Nur Ärger mit dem Personal

Im Oktober 2021 stellte der Vorsitzende des Ältestenrates der Linkspartei, der ehemalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow, sein Amt zur Verfügung. Modrow ist verärgert über die weitgehende Ignoranz der Parteiführung dem Rat gegenüber. Anfang Januar 2022 erklärte die Ökonomin Christa Luft, stellvertretende Ministerpräsidentin im Kabinett Modrow und prägende Wirtschaftspolitikerin der PDS, ihren Parteiaustritt. In einem fünfseitigen Schreiben richtet sie heftige Vorwürfe an den Bundesvorstand und den Vorstand des Berliner Landesverbandes. Das nd berichtet, sie zeige „,großen Unmut‘ darüber, dass die Linke-Führung nach dem ,vollkommen missratenen 2021er Bundestagswahlkampf‘ noch immer ,nicht den Anflug einer Analyse einschließlich Selbstkritik zur Aufklärung der Ursachen des Scheiterns vorgelegt‘“ habe. Luft wirft den Spitzenpolitikern der Partei „ewige Anbiederei“ an SPD und Grüne und zudem erhebliche Vernachlässigung des „Ost-Themas“ vor. Nach erster Schockstarre, den dann üblichen Beschimpfungen und Trauerbekundungen zog wieder scheinbare Ruhe in den Parteibüros ein.

Können die nicht endlich ihre Personal-Querelen abstellen, fragt da manch naiver Beobachter.

Aufschlussreich ist ein Blick auf die Bundestagsfraktion. Sie ist das eigentliche Kraftzentrum auf Bundesebene. Der Parteivorstand wird mit Ausnahme der beiden Parteivorsitzenden Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. In der Partei sind die Landesverbände entscheidend. Und die machen zumeist ihr eigenes Ding. Beispielhaft die Thüringer. Die haben mit Bodo Ramelow den augenblicklich wohl einzigen Shootingstar der Partei. Die Ära Gysi ist vorbei. In der Fraktion sitzt der politische Sachverstand. Hier bilden sich nach wie vor die entscheidenden „Flügel“ ab: „Bartschisten“, „Bewegungslinke“ und die Wagenknecht-Leute.

Allerdings zerbröseln deren Konturen zunehmend. Wichtige Player sind nach den Wahlen abgängig, Stefan Liebich oder die ehemalige Parteivorsitzende und erbitterte Wagenknecht-Gegnerin Katja Kipping zum Beispiel. Die neue Sozialsenatorin von Berlin bezeichnete ihren Ausstieg aus der Bundespolitik in der Berliner Zeitung als „eher eine konsequente Fortführung dessen, was ich über viele Jahre geschrieben habe“. Geschrieben, nicht etwa getan … Das ist das Problem. Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, scheiterte 2021, so Die Zeit, beim Versuch, das Profil der Partei stärker auf das Soziale auszurichten. Das war auch der Ansatz von Sahra Wagenknecht. Stattdessen beschwor Hennig-Wellsow einen „radikal-pragmatischen Ansatz“. Man kann das mit „bedingungsloser Prinzipienlosigkeit“ übersetzen. Im Ergebnis wurden aus 11,9 Prozent Wählerstimmen zu den Bundestagswahlen 2009 mit Hängen und Würgen 4,9 Prozent im September 2021.

Die Grundmandatsklausel im Wahlgesetz hat das Aus für die Partei verhindert. Gesine Lötzsch und Gregor Gysi gewannen ihre Berliner Wahlkreise. Als existenzrettend erwies sich, dass Sören Pellmann als einziger LINKE-Bewerber außerhalb Berlins (Leipzig II) ein Direktmandat holte. Pellmann hätte nun eine stärkere Rolle in der Fraktion zugebilligt werden müssen. „Mehr Pellmann wagen!“ empfahl die taz den Genossen im Oktober 2021. Aber Sören Pellmann wird intern dem Wagenknecht-Flügel zugerechnet. Wo kommen wir da hin! Die Machtbalance muss gewahrt bleiben. Unter den 11 Mitgliedern des Fraktionsvorstands befinden sich sieben ehemalige Parteivorsitzende respektive Stellvertreter. Von insgesamt 39 Mitgliedern der Fraktion hatten beziehungsweise haben 12 eines dieser Ämter inne. Bis zu Kippings Ausstieg war es genau ein Drittel.

In der Fraktion sitzen zumeist politikerfahrene Mehrfachfunktionäre. Sieht man sich deren biografischen Hintergrund an, bildet sich en détail – mit drei Ausnahmen, die irgendwie aus der Arbeiterschaft kommen – ein Abbild der „Selbstgerechten“ Wagenknechts. Egal ob man deren Befund teilt oder nicht: Biografie bleibt Biografie. Gesine Lötzsch blendet auf der Internetseite der Fraktion ihre Parteivorsitzenden-Karriere übrigens aus. Man muss auch bei den LINKEN sehr genau hinsehen. Da wird einiges „passend“ gemacht.

Von der Parteispitze wird – bei zu starkem Aufflackern linker Flämmchen – gern der „Gründungskonsens“ der Partei, gemeint ist die SED-PDS, beschworen: die Abkehr vom Stalinismus. Vergessen wird immer, dass seinerzeit auch die grundsätzliche Aufgabe jeglichen Avantgardeanspruchs beschlossen wurde. Der wird inzwischen von den Einzelpersönlichkeiten vertreten. Die Unbedingtheit, mit der vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner in der eigenen Partei und deren Umfeld bekämpft werden, sucht – wohl mit Ausnahme der AfD – in der deutschen Parteienlandschaft derzeit ihresgleichen. Eine grundsätzliche Veränderung ihrer Politik ist von solchen Leuten nicht zu erwarten. Ihr Weltbild ist zu verfestigt. Das hat nicht nur ideologische Gründe. Ein Gesetz der Physik besagt, dass sich dort, wo sich bereits ein Körper befindet, kein weiterer sein kann. In der Politik gilt eine Fortschreibung dieser Regel: Gibt man eine Position nur ein Stück weit frei, etabliert sich dort sofort ein anderer „Körper“. Lange im Geschäft befindliche Politiker wissen das.

Dumm ist nur das mit der Basis. Aber die ist bei der LINKEN im Wandel begriffen. In den letzten zehn Jahren schied zirka ein Drittel der Mitgliedschaft durch Ableben aus. Dennoch hat sich die Mitgliederzahl nach einem dramatischen Rückgang (2009: 73.658; 2017: 58.910) wieder etwas erholt (2020: 60.350) und scheint momentan stabil zu sein. Die Abgänge wurden durch Neueintritte ausgeglichen. Mit 19 Prozent (2020) hat DIE LINKE den höchsten Anteil an jüngeren Mitgliedern unter allen Parteien. Das veränderte die soziale Struktur: Besaßen 2017 noch 46 Prozent der Mitglieder einen Hochschulabschluss, waren es 2020 bereits 51 Prozent. Der Arbeiteranteil sank von 19 auf 17 Prozent. 67 Prozent der Mitglieder sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Für eine Partei, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat, ist das ein verheerender Befund. Ihre sozialen Erfahrungswelten sind nur noch unzureichend kongruent mit denen, für die sie einzutreten erklärt. Diese Politiker haben keine Ahnung mehr von den konkreten Lebensumständen der Menschen außerhalb von Plenarsälen, Seminarräumen und Selbsterfahrungsgruppen.

Warum, zum Teufel, ist das so? Man kann und muss doch (fast) allen, die sich in die Niederungen der Parteipolitik begeben, die besten Absichten unterstellen!

Hanna Lakomy – die Prostituierte schreibt in der Berliner Zeitung regelmäßig für die Wochenend-Rubrik „Nachtgesichter“ – hat einen Antwortversuch unternommen. Sie wollte wissen, weshalb Linke den „Ungebildeten“ (also den Nicht-Akademikern, den „Hartzis“, den Huren …) ihre Solidarität verweigern. Statt Mitgefühl gäbe es „Häme und Spott […] bis hin zu Mobbing. […] Das ist der interne Schulhof, den diese Streber nie verlassen haben.“ Gerade „Akademiker mit Diskriminierungserfahrung“ empfänden angesichts des Elends vor der eigenen Haustür Ekel: „Es ist der Ekel vor der Armut, dem ständig drohenden sozialen Abstieg.“ Dazu käme der „Bildungsdünkel von Leuten, die besonders stolz auf ihre Bildung sind, über die sie sich definieren. Oft sind sie die Ersten aus ihren Familien, die es so weit gebracht haben […] Der Erstkontakt mit Bildung führt zu Fanatismus.“

Das ist in der Verallgemeinerung ungerecht. Aber es erklärt manches. Lakomy blickt auf die innere Befindlichkeit linker Leute aus der Sicht von Menschen, deren Lage die so gerne verbessern wollen. Man lese genau: Sie wollen verbessern … Das ist der erwähnte Avantgarde-Gedanke. Im harmloseren Fall ist es der geläuterte Ebenezer Scrooge aus der „Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens.

Lakomy sieht die Gefahren: „Während Linke sich von den Ungebildeten abgrenzen, schaffen es die Rechten, dieses gewaltige Klientel für sich zu nutzen. […] Sie grenzen sich nicht ab. Sie schmieden Bündnisse, kaltblütig und jovial. Und sie ekeln sich vor gar nichts.“

Dass Christa Luft aus ihrer Partei austrat, ist allein kein Problem. Für die Partei nicht – für Luft wird es wohl eine innere Befreiung sein. Dass Menschen wie sie aus dieser Partei austreten, ist für DIE LINKE allerdings eine Katastrophe. Menschen zu verlieren, die die Erfahrungswelt der DDR einbrachten, bedeutet einen erheblichen Verlust an geistiger Substanz. Das ist ein generelles Problem. Daniela Dahn hat vor wenigen Tagen im freitag erklärt, dass sie bei „der jetzt aufbrechenden Generation […] eine Analyse des Scheiterns vorheriger linker Kämpfe“ vermisse. Sie meinte eher die Occupy-Bewegung denn die DDR. Sie erntete wütende Kommentare.

Der erbärmliche Umgang der Linken mit ihrem Personal trägt zu ihrem Niedergang zur linken Sekte bei. Die permanente Selbstdemontage dieser Partei spielt den Nazis in die Hände.