Das ist im Kern die Frage, wie Russland sich dazu verhält.

Dass Moskau westliche Waffenlieferungen an Kiew als legitime Angriffsziele für seine Streitkräfte betrachtet, hat der russische Außenminister Lawrow bereits im April 2022 öffentlich erklärt, und diese Position ist seither mehrfach bekräftigt worden. Deutschland als Kriegspartei im Ukraine-Konflikt an den Pranger gestellt hat Lawrows Sprecherin, Maria Sacharowa, bereits im Dezember 2022. (Wohl eher nicht selbstermächtigt.) Und zur jüngsten westlichen Entscheidung bezüglich der Lieferung von Kampfpanzern an Kiew erklärte Kreml-Sprecher Peskow: Diese werde „in Moskau als direkte Beteiligung am Konflikt aufgefasst. Wir können sehen, dass sie wächst.“

Mit einem solchen Gesamthintergrund, da sollte man sich nichts vormachen, liegt die Entscheidung, ob Deutschland (und andere NATO-Staaten) von Russland demnächst nicht nur als Kriegspartei betrachtet, sondern auch als solche behandelt werden, allein in Moskau. Auch wenn Peskow gerade abgewiegelt hat: „Im Moment haben wir ein solches Thema nicht auf unserer Tagesordnung.“

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Bisher haben westliche Länder allerdings nur Waffen und weiteres Kriegsmaterial an die Ukraine in einem Umfang geliefert, der bestenfalls dazu beiträgt, dass Kiew den Krieg nicht verliert. Wirkliche Chancen auf einen militärischen Sieg wurden damit nicht eröffnet. Das wird sich nach Auffassung von Experten mit den nunmehr zugesagten modernen NATO-Panzern (bisher: 30 USA, 14 Großbritannien, 14 Deutschland, 14 Polen) nicht grundlegend ändern. Auch zwei, drei Dutzend westliche Kampfjets, deren Lieferung Washington und Paris – Medienberichten zufolge – nicht mehr grundsätzlich ausschließen, würden das militärische Kräfteverhältnis zwischen der Ukraine und Russland nicht wesentlich verändern. Insofern dürfte sich Moskau womöglich noch längere Zeit oder gar grundsätzlich mit direkten militärischen Gegenschlägen Richtung Westen zurückhalten. Denn auch im Kreml weiß man natürlich, dass dies den Bündnisfall für die NATO auslösen und zu einem Atomkrieg führen könnte, der für keine Seite zu gewinnen wäre.

Gleichwohl sollte nie vergessen werden, wie russische Reaktionen, wenn die Führung des Landes rote Linien erst einmal als endgültig überschritten betrachtet, ausfallen können. Beispiele dafür sind zur Genüge geliefert worden – im von Tblissi 2008 in Georgien vom Zaun gebrochenen Krieg ebenso wie mit der Annexion der Krim nach dem vom Westen unterstützten Staatsstreich in Kiew 2014. Und insbesondere mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Sage also hinterher niemand, das habe man doch nicht wissen können …

 

P.S.: Am 25. Januar 2023, als Kanzler Scholz seine Erklärung zur Leopard-Entscheidung im Bundestag abgab und abends via ZDF das deutsche Volk beruhigte, lieferte das russische Staatsmedium RT DE – durch Sperrung seitens der EU auch hierzulande Gott sei Dank regulär nicht mehr zu empfangen – dazu folgende Begleitmusik: „Um den allzu Begriffsstutzigen einmal auszumalen, was das bedeuten könnte: Wenn man in Deutschland eines Morgens aufwacht und der Strom ist weg, wenn es dann auch kein Fernsehen gibt und das batteriebetriebene Radio gerade noch berichten kann, dass das Regierungsviertel in Berlin eine Trümmerlandschaft ist, dann dürfte der Grund dafür darin bestehen, dass Russland Deutschland nun als Kriegspartei anerkannt hat. Auch die Anwohner diverser Kommandoeinrichtungen der Bundeswehr dürften durch einen lauten Knall bestenfalls noch einmal geweckt worden sein.“

Das ist selbstredend nur russische Gräuelpropaganda, um den deutschen Wehrwillen zu unterminieren. Anton Hofreiter von den Grünen, Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, und so manche andere werden sich davon nicht beirren lassen. Zumindest bis zu einem nächsten 24. Februar …