Kunst und Praxistheorie

Der alte Begriff der „Praxis“ – ehemals von Aristoteles sowohl von der „poiesis“, als auch von der „theoria“ abgehoben – , hat seit einiger Zeit wieder Hochkonjunktur: In verschiedenen Disziplinen und kulturellen Feldern ist von diskursiven, signifizierenden, medialen und repräsentationalen Praktiken, von genderspezifischen und sozialen Praktiken oder auch von widerspenstigen, kritischen und subversiven Praktiken die Rede. Auch im kunstkritischen und kuratorischen Jargon wurde seit den frühen 1990er Jahren immer wieder der Ausdruck Kunstpraktiken bemüht, um den Prozess künstlerischen Arbeitens jenseits von bildungsbürgerlichen Implikationen, speziell dem Schöpfungs-, Schaffens- und Werkbegriff, aber auch dem marxistisch konnotierten Produktionsbegriff benennen zu können.

Dabei ist der Gebrauch des Ausdrucks Praxis alles andere als einheitlich, vielmehr variiert er je nach politischem und analytischem Interesse, sozialen Kontexten und theoretischen GegenspielerInnen. Allein in der aktuellen Wissenschaftslandschaft lassen sich mindestens drei unterschiedliche theoretische Kontexte ausmachen: der Praxisbegriff gehört erstens seit jeher zum Kern der Tradition des Pragmatismus. Zweitens steht das Konzept in einem engen Zusammenhang mit dem Aufschwung des Kulturbegriffs, der Kulturtheorie und der verschiedenen Spielarten von Kulturwissenschaften. So haben die Cultural Studies, die sich vornehmlich der konzeptuellen „Werkzeuge“ der poststrukturalistischen Theoriebildung bedienen, den Begriff der „signifying practice“ [1] stark gemacht, um gegenüber einem starren anthropologischen Kulturbegriff die Prozesshaftigkeit und Handlungsbasiertheit von kulturellen Bedeutungssystemen zu betonen. Im Konzept der signifizierenden Praxis ist aber nicht nur das linguistischen Modell präsent, vielmehr hallt in ihm – vermittelt über Henri Lefèbvre und Michel de Certeau – auch noch der aktivistische Gestus der Praxisphilosophie des jungen Marx in abgeschwächter Form nach: Autoren wie Stuart Hall oder Dick Hebdige ging es nicht allein um eine wissenschaftliche Analyse hegemonialer Bedeutungssysteme, sondern auch um ihre aktive Verschiebung durch subversive Resignifikationsstrategien. Dass der Praxisbegriff eine zentrale Stellung im relevanten kulturwissenschaftlichen Diskurs einnimmt, lässt sich auch daran ablesen, dass er gleichfalls im Titel der programmatischen Schrift der konkurrierenden Amsterdamer „Cultural Analysis“-Schule (vgl. Bal 1999) auftaucht. Schließlich erlebte drittens die neuere (Kultur-)Soziologie in den 1990er Jahren einen „practice turn“ (Schatzki u.a. 2001), der allerdings weniger auf die Durchsetzung des Kulturbegriffs in einer bestimmten Spielart, als auf die Abgrenzung von bestimmten soziologischen und ökonomischen Paradigmen abzielt: So distanzieren sich die angesprochenen Praxistheorien einerseits von solchen handlungstheoretischen Ansätzen, die im Sinne des methodologischen Individualismus davon ausgehen, dass alle sozial und kulturell relevanten Handlungen primär intentional ausgeführt werden. Andererseits wenden sie sich gegen systemtheoretische und strukturalistische Zugänge, welche das nunmehr als Praxis gefasste menschliche Handeln weitgehend vernachlässigen. Zentral für die praxistheoretische Theoriebildung sind nicht zuletzt Arbeiten von Pierre Bourdieu (1976, 1987), der die Spaltung zwischen sozialtheoretischem Objektivismus (z.B. Strukturalismus) und Subjektivismus (z.B. Phänomenologie, Theorie rationalen Handelns) mit dem Habitusbegriff aufzuheben versuchte. Nach Bourdieu liegt der durch seine Position im sozialen Raum vorstrukturierte Habitus allen Handlungen und Sichtweisen eines Agenten/einer Agentin auf die Welt als generatives Prinzip zugrunde – angefangen von bewussten Entscheidungen bis hin zu gewohnheitsmäßigen Verrichtungen, irrationalen Affinitäten und kaum steuerbaren Körperhaltungen. Dabei wird dieser „praktische Sinn“ (Bourdieu 1987) nicht nur als ein kognitives Vermögen aufgefasst, sondern er beinhaltet immer auch ein know how: im Körper selbst ist – je nach Position im sozialen Raum bzw. in sozialen Feldern – gleichsam das Gefühl für passende Gesten, Haltungen und Bewegungen „abgespeichert“.

Aus einem Vergleich des kulturwissenschaftlichen und des soziologischen Praxisverständnisses ergibt sich, warum sich der modische Begriff der „Kunstpraktiken“ mit einem sozialtheoretischen Verständnis von „Praxis“ eher nicht vereinbaren lässt: Während im Kunstfeld seit einiger Zeit verstärkt konstruktivistische Theorien rezipiert worden sind und daher Praxis – in voluntaristischer Tradition – mit Vorliebe als ein „kreativer“, veränderungsorientierter oder gar subversiver Akt verstanden wird, zielt der Rückgriff auf den Praxisbegriff in der Soziologie eher auf die Aufdeckung der Reproduktion von kultur- bzw. klassenspezifischen Mustern. Trotz dieser Differenzen scheint aber gerade die neuere soziologische Praxistheorie einen theoretischen Bezugsrahmen bereitzustellen, mit dem sich die herkömmliche kunstsoziologische Perspektive insofern fruchtbar erweitern lässt, als neben Fragen von Autonomie und Heteronomie des künstlerischen Feldes und der Kritik des Fetischcharakters der Kunst und ihrer Funktion als soziale Projektionsfläche (vgl. Albertsen / Diken 2004) auch ihre materielle und ästhetische Nichtreduzierbarkeit in den Blick gerät.

Allerdings ist es nicht ganz zutreffend von „den“ Praxistheorien zu sprechen, da sich hinter diesem Oberbegriff ein äußerst heterogenes Feld von Zugängen verbirgt. Neben Bourdieu, eine der Leitfiguren des „practice turn“, werden noch eine Reihe weiterer Ansätze – wie etwa Bruno Latours Aktor-Netzwerk Theorie (ANT), Judith Butlers Theorie der Performativität oder Michel Foucaults Analyse der Selbsttechnologien – zur Praxis-Wende gezählt. (Vgl. Reckwitz 2003; Hillebrandt 2009) Ungeachtet der Divergenzen dieser Zugänge lassen sich nach Reckwitz (2003) dennoch einige Grundmotive des praxistheoretischen Denkens benennen: Neben der bereits erwähnten Mittelstellung zwischen Subjektivismus und Objektivismus sind Praxistheorien dadurch charakterisiert, dass sie sich gegen solche Theorien abgrenzen, die Kultur allein auf der Ebene der Diskurse oder der Zeichenprozesse ansiedeln. Gegenüber diesen „mentalistischen“ und „textualistischen“ Ansätzen tendieren praxistheoretische Zugänge zu der Annahme, dass bestimmte Wissensformen direkt im Körper verankert sind. Das Interessensfeld des praxistheoretischen Zugangs geht insofern auch über die Habitustheorie hinaus, als einige ihrer Vertreter (ANT, science studies) neben der Dimension des Körpers auch die widerständige Materialität von Artefakten betonen, die als relativ selbständige „Aktanten“ in den relationalen Praktikenkomplex des „Doing Culture“ eingehen.

Da sich die meisten praxistheoretischen Ansätze schwerpunktmäßig mit der Regelmäßigkeit und Reproduktion von Alltagsroutinen beschäftigen, hat es bisher jedoch nur vereinzelt Versuche gegeben, die „kreativen“ und an Überschreitungen orientierten Kunstpraktiken praxistheoretisch zu fassen. So widmete sich Bourdieu zwar ausgiebig den Rezeptionspraktiken der Kunst und stellte heraus, dass der „ästhetische Sinn“ eine erlernte bzw. habituell verankerte Form der symbolischen Aneignung sei und insofern nur einen Sonderfall des praktischen Sinns darstelle. Er hat sich jedoch kaum mit der Herstellung künstlerischer Arbeiten unter Rückgriff auf den Praxisbegriff auseinandergesetzt, sondern bevorzugte in diesem Zusammenhang vielmehr den Begriff der Produktion. Er spricht z.B. stets von Feldern kultureller oder künstlerischer Produktion und nicht von Praxis.[2] Aus dieser Sicht ist künstlerische Produktion nicht das Werk eines „Schöpfergenies“, sondern ein Effekt des objektiven Beziehungsgeflechts vorhandener und antizipierter Positionen, Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien letztlich aller in relevanter Weise beteiligten Spieler/innen. Mit Bourdieu lässt sich somit einiges über die feldspezifischen Zwänge und Möglichkeiten von Kunstpraktiken sagen – was auch von der kunstfeldinternen Institutionskritik aufgegriffen wurde –, aber die konkreten Praktiken des Produzierens und die formalen Qualitäten von Kunst bleiben bei ihm mit Ausnahme seiner Manet-Analysen eher unterbelichtet.[3] Das künstlerische Bild erscheint bei Bourdieu primär als Oberfläche von Artikulationen, Zuschreibungen und Projektionen, die mit Positionen im Feld wie im sozialen Raum verbundenen sind. Somit als Objekt und Stellungnahme und nicht als ein eigenständiger Aktant im Gefüge des Kunstfeldes, der aufgrund seiner puren Materialität in situative Praktikenkomplexe (wie etwa den Ausstellungsbesuch) eingreifen könnte. Es könnte demnach durchaus lohnenswert sein, Bourdieus kritischen Analyserahmen um solche praxistheoretischen Theorieelemente zu ergänzen, die stärker Dimensionen wie Materialität oder auch ästhetische Form berücksichtigen. Auf diese Weise ließe sich etwa die Frage aufwerfen, inwiefern neue Techniken und Medien in der Lage sind, die „Regeln der Kunst“ zu transformieren. Außerdem ließe sich darüber reflektieren, ob bestimmte formale Strukturen (des Museumsraums, aber auch der künstlerischen Arbeit) von sich aus bestimmte Wahrnehmungspraktiken, Handlungsformen und Subjektpositionen nahelegen. Wie in jüngerer Zeit deutlich wurde, geben Latours ANT, der zufolge die materiellen Dinge als eigenmächtige Aktanten in Netzwerken angesehen werden müssen, und Jacques Rancières (2006) Philosophie von der „Aufteilung des Sinnlichen“, die in der formalen Gestaltung einen politischen Akt erkennt, einige Denkanstöße und Impulse in diese Richtung.[4]

 

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2009, "Praxistheorien".

 

Literatur:

Albertsen, Niels / Diken, Bülent (2004): „Artworks’ Networks. Field, System or Mediators?”, in: Theory, Culture & Society, 21(3), S. 35-58.

Bal, Mieke (Hg.) (1999): The Practice of Cultural Analysis. Stanford, CA.

Bourdieu, Pierre (1976 [1972]): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. (franz. jedoch: Le sens pratique. Paris 1980).

Bourdieu, Pierre (1999 [1992]): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.

Hall, Stuart (Hg.) (1997): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London u.a.

Hebdige, Dick (1979): Subculture: The Meaning of Style. London.

La sociologie de l’art.< Paris. 2. Aufl. ,>

Hillebrandt, Frank (2009): „Praxistheorie“, in: Kneer, Georg/ Schroer, Markus (Hg.): Soziologische Theorien. Ein Handbuch. Wiesbaden, S. 369-394.

Kastner, Jens (2009): Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus.

Nordmann<, Bourdieu/Rancière. La politique entre sociologie et philosophie.< Amsterdam.

Prinz, Sophia/ Schäfer, Hilmar (2008): „Kunst und Architektur: materielle Strukturen der Sichtbarkeit“, in: Moebius, Stephan/ Reckwitz, Andreas (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M., S. 382-400.

Rancière, Jacques (2006 [2000]): Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin.

Reckwitz, Andreas (2003): „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 32(4), S. 282- 301.

Schatzki, Theodore R./ Knorr Cetina, Karin/ Savigny, Eike van (Hg.) (2001): The Practice Turn in Contemporary Theory. London/ New York

Sonderegger, Ruth (2008): „Praktische Theorien?“. In: von Bismarck, Beatrice / Kaufmann, Therese / Wuggenig, Ulf (Hg.): Nach Bourdieu: Kunst, Visualität, Politik. Wien, S. 197-210.

Wuggenig, Ulf (1995): „Rivalität, Konflikt, Freiheit. Ein Vergleich von Pierre Bourdieus Feldtheorie und Arthur C. Dantos Philosophie der (Geschichte) der Kunst“, in: Texte zur Kunst, 5, Nr. 20, S. 86-107.



[1] So schreibt Hall an zentraler Stelle: „Culture … is not so much a set of things – novels, paintings or TV programms and comics – as a process, a set of practices.“ (Hall 1997, S. 2). Bereits Hebdige (1979) behandelte Punk im Anschluss an Levi-Strauss und Barthes nicht nur als Stil, sondern auch als „signifizierende Praxis“.

[2] Auch in der einschlägigen kunsttheoretischen Rezeption wurden Bourdieus feld- und kapitaltheoretischen Elemente ungleich stärker betont als die praxistheoretischen (vgl. z.B. Wuggenig 1995; Heinich 2004; Kastner 2009, hingegen jedoch Sonderegger 2008).

[3] Zu einer generellen Kritik an der Vernachlässigung formaler Aspekte von künstlerischen Arbeiten in der Kunstsoziologie vgl. Prinz/ Schäfer (2008) und Albertsen/ Diken (2004).

[4] Zu einer konstruktiven Konfrontation von Bourdieu und Latour vgl. Albertsen/ Diken (2004), zu einer von Bourdieu und Rancière, vgl. Nordmann (2006).