Einstein sagte, dass sich
mit dem Aufkommen der Atombombe
alles geändert hat,
außer unserer Denkweise.
William J. Perry
Zwei Tage vor Amtseinführung des 46. US-Präsidenten publizierte das renommierte Bulletin of the Atomic Scientists einen Offenen Brief an Jo Biden – verfasst von Jerry Brown, Demokrat und viermaliger Ex-Gouverneur von Kalifornien, David Holloway, Stanford-Professor und Experte für die internationale Geschichte der Atomwaffen, und William J. Perry, 1994 bis 1997 Verteidigungsminister in der Clinton-Administration. Darin verliehen die Absender ihrer Überzeugung Ausdruck, dass „die mühsamste Aufgabe“ des neuen Präsidenten darin bestehen werde, „unsere Beziehungen zu Russland auf einen sichereren Weg zu bringen und das gefährliche Muster der wiederholten Eskalation der Spannungen zwischen den beiden Ländern zu durchbrechen“. Die „frühere Praxis eines ernsthaften Dialogs zwischen zivilen, militärischen und wissenschaftlichen Experten“ beider Seiten sei seit langem verpönt, „Beschimpfungen, Sanktionen und Empörung […] an der Tagesordnung“ und wenn es Probleme gäbe, bestünde „die bevorzugte Reaktion der USA“ darin „Russland zu bestrafen, indem man die Kommunikation einschränkt. Das ist ein großer Fehler.“ Denn gerade in „der gegenwärtigen Situation desolater Beziehungen ist der Dialog keine Belohnung oder eine Übung in Naivität, sondern ein Gebot des Überlebens. Wenn die Dinge schlecht stehen – wie jetzt – ist genau die richtige Zeit zum Reden. Nur Sie, Herr Präsident, können das bewirken.“
Zwei Tage nach Bidens Amtseinführung, an genau jenem 22. Januar 2021, an dem der im Rahmen der UNO ausgehandelte und abgeschlossene internationale Atomwaffenverbotsvertrag 90 Tage nach Hinterlegung der 50. Ratifikationsurkunde in Kraft trat, legte Perry – ebenfalls im Bulletin of the Atomic Scientists – mit einem persönlichen Statement nach: „Warum die Vereinigten Staaten den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterstützen sollten“. Perrys klares Bekenntnis: „Der Vertrag wird die Atomwaffen in absehbarer Zeit nicht abschaffen, aber er ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.“ Gegnern des Vertrages, die damit argumentieren, dass „die atomar bewaffneten Nationen diesen […] nicht anerkannt haben“, hielt er das Diktum Max Kampelmans (in den 1980er Jahren US-Botschafter bei der KSZE und nachmals US-Chefunterhändler bei den Rüstungskontrollverhandlungen mit der UdSSR in Genf) von der „Macht des Sollens“ entgegen – mit dessen denkwürdigem Rückgriff auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Die darin formulierten Prinzipien hätten auch „mit der damaligen Realität im Konflikt“ gestanden – „vor allem mit der Sklaverei und der Entrechtung der Frauen“. Doch die US-Demokratie sei „eine Reise vom ‚Ist‘ zum ‚Soll‘“. Kampelman wörtlich: „Die Abschaffung von Atomwaffen ist ein ‚Soll‘, das proklamiert und energisch verfolgt werden sollte.“
Anfang Dezember 2020 hatte sich Perry in einem ausführlichen Essay unter dem bemerkenswerten Titel „Wie ein US-Verteidigungsminister dazu kam, die Abschaffung von Atomwaffen zu unterstützen“, zu seinem intellektuellen Werdegang geäußert – beginnend als blutjunger Militärangehöriger bei den US-Besatzungsstreitkräften in Japan, wo ihn allein schon die immensen Schäden moderner konventioneller Kriegführung, die er in Tokio (weitgehend zerstört durch US-Luftangriffe) und auf Okinawa (Schauplatz der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkrieges) tief beeindruckten, ihn jedoch zugleich mit der Erkenntnis konfrontierten, dass ein Krieg mit „Bomben vom Typ Hiroshima“ noch „eine weit größere Katastrophe“ wäre: „Ich kam zu dem Schluss, dass das einzig vernünftige Ziel unserer Atomwaffen darin bestehen sollte, den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern.“
Die nachfolgende rasche technische Entwicklung der Kernwaffen hin zu thermonuklearen Sprengsätzen immer größerer Kaliber habe ihm klargemacht: „Jetzt hat der Mensch die Macht, sein eigenes Aussterben zu verursachen. Daraus schloss ich, dass die Abschreckungspolitik der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion absolut idiotensicher sein musste.“ Zugleich reiften Befürchtungen, „dass es unmöglich sein könnte, dies[…] zu erreichen“.
Und dann kam die Kubakrise: „Im Oktober 1962 wurden meine Befürchtungen bestätigt. Zu Beginn der Kubakrise leitete ich ein Elektroniklabor in Kalifornien und wurde nach Washington gerufen, um ein kleines technisches Team zu leiten, dessen Aufgabe darin bestand, Präsident Kennedy täglich eine Einschätzung der Einsatzbereitschaft der Atomraketen zu geben, die die Sowjetunion auf Kuba stationiert hatte. Kennedys Militärberater drängten ihn, ein militärisches Vorgehen gegen diese Raketen zu genehmigen. Er hingegen wollte versuchen, die Krise auf diplomatischem Wege zu lösen, da er befürchtete, dass jede militärische Aktion leicht zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Dennoch war er bereit, militärische Maßnahmen zu ergreifen, bevor die sowjetischen Raketen einsatzbereit waren, und so nutzte er unseren Beitrag, um zu bestimmen, wie viele Tage ihm noch für die Diplomatie zur Verfügung standen. […] Allen Widrigkeiten zum Trotz waren Kennedy und Chruschtschow in der Lage, eine Einigung zu erzielen, bevor die Raketen einsatzbereit waren, aber es war eine sehr knappe Entscheidung. Kennedy schätzte später die Wahrscheinlichkeit, dass die Kubakrise in einer nuklearen Katastrophe enden würde, auf eins zu drei. Doch als er dies sagte, wusste er nicht, dass die Sowjets in Kuba nicht nur die Mittelstreckenraketen stationiert hatten, die die Ursache der Krise waren, sondern auch Kurzstreckenraketen, die bereits einsatzbereit waren. Wären unsere Truppen in Kuba eingefallen, wären sie am Brückenkopf mit Atomwaffen dezimiert worden, und ein allgemeiner Atomkrieg wäre sicherlich gefolgt.“
Ein weiteres prägendes Erlebnis hatte William Perry 1977, als er – während der Carter-Administration – Unterstaatssekretär für Forschung und Technik im Pentagon war: „Ich wurde um 3 Uhr morgens durch einen Anruf des Wachoffiziers in unserem Raketenwarnzentrum geweckt. Er sagte mir, dass seine Computer 200 Raketen auf dem Weg von der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten zeigten!“ Das Weiße Haus sei bereits informiert gewesen. „Hätte der Präsident einen Start (Gegenschlag – S.) befohlen, hätte er versehentlich einen Atomkrieg begonnen!“ Denn die Computermeldung habe sich – gerade noch rechtzeitig – als technisches Versagen, als Fehlalarm entpuppt.
Perrys Fazit: „Ich habe aus meinen Erfahrungen mit der Kubakrise und dem Fehlalarm eine klare Lektion gelernt: Die Abschreckungspolitik der Vereinigten Staaten reichte nicht aus, um einen […] Nuklearkrieg zu verhindern. Die Gefahr eines Atomkrieges bestand nicht darin, dass ein Führer plötzlich einen überraschenden Entwaffnungsangriff starten würde […], sondern dass wir in einen Atomkrieg hineinstolpern würden. Ein solches fatales Versehen könnte das Ergebnis einer politischen Fehleinschätzung sein, wie bei der Kubakrise, oder eines Unfalls, wie beim Fehlalarm. Beides hätte das Ende der Zivilisation zur Folge haben können.“
Wird fortgesetzt.