„Biokapital“ - neue Impulse für die Kritik

 

Alle haben eine ungefähre Vorstellung davon, womit sich jemand, der zum „Biokapital“ arbeitet, beschäftigt - aber letztendlich bezieht sich jede/r Einzelne doch auf unterschiedliche Dinge. 

Mit seinem Anfang des Jahres auf Deutsch erschienenen Buch „Biokapitalismus“ hat der US-amerikanische Wissenschaftsanthropologe Kaushik Sunder Rajan der Debatte zum Verhältnis von Lebenswissenschaften und Ökonomie einen neuen Impuls hinzugefügt. Mit dem „Biokapital“ unternimmt Rajan den Versuch, analog zum Finanz- oder Kaufmannskapital eine besondere historische Ausprägung kapitalistischer Wertschöpfungsformen zu benennen.


Von Kaushik Sunder Rajan


Ich möchte vorwegschicken, dass der Begriff „Biokapital” nicht von mir stammt. Im Gegenteil, dieses Konzept hat bereits eine sehr lange Geschichte. Gerade in den letzten zehn Jahren haben viele explizit oder implizit damit gearbeitet. Letztendlich handelt es sich dabei genauso um eine Analyse-Kategorie wie viele andere „Bios” auch, also wie Biomacht, Biopolitik oder Biosozialität.(1) Alle haben eine ungefähre Vorstellung davon, womit sich jemand, der zum „Biokapital“ arbeitet, beschäftigt - aber letztendlich bezieht sich jede/r Einzelne doch auf unterschiedliche Dinge. Gemeinsam ist den bisherigen Ansätzen, dass sie den Begriff Biokapital auf die Biomedizin beziehen - obwohl es genauso wichtig wäre, auch die Agrobiotechnologie zu berücksichtigen. Denn einige der institutionellen und epistemologischen Veränderungen, die zur Zeit in der Pharmaökonomie zu beobachten sind, wurden bereits in den 1960ern von der „Grünen Revolution“ vorweggenommen.

Man kann die Geschichte des Begriffs Biokapital sogar noch weiter zurückverfolgen, wenn man „Bio-“ und „Kapital“ analytisch trennt, gleichzeitig aber berücksichtigt, dass sich beides wechselseitig konstituiert hat. Das ist der Ansatz, den ich in meinem Buch verfolge, indem ich mich auf Marx und Foucault stütze. Nach Foucault sind bestimmte Umgestaltungsprozesse des Lebens, der Arbeit und der Sprache konstitutiv für die Moderne, wobei bestimmte Disziplinen wie die Biologie und die politische Ökonomie die epistemologische Grundlage für diese Prozesse lieferten. Ebenso ist die Arbeit bei Marx ein Konzept, das das Biologische mit dem Kapital verknüpft. „Mein” Biokapital, das heißt, das Biokapital, das ich am Beispiel der Genomik und der pharmazeutischen Entwicklung untersuche, bezieht sich auf ein sehr spezifisches technologisches, institutionelles und epistemisches Feld. Es geht einerseits um die Frage, wie sich die Lebenswissenschaften zu einer Art Informationswissenschaft entwickelten und andererseits darum, wie sich diese informatisierten Lebenswissenschaften in die therapeutische Entwicklung eingliedern.


Eigenschaften des Biokapitals

Die Formen von Biokapital, die ich untersuche, sind durch folgende „neue“ Eigenschaften gekennzeichnet:


1. Molekularbiologie

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben zwei folgenreiche epistemische Verschiebungen stattgefunden. Die eine betrifft vor allem die Molekularbiologie und bezieht sich auf die Weise, in der die Lebenswissenschaften zumindest teilweise zu Informationswissenschaften geworden sind. Die Möglichkeit, Leben als Information verstehen und repräsentieren zu können, mehr noch: als Information, die verpackt, zirkuliert und zu einer Handelsware gemacht werden kann, ist absolut entscheidend. Die zweite Verschiebung ist für den klinischen Bereich relevant und betrifft das Aufkommen der evidenz-basierten Medizin; genauer gesagt geht es um die Etablierung von randomisierten klinischen Studien als maßgeblichen Weg, Wissen über Krankheitsverläufe und über die Wirkung von Medikamenten zu generieren. Diese beiden Veränderungen finden in zwei verschiedenen Bereichen statt (dem molekularbiologischen Labor beziehungsweise der Klinik) und hängen nicht miteinander zusammen. Zusammengenommen bilden sie aber das epistemologische Terrain des Biokapitals, das relevant für die pharmazeutische Entwicklung ist.


2. Gesundheitsindustrie

Das Wesen und die Funktion der Medizin haben sich im vergangenen Jahrhundert gewandelt. Joe Dumit schreibt in seinem neuen Buch, die Medizin sei „von einem Arm des Kapitals zu einer eigenen Industrie geworden“. Das heißt mit anderen Worten, dass sich die Rolle verändert, die die Gesundheit für die Produktionsweisen und -beziehungen sowie für die Kapitalvermehrung spielt. In Marx’ Analyse des Industriekapitals waren gesunde Arbeiter entscheidend für das Kapital. Gesundheit war sozusagen eine Produktionsbedingung. Mit der Entwicklung der pharmazeutischen Industrie ist Gesundheit zum Selbstzweck geworden. Sie ist nicht mehr nur ein Mittel, um die Arbeit zu reproduzieren, sondern ein erstrebenswerter Zustand des Lebens selbst. Es ist wichtig, diese Verschiebungen zu registrieren, wenn man die Wertschöpfungsdynamik des pharmazeutischen Kapitals (und vermutlich auch des Agrokapitals) verstehen möchte.


3. Innovationsfetischismus

Ein besonderes Augenmerk muss man auf jene Wertschöpfungsformen richten, die als „neo-liberal“ bezeichnet werden können. Gerade hier ist es absolut entscheidend, das jeweilige Verständnis von Innovation zu untersuchen. Innovation war immer wichtig für die Ideologie und die Realität technologischer Entwicklung in den USA. Aber seit den 1980er Jahren wird Innovation ein Eigenwert zugeschrieben. Sie wird in einer Weise von der materiellen Realität abgekoppelt, wie das zuvor nicht der Fall war. Dies führt auch zu einer generellen Konsolidierung des spekulativen Kapitals als der treibenden Kraft des heutigen Kapitalismus (zumindest des US-amerikanischen). Die Ideologie der Innovation rationalisiert in vieler Hinsicht auch jene Veränderungen, die ich in Indien beobachtet habe: die Entwicklung einer Infrastruktur für globale klinische Studien und die Anpassung an die von den USA bestimmten geistigen Eigentumsregime.


4. Globalisierung

Sowohl die Lebenswissenschaften als auch die Biomedizin werden zunehmend global. Die Globalisierung der Biomedizin begann Mitte der 1990er Jahre mit der wachsenden Globalisierung der Forschung am Menschen, wie Adriana Petryna ausgeführt hat. Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass die Forschung global agiert oder dass ProbandInnen weltweit rekrutiert werden. Es geht dabei auch um die ausgefeilten Bemühungen, die ethischen und regulatorischen Regime zu standardisieren und zu harmonisieren. Dies alles passiert parallel zur Globalisierung von geistigen Eigentumsregimen, die die Welthandelsorganisation (WTO) vorantreibt, und der Einrichtung von Zentren mit exzellenten lebenswissenschaftlichen Forschungsmöglichkeiten außerhalb der USA und Europas, das heißt vor allem in Asien.

Es geht mir nicht darum, in einem strikt historischen Sinne das spezifisch „Neue“ in den Lebenswissenschaften und in der gegenwärtigen Ausprägung des Kapitalismus auszumachen. Weitaus interessanter ist die Frage, ob wir im Foucaultschen Sinne einen epochalen Wandel feststellen können - und ich denke, das ist der Fall. Gleich­zeitig birgt eine solche generalisierende Diagnose aber die Gefahr, empirisch nicht ausreichend fundiert zu sein. Die Herausforderung besteht darin, einerseits aufmerksam für die empirischen Besonderheiten zu sein, ohne sie einfach als „neu“ abzustempeln; und andererseits die epochalen Verschiebungen zu beschreiben, ohne zu sehr zu generalisieren.


Koproduktion, nicht Determinierung

Das Ganze ist aber noch komplizierter, weil die jeweiligen Veränderungen in den Lebenswissenschaften beziehungsweise in den Systemen und Regimen des Kapitals nicht einfach aufeinander rückführbar, andererseits aber auch nicht immer voneinander zu trennen sind. Man kann beispielsweise nicht einfach sagen, das Leben sei molekularisiert und informatisiert worden, und deswegen gäbe es jetzt Veränderungen in seiner Wertigkeit. Genauso wenig können wir sagen, dass wir uns jetzt in einer neoliberalen Phase des Kapitalismus befinden und die Lebenswissenschaften sich deshalb verändern. Aber dennoch muss man die Lebenswissenschaften und den Kapitalismus als miteinander verbundene Objekte ansehen. Es geht darum nachzuvollziehen, wie diese Zusammenhänge aussehen und wie sie sich verändern. Das ist die entscheidende empirische und konzeptuelle Frage. Nur so kann man das Biokapital als „Ding in der Welt“ verstehen und auch das Konzept des Biokapitals weiterentwickeln.


Übersetzung: Monika Feuerlein



Kaushik Sunder Rajan lehrt im Fachbereich Anthropologie an der Universität von Kalifornien, Irvine. Sein Buch „Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter” ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Eine Rezension findet sich im GID 184 und auf der Homepage des GeN (www.gen-ethisches-netzwerk.de).

Lesen Sie auch das Interview „Biokapitalistische Werte“ mit Kaushik Sunder Rajan und seine Überlegungen zur Veränderungen des Nord-Süd-Verhältnisses im Beitrag „Neue und alte Abhängigkeiten“ (GID 195).



Fußnote:

(1) Nicht aber der Begriff „Bioökonomie“, denn dabei handelt es sich um eine einflussreiche Akteurskategorie, die vor allem in Europa verwendet wird, um das Zusammenfallen von Lebenswissenschaften und politischer Ökonomie zu beschreiben.



Kasten:


„Meine Grundannahme lautet, dass der globale Kapitalismus die Life Sciences zwar überdeterminiert, dass er sich jedoch als politisch-ökonomisches System keineswegs überall auf der Welt in denselben, unveränderlichen Formen ausprägt. Das bedeutet wiederum, dass man den Kapitalismus nicht ohne weiteres voraussetzen kann, da er sich selbst unablässig wandelt und da er permanent umstritten ist.“


(Kaushik Sunder Rajan, Zitat aus dem Buch „Biokapitalismus”)