Vor nunmehr 100 Jahren, am 30. Dezember 1922, wurde im Moskauer Bolschoi-Theater die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ gegründet. Der Jahrestag scheint nicht in die Zeit zu passen. Gleichwohl gehört er zur Geschichte Europas und der Welt. Anders gesagt: Ohne die Welt von gestern gäbe es die Welt von heute nicht.
Der bekannte Historiker Eric Hobsbawm wies darauf hin, dass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa drei Spielarten des Nationalismus gab: den imperialistischen Chauvinismus der großen Völker, so der Franzosen, der Deutschen und der Russen, den Nationalismus der kleineren Völker, die sich meist national unterdrückt fühlten, so der Polen, der Tschechen, der Kroaten, der Finnen, und „den sprachlichen Eifer kleiner Nationen“, etwa der Flamen in Belgien, der Slowaken, der Letten, der Esten, der Albaner. Mit der großen Krise, die der Erste Weltkrieg über Europa gebracht hatte, kreuzten sich einerseits die sozialen Hoffnungen der Unterschichten auf eine sozialistische Revolution, andererseits die Aspirationen der nationalistischen Mittelschichten, die durch Abschüttelung des nationalen Jochs zu den herrschenden Eliten von ihnen bestimmter Kleinstaaten werden wollten. Gegen Ende des Weltkrieges gewann außerhalb Russlands die nationale Seite die Oberhand. Die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zerfielen.
Lenin wusste, dass dieses Schicksal auch Russland drohte. Zugleich war ihm klar, dass die Zusammenfassung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kräfte möglichst großer Teile des früheren Russischen Reiches das Land gegenüber den Angriffen „des Imperialismus“ von innen und außen stärker machen würde. Dem „Dekret über den Frieden“ (um aus dem Ersten Weltkrieg auszuscheiden) und dem „Dekret über den Grund und Boden“ (um den Landhunger der russischen Bauern zu stillen) als ersten Akten der russischen Oktoberrevolution folgte nur eine Woche später, am 15. (2.) November 1917, die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“. Darin wurde festgehalten: (1) Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands; (2) das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung selbstständiger Staaten; (3) Aufhebung nationaler und religiöser Privilegien; (4) freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnischen Gruppen, die auf dem Territorium Russlands lebten. Damit hoffte Lenin, den völligen Zerfall Russlands in nationale Bestandteile zu verhindern.
Am Ende akzeptierte Sowjetrussland die Lostrennung Finnlands, Polens sowie Litauens, Lettlands und Estlands – im Grunde jedoch erst im Ergebnis militärischer Auseinandersetzungen und des Sieges der konterrevolutionären „Weißen“. Im territorialen Bestand des übrigen Russlands siegten am Ende die „Roten“. Die erste sowjetische Verfassung vom Juli 1918 bestimmte Russland als „Föderative Sowjetrepublik“ (RSFSR). Zudem waren eine Ukrainische und eine Belorussische Sowjetrepublik gegründet worden. Im Zentrum des Zusammenwirkens standen der Kampf gegen die „Weißen“ im Bürgerkrieg und gegen die ausländische Intervention, an der sich Truppen Frankreichs, Großbritanniens, der USA, Japans, Rumäniens und andere beteiligten. Ab 1919 vereinigten die bestehenden Sowjetrepubliken ihre militärischen Kräfte. 1920/21 siegten die „roten“ Truppen auch in Aserbaidschan, Georgien und Armenien. Ab 1919 waren ein gemeinsames militärisches Oberkommando und gemeinsame zentrale Einrichtungen geschaffen worden, so „Volkskommissariate“ (Ministerien) für das Heerwesen und die Flotte, für Außenhandel, Finanzen, Verkehrswesen, Arbeit, Post- und Fernmeldewesen. Im März 1922 wurden die drei transkaukasischen Republiken zu einer „Transkaukasischen“ Sowjetrepublik zusammengeschlossen. Die in Mittelasien gebildeten Sowjetrepubliken blieben zunächst Teil der Russischen Föderation.
Bei all dem agierte die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) immer als einheitliche, von Moskau aus geführte Partei. Sie beförderte auch den politischen Zusammenschluss der Republiken. So kamen im März 1922 die ukrainische Sowjetregierung, die RSFSR, die Belorussische SSR und Transkaukasien überein, eine Föderation zu bilden. Die ursprüngliche Idee war – sie wurde von einer Kommission unter Vorsitz Stalins entwickelt –, dass alle anderen Republiken mit den Rechten autonomer Republiken in die RSFSR eintreten. Lenin jedoch wollte eine „Föderation gleichberechtigter Republiken“ und darüber „ein neues Stockwerk“ errichten.
In diesem Sinne beschloss das Zentralkomitee der KPR am 6. Oktober 1922, dass die RSFSR, die Transkaukasische, die Ukrainische und die Belorussische Sowjetrepublik die UdSSR bilden. Im Dezember beschlossen die Sowjetkongresse der vier Republiken als deren oberste Staatsorgane den Zusammenschluss, am 30. Dezember 1922 tagte in Moskau der I. Sowjetkongress der UdSSR, der die Gründung der Sowjetunion verkündete.
Lenin hatte die Spannung zwischen sozialer und nationaler Frage für 70 Jahre ausbalanciert. Er dachte im Sinne der Revolution und wollte den großrussischen Chauvinismus in Schach halten, indem er die anderen Nationalismen eingehegt zu begrenzen hoffte. Stalin war – wie der Historiker John Lukács einst schrieb – eher Staatsmann, auf staatliche Größe bedacht und wollte, obwohl Georgier, „ein großer Russe“ sein, wie der Korse Napoleon ein „großer Franzose“ sein wollte.
Der Beschluss über die „Beendigung der Existenz“ der UdSSR durch die Staatschefs Russlands, der Ukraine und Belorusslands am 8. Dezember 1991 im belorussischen Belowescher Urwald (Beloweshskaja Puschtscha) und die nachfolgende Auflösung der Sowjetunion waren am Ende eine naheliegende Konsequenz des Machtverlustes der Kommunistischen Partei. Das einstige russische Imperium war nun zerlegt, wie Jahrzehnte zuvor das österreichische und das osmanische Reich. Auch die Vielvölkerstaaten Jugoslawien und Tschechoslowakei zerfielen nach dem Kalten Krieg, ersteres in Kriegen, letzteres einvernehmlich friedlich.
Putins unseliger Krieg in der Ukraine ist der Versuch, die Geschichte zu revidieren. Und die Nationalismen kämpfen wieder gegeneinander, wie einst vor mehr als 100 Jahren.