Der Wunsch als Vater der Politik

Die Präsidentenwahlen in der Türkei 2023 sind inzwischen Geschichte. Recep Tayyip Erdoğan erhielt in der Stichwahl am 28. Mai 2023 52,18 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der zweite Wahlgang war erforderlich, weil er im ersten Wahlgang am 14. Mai mit 49,52 Prozent weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Herausforderer Kemal Kiliçdaroğlu bekam in der Stichwahl 47,82 Prozent der Stimmen, zwei Wochen zuvor waren es 44,88 Prozent.

Schon seit Wochen zuvor waren die Medien hierzulande voller Texte und Kommentare, dass Erdoğan nun wohl abgewählt würde. Seine „Gerechtigkeitspartei“ (AKP) gilt als islamistisch, konservativ und „neo-osmanisch“, was meint, dass er nicht nur im Nahen und Mittleren Osten die Einflusspolitik einer regionalen Großmacht zu betreiben versucht. Insbesondere sein Taktieren gegenüber Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges ist den NATO-Strategen ein Dorn im Auge. Auch weil er bisher den NATO-Beitritt Schwedens unter Verweis auf kurdische Aktivitäten blockiert hat. Erdoğan regiert die Türkei seit zwanzig Jahren, 2003 bis 2014 als Ministerpräsident, seitdem als Präsident. Zudem galt seine Regierung nach den Erdbeben im Februar 2023 und angesichts einer hohen Inflation im Lande als politisch angeschlagen. Kemal Kiliçdaroğlu von der Partei CHP, die als sozialdemokratisch angesehen wird und in der Tradition des Staatsgründers Kemal Atatürk steht, trat als Kandidat an, der von einem breiten Bündnis oppositioneller Parteien unterstützt wurde.

In Bezug auf die Betrachtung der deutschen politischen Szenerie war das offensichtliche Agieren der sogenannten politischen Klasse und der Medienkaste in Richtung auf einen Politikwechsel in der Türkei offensichtlich. Nahezu einhellig wurden die Deutsch-Türken, die hierzulande leben und zugleich einen türkischen Pass besitzen, mit dem sie in die türkischen Konsulate zum Wählen gingen, beschimpft, sie würden die hiesige Demokratie nicht wertschätzen und „die Autokratie“ unterstützen. Besonders taten sich hier wieder die Grünen hervor, vor allem in Person von Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. Die Medien hatten sich dazu verabredet, bei jeder Erwähnung des Wahlergebnisses hervorzuheben, dass es „knapp“ war. Derlei Attributierung setzt stets auf das Vergessen. Bei der Stichwahl zur französischen Präsidentschaft 1974 siegte der Bürgerliche Valéry Giscard d’Estaing mit 50,81 Prozent gegen den Sozialisten François Mitterrand, der 49,19 Prozent bekam. Bei der folgenden Wahl 1981 war es umgekehrt, Mitterrand erhielt 51,76 Prozent und Giscard 48,24 Prozent – und niemand fand dies anrüchig.

Ganz zu schweigen davon, dass bei der Präsidentenwahl in den USA im Jahre 2000 537 Stimmen zugunsten von George W. Bush in Florida den Ausschlag gaben und das Oberste Gericht weitere Nachzählungen verboten hatte. Dass in der Türkei jetzt unordentlich gezählt wurde, hat niemand behauptet. Und der Unterschied der abgegebenen Stimmen zugunsten von Erdogan in der Stichwahl beträgt 2,33 Millionen Wählerstimmen.

Allerdings war das Agieren der politischen und Medienkaste in Sachen Erdogan jetzt ein Wiedergänger. Im Jahre 2022 hatten sie ebenso vollmundig das Abtreten von Viktor Orbán in Ungarn verkündet. Orbán regiert mit seiner Fidesz-Partei im Bündnis mit der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KNDP) seit 2010 mit einer Zweidrittel-Mehrheit. Die verschiedenen Oppositionsparteien von weit rechts bis links waren stets weit abgeschlagen. Das sollte sich 2022 endlich ändern, die oppositionellen Parlamentsparteien und einige Kleinst-Parteien bildeten eine breite Oppositionsallianz (Egységben Magyarországért), stellten gemeinsame Kandidaten in den Wahlkreisen auf und einigten sich auf Péter Márki-Zay – bekennender Katholik und Konservativer, Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely – als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Doch das Projekt scheiterte krachend, Orbáns Liste erhielt 135 von 199 Sitzen im Parlament, das Oppositionsbündnis – von links, liberal und grün bis zur ursprünglich rechten Jobbik-Partei – 56 Sitze, die neurechte Partei Mi Hasánk Mozgalom (rechte „Bewegung für unsere Heimat“, eine rechte Abspaltung von Jobbik) 7 Sitze und ein Kandidat der deutschen Minderheit (der nicht der Prozenthürde unterlag) einen Sitz. Mit dieser wieder verfassungsändernden Mehrheit konnte Viktor Orbán in Ruhe weiterregieren.

In dem einen wie dem anderen Fall war in Deutschland eine Stimmung erzeugt worden, als hätte der Wunschkandidat für eine EU-kompatible Politik in Ungarn bzw. der Türkei schon als Kandidat gewonnen. Hinterher wurden dann die respektiven Wähler beschimpft und nicht etwa die falschen politischen Annahmen in Frage gestellt.

Hier erscheint es sinnvoll, an zwei andere Großentwicklungen zu erinnern. Vor dem Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der Europäischen Union (am 23. Juni 2016 – „Brexit“) gingen Politiker wie Medien in Deutschland ganz selbstgewiss davon aus, dass es eine Mehrheit für den Austritt nicht geben werde, weil dies der wirtschaftlichen Logik und den geopolitischen Gegebenheiten entsprechen würde. Am Ende gab es ein böses Erwachen. Als am Vorabend der Brexit-Abstimmung im britischen Unterhaus vom 15. Januar 2019 im Deutschen Fernsehen über die voraussichtlichen Folgen diskutiert wurde, merkte der konservative britische Politik-Professor Anthony Glees an, die Briten hätten keine Angst vor dem EU-Austritt. Sie glaubten, dass sie nach Dünkirchen 1940 allein gegen Hitler weitergekämpft und es geschafft hatten und es heute ebenfalls schaffen würden. Unter einer solchen Perspektive war die Dominanz Deutschlands in Europa folgerichtiger Ausdruck der geo-politischen und geo-ökonomischen Verhältnisse, stellte die Europäische Union im Grunde die verkappte und institutionalisierte Vorherrschaft der Deutschen über Europa dar. Das Vereinigte Königreich hatte aber nicht zwei siegreiche Weltkriege geführt und dabei sein Empire verloren, um am Ende einen geopolitischen Platz zugewiesen zu bekommen, den es 1914 auch ohne Krieg hätte haben können.

In vielerlei Betrachtungen über den Brexit wurde hierzulande nur krämerhaft über Kosten und Nutzen – vor allem für Bosch, Siemens usw. – geredet, aber nicht über nationalen Stolz, Ehre und Geschichte. Die Mehrheit der Deutschen hält solche Begriffe für veraltet. Nach den Nazi-Verbrechen für den eigenen nationalen Kontext gewiss zu Recht. Das bedeutet aber nicht, dies auch allen anderen Völkern abzusprechen. Gewiss ist das Deutschland von heute nicht mit dem von 1940 vergleichbar. Gleichwohl sind es immer noch oder wieder „die Deutschen“, von denen andere in Europa sich herumkommandiert, bevormundet oder belehrt sehen. Über den Brexit wird nach wie vor vor allem pejorativ gesprochen, nicht über rein „realpolitische“ oder „realwirtschaftliche“ Argumentationen hinaus.

In Sachen Präsidentenwahl in den USA 2016 waren die deutschen Betrachter auf den Sieg von Hillary Clinton fixiert, die Wahl Trumps kam schon rein gedanklich nicht vor. Der damalige Grünen-Chef Cem Özdemir meinte: „Jetzt sind die, die uns die westlichen Werte gebracht haben, vom Glauben abgefallen.“ Die deutsche politische Klasse war inzwischen so weit, nicht nur Ungarn, Polen, Österreich, Großbritannien (nach dem Brexit) oder die Türkei über „wahre Demokratie“ belehren zu wollen, sondern auch die USA. Die Tagesschau meinte: „Deutschland ist irritiert“, Berlin „total geschockt“.

Norbert Röttgen von der CDU, damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, nannte die Wahl von Donald Trump ein „Warnzeichen für Europa“. Und fügte hinzu, „wir wissen zu wenig“. Das „Wir“ meinte die professionellen Außenpolitiker der Regierung, der Regierungsparteien und ihres Umfeldes sowie die entsprechenden Forschungseinrichtungen und Medienakteure. In der Tat wurde damals allenthalben bestätigt, dass diese Leute sehr viele Kontakte und Verbindungen zum Clinton-Lager hatten, aber keine zu Trump.

Die ideologischen Dehnungsübungen in Sachen Erdoğan jetzt waren wieder nur Ausdruck der Unfähigkeit des außenpolitischen Personals in Deutschland zur Analyse. Wer sich in seinen „Werte“-Kokon einspinnt, nimmt die wirkliche Welt nicht mehr wahr. Das kann in diesen schwierigen Zeiten fatale Folgen für dieses Land und seine Einwohner haben. Und die Abwesenheit einer ausgleichenden „Vierten Gewalt“ hat nicht erst gestern begonnen.