Wetterleuchten

Berlin galt immer als No-go-Area für die extreme Rechte. Von gelegentlichen kleineren Achtungserfolgen am Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre abgesehen, konnten hier weder die Republikaner noch die NPD landen. Beide verschwanden wenige Jahre nach dem Mauerfall nachhaltig im politischen Nirwana der Hauptstadt. Das galt einige Jahre auch für die AfD, bis sie 2016 ausgerechnet in die linken Hochburgen des Ostens massiv einbrechen konnte. Es gelang 2021 nicht, sie aus den Bezirksverordnetenversammlungen und dem Abgeordnetenhaus rauszuwerfen. Nach der jüngsten Umfrage des Institutes Wahlkreisprognose würde sie in Berlin gegenüber den Wahlen vom 21. September 2021 um fünf Prozent zulegen und käme mit 13% der auch hier stagnierenden Linken (14%) gefährlich nahe. Die wiederum kommt in ihrer Auseinandersetzung mit der Konkurrenz vom rechten Rand nach wie vor nicht aus dem Knick. Außer der üblichen Wählerbeschimpfung und einer Art Post-Nationale-Front zur Verhinderung von AfD-Kandidaten bei Nominierungen durch die Bezirksverordnetenversammlungen fällt ihr eigentlich nicht viel ein.

Insofern war die Aufregung wegen der 10.000 Demonstrierer, die am 8. Oktober unter dem AfD-Motto „Unser Land zuerst“ durch die Berliner City zogen, ein weiteres Indiz für die gestörte Realitätswahrnehmung der hiesigen Parteistrategen links der CDU und der ihnen nahestehenden Medienakteure. Sinnvoller wäre es sicherlich, man würde darüber nachdenken, weshalb es nur gelang, insgesamt 1500 Gegendemonstranten auf die Straße zu bewegen. Und die waren noch auf zwölf verschiedene Veranstaltungen verteilt. Kläglicher kann antifaschistische Zivilgesellschaft nicht scheitern. „Berlin, wo waren am Samstag deine Linken“, fragte die taz tags darauf. Wobei König Zufall den Gegendemonstranten zu Hife kam: Justament am Vormittag des 8. Oktobers fiel in ganz Norddeutschland der Zugverkehr aufgrund eines bis heute nicht aufgeklärten Sabotageaktes aus. Berlin war nur noch per Straße erreichbar. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.

Auch wenn gebetsmühlenartig die Demonstranten über den rechten Kamm geschoren wurden: „Überwiegend Durchschnittsbürger sind hier anzutreffen. Manchen steht die Bitternis ins Gesicht geschrieben. Viele sind so sauer auf den Staat, dass sie ihm nichts Gutes zutrauen.“ Das beobachtete die NZZ-Korrespondentin Fatina Keilani. Manja Kasten hingegen – sie arbeitet für die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin – sah in neues deutschland „das übliche Kernklientel der AfD von rechts bis rechtsextrem“. Kernklientel? Vor vier Jahren stellten sich in Berlin noch 70.000 Menschen knapp 3000 Rechten entgegen. Das hat sich gedreht, und das war kein Ausrutscher.

Am 3. Oktober gingen in Thüringen 36.000 Menschen auf die Straße. Allein in Gera waren es 10.000, und die jubelten teils frenetisch dem dortigen AfD-Fraktionschef Björn Höcke zu: „Gera ist heute der Anfang von etwas Neuem, wir sind die ersten von morgen.“ Von den Linken haben die Rechten immerhin schon die Straße übernommen. Am Tag der deutschen Einheit waren es allein in Ostdeutschland gut 75.000, die nach Polizeiangaben gegen den Kurs der Bundesregierung hauptsächlich in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch gegen deren Russlandpolitik demonstrierten. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) warnte in DIE ZEIT vor der „Bildung einer neuen öffentlich sichtbaren faschistischen Bewegung“.

Am Tag „nach Berlin“ wählte Niedersachsen. Der nächste Paukenschlag. Nicht wegen des Wahlsiegers, Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ist beliebt im Land. Dass „seine“ SPD nur 3,5% an Stimmen verlor, ist auch sein Verdienst. Die AfD legte hier 4,7% zu und erreichte mit 10,9% einen zweistelligen Wert. Das kannte man bislang nur aus dem Osten. Die Linke erweist sich zwischen Ems und Elbe mit 2,7% nur noch als Spurenelement. Dramatische Verluste fuhr die Partei in den Großstädten ein. Auch in den akademischen Milieus, um die sie so verbissen buhlt, verlor sie. Gute acht Tage nach dem Wahldesaster hüllt sich die Parteispitze hinsichtlich einer Stellungnahme immer noch in Schweigen. Auf der Pressekonferenz des Parteivorstandes nach der hannoveraner Klatsche schwadronierte Parteichef Martin Schirdewan lieber über die Gaspreisbremse als sich einigermaßen ernsthaft den immer noch freundlich formulierten Fragen der Kollegen zu stellen.

Aber auch Niedersachsen war kein Ausrutscher. Die Linke flog in diesem Jahr im Saarland (2,6%) und in NRW (2,4%) aus den Landtagen. In Schleswig-Holstein lag sie noch deutlich unter 2%. Hier verfehlte auch die AfD die 5%-Hürde. An der Saar und in Düsseldorf zog sie in den Landtag ein. Dass das zweistellige Ergebnis der Rechten in Niedersachsen kein singuläres Ereignis ist, wird sich im Westen bei den nächsten Wahlgängen erweisen. Die aktuellen Umfragen verheißen nichts Gutes: Hessen 12%, Bayern 12,0%, Rheinland-Pfalz 12,0%, Baden-Württemberg 12,0%. Für Die Linke liegen alle Prognosewerte deutlich unter 5%. Eine Ausnahme bilden die Hansestädte. Sowohl in Bremen als auch in Hamburg liegt die AfD noch unter 10% (9,5 bzw. 7,0) und Die Linke würde mit fast gleichen Werten in die Bürgerschaften einziehen.

Wenn es sie im nächsten Jahr noch gibt. Wer glaubt, die Niederlagen des ablaufenden Jahres würden die Genossen in die Klausurkämmerchen treiben, um endlich einmal intern eine solide Ursachenanalyse und -diskussion über den beispiellosen Niedergang der 2007 als Hoffnungsträger angetretenen Partei zu beginnen, irrt gründlich. Aus dem vielfältigen Flügelgeflattere der PDS wurde ein nicht minder handlungsunfähiger Haufen, der sich durch den Zwang der in einem föderalen Staatswesen fast quartalsweise anstehenden Wahlkämpfe immer wieder kurzzeitig disziplinierte. Den Endpunkt setzten die Bundestagswahlen vom 26. September 2021. Selbst Das Blättchen legte über das Linke-Ergebnis einen Nebel schamvollen Schweigens … Den Hintern gerettet hatte der Partei letztendlich der Leipziger Sören Pellmann. Von den Parteioberen ungeliebt – man rechnet ihn dem Wagenknecht-Lager zu – lieferte er das notwendige dritte Direktmandat. Ausgerechnet in Leipzig, der nicht minder ungeliebten Sachsen-Metropole. Pellmann versucht hier übrigens seit wenigen Wochen einen linken „heißen Herbst“ anzuheizen, um der AfD wenigstens im Sächsischen das Monopol auf die Straße wieder streitig zu machen. Seine Parteispitze allerdings hat anderes zu tun.

Sie versucht sich derzeit mit einer Art Doppelstrategie. Gerne hätte man Sarah Wagenknecht herausgeworfen, zumindest hinausgeekelt. Aber da sind bislang alle Versuche gescheitert. Die konterte Wagenknecht im vergangenen Jahr mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“, mit dem sie ihren Kritikern auf eine Art und Weise den Spiegel vors Gesicht hält, die ihr diese wohl niemals verzeihen werden. Man hält sich jetzt an ihre Entourage. Derzeit ist Diether Dehm, das Enfant terrible der Partei, Mode. Dehm befürchtet ein Desaster zu den Europawahlen 2024 und palaverte ausgerechnet auf dem Pressefest der DKP-Zeitung Unsere Zeit, man müsse „diesem Abbruchunternehmen da drüben im Karl-Liebknecht-Haus eine Alternative“ entgegensetzen. neues deutschland gegenüber erklärte die stellvertretende Parteivorsitzende Katina Schubert aus Berlin, man prüfe „unter Hochdruck einen Ausschlussantrag“ gegen Dehm. Dieses Instrument war übrigens in stalinistischen Parteien ein beliebtes Mittel, parteiinterne Kritiker mundtot zu machen. Die Geschichte wiederholt sich …

Schubert selbst gehört zum Umfeld eines Personenkreises, der sich zu PDS-Zeiten als „Reformflügel“ deklarierte, 2002 im Umfeld des Geraer Parteitages der PDS – auf dem diese Leute für einen Moment die Spaltung der Partei erwogen hatten – eine Metamorphose zum Forum demokratischer Sozialismus (fds) vollzog und für den 3. Dezember 2022 zu einem „Vernetzungstreffen der ‘progressiven’“ Linksparteimitglieder eingeladen hat. Die Kernaussage des Aufrufes der „Progressiven“ lautet: „Die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Linken erfordert, die Koexistenz mit dem Linkskonservatismus in der Partei zu beenden.“ Gemeint ist damit die Anhängerschaft von Sarah Wagenknecht, die sich selbst gelegentlich als „linkskonservativ“ bezeichnete.

Praktisch gesehen wird das die Spaltung der Partei bedeuten, möglicherweise die Gründung von zwei neuen „Linken“. Das hieße einer „progressiven Linken“, die „Soziales und Ökologisches, Antifaschismus, Antirassismus, Feminismus, Friedenspolitik und Gleichstellung“ als politische Felder bedienen möchte. Sicher wird diese Auflistung am 3. Dezember noch um einige „Ismen“ bereichert werden. Auf der anderen Seite stünde dann eine „linkskonservative Linke“, die sich wahrscheinlich auf die soziale Frage fokussiert. Erste Umfragen billigen einer möglichen „Wagenknecht-Partei“ – nach dem Erfurter Parteitag der Linken Ende Juni 2022 philosophierte Wagenknecht selbst auf Anfrage von Merkur.de über eine „Populäre Linke“ – eine überraschende Zustimmungsrate zu. Nach einer INSA-Umfrage können sich 30% der Befragten vorstellen, möglicherweise eine Wagenkecht-Partei zu wählen, zehn Prozent sind sich sogar „sehr sicher“, dies zu tun.

Innenpolitisch steht diese Republik tatsächlich vor einem heißen Herbst. Bei den Linken allerdings stehen die Zeichen auf Sturm. Fassen die nicht – in welcher Form auch immer – wieder Fuß, steht unserem Land wohl ein weiterer Rechtsruck bevor.