Rohrkrepierer

Gerade hat Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller in einer Debatte, die seit Monaten öffentlich geführt wird und deren schriller Kakophonie man längst überdrüssig ist, den nächsten Teufel an die Wand gemalt: Private Haushalte seien im Fall einer Gasmangellage nicht vor verordneten Einschränkungen geschützt. Grundsätzlich seien auch Verordnungen denkbar, die nur noch das Beheizen einzelner Räume in Privatwohnungen erlaubten. Um eine Gasmangellage zu vermeiden, so der Manager, „müssen die Verbraucher […] mindestens 20 Prozent [ihres üblichen Gasverbrauches – S.] einsparen – also viel mehr als bislang“.

Inwieweit die Bevölkerung tatsächlich – und womöglich derzeitigen Umfragen zum Trotz – bereit sein wird, für die Ukraine zu frieren und auf Warmwasser sowie auf ihre tägliche Hygieneroutine zu verzichten, und wenn ja, wie lange, das wird sich erst zeigen, wenn die Außentemperaturen den Gasverbrauch wieder ansteigen lassen. Aber vielleicht wird es ja ein milder Winter …

Nicht aus dem Auge verlieren sollte man allerdings die Ursachen und die Verursacher der Misere. Wer da Erklärungsbedarf hat, dem bietet Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kurz und bündig an: „Putin spielt ein perfides Spiel.“ Weiter: „Es gibt keine technischen Gründe für die Lieferkürzungen.“ Und: Russland nutze seine große Macht, um Europa und Deutschland zu erpressen.

Wem damit alles erklärt ist, der kann hier aufhören zu lesen.

Offenkundig ist allerdings, dass Habeck auf die Vergesslichkeit des Publikums setzt und gezielt latente antirussische Ressentiments anspricht, die insbesondere den Westdeutschen im Kalten Krieg antrainiert wurden, die in den deutschen Medien seit 2014 ebenso offen wie flächendeckend hochgefahren worden und spätestens seit dem Überfall Moskaus auf die Ukraine im Februar wieder einmal tonangebend sind.

Denn Fakt bleibt, dass die russischen Energielieferungen in die BRD, die während des Kalten Krieges – übrigens gegen hartnäckigen Widerstand Washingtons – aufgenommen wurden, zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges von sowjetischer Seite politisch oder wirtschaftlich instrumentalisiert wurden. Nicht einmal, als Moskau wegen seines Einmarsches in Afghanistan (1979) vom Westen sanktioniert wurde und auch nicht während der Raketenkrise (1979 bis 1985), als zeitweise das Atomkriegsrisiko so hoch war wie zuvor nur während der Kuba-Krise (1962). Moskau brauchte die Deviseneinnahmen aus den Exporten, und der Westen trat keinen Wirtschaftskrieg mit der Zielstellung los, die Sowjetunion zu „ruinieren“.

Insofern entbehrt der seit Monaten von Politikern und in den Medien gehypte Sachverhalt einer angeblich zu hohen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas – im vergangenen Jahr lag der Anteil bei 55 Prozent und wurde bis April dieses Jahres bereits auf 35 Prozent zurückgefahren – historischer Plausibilität. Ohne Wirtschaftskrieg keine (hausgemachte) Energiekrise. Insofern bedient auch Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) nur den Mainstream, wenn er verkürzt argumentiert: „Im Übrigen hätten wir dieses Problem [mit dem verknappten Gas – S.] gar nicht, wenn nicht viele Bundesregierungen und Koalitionen uns in die direkte Abhängigkeit von russischen Energieträgern geführt hätten.“

„Russland ruinieren“ – das ist die von der amtierenden deutschen Außenministerin auch so formulierte Zielstellung des kollektiven Wirtschaftskrieges des Westens, der nach der Krim-Annexion 2014 und wegen der Moskauer Unterstützung für die ostukrainischen Insurgenten vom Zaun gebrochen wurde. Unter anderem mit diversen Sanktionspaketen der EU, mit der Drosselung der Energieimporte (Gas und Öl) aus Russland und mit der nach Beginn des Ukraine-Krieges erklärten Absicht, diese Importe nunmehr so schnell als möglich auf Null zu bringen.

Dass der Westen damit Marktverwerfungen verstärkt hat, die über stark gestiegene Preise für Gas und Öl Russland trotz insgesamt verringerter Liefermengen ins Ausland inzwischen weit höhere Einnahmen ermöglichen als vor den westlichen Sanktionen, kann inzwischen nicht einmal mehr von deren Verfechtern bestritten werden.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, denn zugleich wurde Putin damit der finanzielle Spielraum überhaupt erst geschaffen, durch starke Reduzierung der Gasliefermengen nach Westeuropa den Spieß im Wirtschaftskrieg umzudrehen und überdies weitere Preisanstiege zu provozieren. Den Russen nun allerdings Erpressung vorzuwerfen, bloß weil sie – und womöglich erfolgreicher – zu den gleichen Mitteln greifen wie der Westen, das klingt schon sehr nach „Haltet den Dieb!“ Oder nach Chuzpe, falls Robert Habeck damit mehr anfangen kann …

Die von Russland für die Lieferbeschränkungen geltend gemachten technischen Probleme mögen ja tatsächlich nur Vorwand sein, wie Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem imposanten Porträtfoto vor der fix und fertig gewarteten, versandbereiten Turbine von Siemens Energy für die Pipeline Nord Stream 1 jüngst demonstrieren wollte. Allerdings hat derselbe Putin, der als Quelle allen Übels gebrandmarkt ist, auch einen Ausweg gewiesen: „Wir haben noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen.“

Damit wären tatsächlich alle zu befürchtenden Gasengpässe für den nächsten Winter bereits jetzt Schnee vom vergangenen Jahr. Von den dann zu erwartenden Preisrückgängen ganz zu schweigen.

Aber das geht natürlich überhaupt nicht. Damit würden wir ja erst recht Putins Krieg gegen die Ukraine durch unsere Energiemilliarden finanzieren!

Noch so ein viel gebrauchtes Versatzstück, das einem leicht um die Ohren fliegt, wenn man nicht ins allgemeine Russland-Bashing einstimmt. Und wieder eines, das mit der Uninformiertheit des Publikums rechnet: Alles, was die russischen Streitkräfte benötigen, wird im Lande produziert, kann vom Herrscher im Kreml also in Landeswährung bezahlt werden. Und alles, was an Hochtechnologie-Komponenten aus dem Westen vielleicht trotzdem benötigt wird, ist für Russland aufgrund geltender Sanktionen derzeit sowieso nicht zu haben. So oder so – westliche Zahlungen für russische Energielieferungen finanzieren den Ukraine-Krieg nicht.

Ja, welchen Sinn hat das westliche Embargo gegen russisches Gas und Öl dann überhaupt, wenn es unter dem Strich vor allem denen selbst schadet, die es verhängt haben? Die Frage stellen heißt sie beantworten.

Das ist im Übrigen keineswegs die singuläre Auffassung des Verfassers dieses Beitrages.

Simon Jenkis, Kolumnist des Guardian, Autor und BBC-Mitarbeiter, kommentierte dieser Tage: „Die westlichen Sanktionen gegen Russland sind die am schlechtesten durchdachte und kontraproduktivste Politik der jüngeren internationalen Geschichte. […] der Wirtschaftskrieg ist gegen das Regime in Moskau unwirksam und wegen seiner unbeabsichtigten Folgen verheerend. Die weltweiten Energiepreise schießen in die Höhe, die Inflation steigt rasant, die Versorgungsketten sind chaotisch und Millionen Menschen leiden unter dem Mangel an Gas, Getreide und Düngemitteln. […] Die Annahme scheint zu sein, dass Handelsembargos, wenn sie schaden, auch funktionieren. Da sie nicht direkt Menschen töten, sind sie irgendwie eine akzeptable Form der Aggression. Sie beruhen auf der neoimperialen Annahme, dass westliche Länder das Recht haben, die Welt so zu ordnen, wie sie es wünschen.“ Doch gegenüber Russland ist die Rechnung augenscheinlich nicht aufgegangen: „In der Zwischenzeit sind der Westen und seine Völker in eine Rezession gestürzt worden. […] Die Lebenshaltungskosten eskalieren überall. Und dennoch wagt es niemand, die Sanktionen in Frage zu stellen. Es ist ein Sakrileg, ihr Scheitern zuzugeben oder einen Rückzug zu erwägen. Der Westen hat sich zur […] Aggression verleiten lassen. Am Ende ist der Aggressor das auffälligste Opfer.“

Und Gabor Steingart, Herausgeber von ThePioneer, meint: „Der Westen wollte ihn [Putin – S.] ökonomisch in die Knie zwingen (Joe Biden: ‚Die Gesamtheit unserer Sanktionen und Exportkontrollen erdrückt die russische Wirtschaft‘) und plötzlich spüren wir den kühlen Lauf seiner Gaspistole an unserer Stirn. […] Und so wurden wir Zeitzeuge (und Opfer) der größten politischen Fehlkalkulation des Westens seit dem Einmarsch der Nato in Afghanistan. Putin wurde nicht geschrumpft, sondern vergrößert. Der Ukraine-Krieg wurde nicht beendet, sondern findet als Weltwirtschaftskrieg seine Fortsetzung. […] Die westlichen Staaten, finanziell geschwächt der Pandemie entronnen, haben nicht im Ansatz die finanziellen Mittel, um einen russischen Gasangriff für die Bevölkerung neutralisieren zu können. […] Fazit: Der Westen muss erkennen, dass die Waffe des Sanktionsregimes ihre Laufrichtung gedreht hat. Wir wollten Putin bestrafen und bestrafen uns. Wir wollten, dass er zittert, jetzt bibbern wir vor dem nächsten Winter. […] Es gibt in Amerika eine Volksweisheit, die lautet: If you are in a hole, stop digging. Wenn Du dich im Loch befindest, hör auf zu buddeln. Die unbequeme Wahrheit ist die: Der Westen muss seine Strategie verändern, sonst plumpst er in das Loch, das er für Putin gegraben hat, selbst hinein.“

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Inzwischen sind die Gas- und viele anderen Preise für die Endverbraucher längst durch die Decke gegangen. Von Heizkostenerhöhungen für Privathaushalte von weit über 300 Prozent ist auch in diesem Magazin bereits berichtet worden. Das weitere Abwälzen gestiegener Preise auf die Verbraucher per staatlich verordneter Gasumlage ab Oktober wird die allgemeine Situation zusätzlich aufladen. Vor diesem Hintergrund hat Annalena Baerbock für den Fall eines kompletten Stopps russischer Gaslieferungen „Volksaufstände“ prognostiziert, dies anschließend jedoch als „bewusste Zuspitzung“ relativiert. Dazu passt, dass die EU Ende Juli das siebte Sanktionspaket gegen Russland verhängt hat.

Bei den Lemmingen ist es ja bloß Legende, dass, sobald die ersten über die Klippe gestürzt seien, alle anderen freiwillig folgten …