Die Entsorgung des Rechtsextremismus

Die neue Bundesregierung begreift den Rechtsextremismus offenbar als bloßes Randgruppenphänomen. Ihre Gleichsetzung desselben mit Linksradikalismus und Islamismus bedeutet zugleich einen Paradigma- und Strategiewechsel. Denn laut Koalitionsvertrag sollen die bestehenden Bundesprogramme gegen den Rechtsextremismus1 mit einem Jahresbudget von zusammen 24 Mio. Euro „unter Berücksichtigung der Bekämpfung linksextremistischer und islamistischer Bestrebungen“ in allgemeine Projekte gegen Extremismus umgewandelt werden. Dadurch werden die Gefahren des Rechtsextremismus für die Demokratie relativiert – und bei stabilem Mittelaufkommen weniger Aktivitäten dagegen finanziert.

Zurück in die 50er Jahre?

Ins Bild passt dabei, dass der Koalitionsvertrag die „Aufarbeitung des NS-Terrors und der SED-Diktatur“ im selben Atemzug nennt. Diese tendenzielle Gleichsetzung erinnert an die Totalitarismustheorie aus der Zeit des Kalten Krieges. Während der 50er und frühen 60er Jahre wurden in der Bundesrepublik alle geistig-politischen Kräfte im Kampf gegen den Kommunismus mobilisiert. Was lag da näher, als diesen unter dem Oberbegriff „Totalitarismus“ mit dem Nationalsozialismus mehr oder weniger explizit gleichzusetzen? Zudem gab es für das deutsche Bürgertum keine geeignetere Konzeption, um die eigene kampflose Preisgabe der Weimarer Republik als das Resultat einer „doppelten Frontstellung“ gegenüber Rechts- und Linksextremisten zu entschuldigen, die geistigen Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus zu verschleiern und die selbstkritische Aufarbeitung der NS-Zeit überflüssig zu machen. Außerdem bot die Totalitarismustheorie eine Möglichkeit, die Mitschuld einflussreicher Gesellschaftskreise an der „Machtergreifung“ des Hitlerfaschismus, genauer: der Machtübergabe an die Nazis, zu relativieren. Die Weimarer Republik sei, so hieß es, am Zusammenspiel der Verfassungsfeinde links- und rechtsaußen zugrunde gegangen.

Vor allem aber diente das Interpretationsmodell während der Ost-West-Konfrontation zugleich als innenpolitische Waffe gegen die demokratische Linke. Konservative unterstellten ihr, eine dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus wesensverwandte Herrschaft errichten zu wollen. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ – so ein gegen die (wahrlich alles andere als „totalitäre“) SPD gerichtetes Wahlplakat der CDU aus dem Jahr 1953.

Die Totalitarismustheorie – und die aktuellere Variante der Extremismustheorie – eskamotieren, um partielle Gemeinsamkeiten zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus herauszustellen, deren grundlegende Wesensunterschiede.

Sicher: Gemeinsamkeiten zwischen beiden Regimen sind vorhanden; erinnert sei nur an die Praxis von Massenaufmärschen und Militärparaden, die Insignien des Führerkults, Machtrituale oder Uniformen paramilitärischer Verbände. Von zumindest gleichrangiger Bedeutung sind allerdings die Unterschiede zwischen beiden Herrschaftssystemen: „Der Rechtsextremismus strebt die Beseitigung der Demokratie, der Sozialismus jedoch die Abschaffung des Kapitalismus an“, betont Richard Stöss zu Recht. 2 Er schlussfolgert, dass der Rechtsextremismus prinzipiell antidemokratisch, der Sozialismus aber nur dann gegen die Demokratie gerichtet sei, wenn er (im Sinne einer „Diktatur des Proletariats“ oder des Politbüros einer Kommunistischen Partei) missbraucht oder pervertiert werde.

Die Anhänger von Totalitarismus- und Extremismustheorie unterschlagen noch einen weiteren gewichtigen Aspekt, nämlich dass die Regime des Kommunismus und des Faschismus nicht nur ganz unterschiedlich an die Macht gelangten, sondern auch auf ganz verschiedene, ja regelrecht gegensätzliche Weise zu Grunde gingen. Während die „rechte Spielart des Totalitarismus“ 1945 nach ihrem barbarischen Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg militärisch gestürzt wurde, trat die „linke Variante des Totalitarismus“ 1989/90 trotz der Verfügung über ein riesiges Gewaltpotential ab, ohne den geringsten militärischen Widerstand zu leisten (wenn man von Rumänien absieht).

Eine fatale Gleichsetzung

All diese wichtigen Unterschiede verwischt nun die schwarz-gelbe Koalition bis zur Unkenntlichkeit. Dass sich die neue Bundesregierung erneut auf die ausgetretenen Pfade der Totalitarismus- und, aktueller: der Extremismustheorie begibt, hat primär politisch-strategische Gründe. Denn auf diese Weise maßt sich eine fiktive „politische Mitte“ an, konkurrierende Positionen links und rechts von ihr als „undemokratisch“ zu stigmatisieren und so vom demokratischen Diskurs auszugrenzen.

Christoph Kopke und Lars Rensmann weisen darauf hin, dass Vertreter der Extremismustheorie die „Mitte“ normalerweise dort verorteten, wo sie selbst stehen – obgleich sie oft selbst fest im rechten, nationalkonservativen Milieu verwurzelt seien: „Die Extremismus-Theorie läuft [...] im Kern auf nichts anderes hinaus als auf die Rehabilitation eines undemokratisch verselbstständigten Staates, dem praktisch jedes Mittel recht ist und der jenseits der selbst definierten ‚politischen Mitte‘ niemanden duldet.“ 3

Und in der Tat weisen die Arbeiten beispielsweise des Chemnitzer Politikprofessors Eckhard Jesse entsprechende analytische Schwachstellen auf. So lehnt es Jesse ab, die geistigen Hinter- und Beweggründe für Unterdrückungsmaßnahmen eines totalitären Regimes auch nur zu erörtern: „Das Opfer totalitärer Mechanismen muss eine solche Differenzierung – Kommunismus als Deformation einer an sich guten Idee – als sophistisch, wenn nicht zynisch empfinden, ganz abgesehen davon, dass Ziele und Mittel vielfach ineinander übergehen.“ 4 Freilich ist die von Jesse verabsolutierte Opferperspektive wenig geeignet, ein sachliches und fachlich qualifiziertes Urteil zu fällen. Aus guten Gründen sitzen unabhängige Richter und eben nicht unmittelbar Betroffene über mutmaßliche Straftäter zu Gericht. Was aber im Strafprozess selbstverständlich ist, nämlich die Herkunft und Motive eines Angeklagten zu würdigen und nicht nur das Resultat der inkriminierten Handlung, sollte auch eine Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche Bewertung von Parteien, Bewegungen und Herrschaftssystemen sein.

Folglich versucht Jesse auch, eine Konvergenz zwischen der Linkspartei, die er als „weiche Spielart des Extremismus“, und der NPD, die er als „harte Variante des Extremismus“ charakterisiert, nachzuweisen. Sein Argument lautet, dass beide Parteien die Systemfrage stellten. 5 Ausgerechnet der schon zu DDR-Zeiten aufmüpfige Linkspartei-Vorsitzende Lothar Bisky muss mit dem Ausspruch „Wir stellen die Systemfrage“ als Bürgerschreck herhalten, damit Jesse seine „Argumentation“ zu „belegen“ vermag. Dabei übersieht er freilich, dass Linke und Rechte unter „System“ etwas völlig Verschiedenes verstehen: nämlich einerseits den Kapitalismus und andererseits die Demokratie.

Die regierungsoffiziell wiederbelebte Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus ist noch aus einem anderen Grund absurd: Denn während Personen aus freiem Willen aufhören können, Mitglieder der „herrschenden Klasse“ zu sein, muss jemand, der aus Sicht der Rechtsextremen einer „falschen“ Rasse angehört, tagtäglich befürchten, tätlich angegriffen oder gar getötet zu werden.

Sogar das Bundesverfassungsgericht widersprach jüngst implizit einer platten Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus, als es am 17. November 2009 in seinem Urteil zu den Gedenkmärschen für den „Hitler-Stellvertreter“ Rudolf Heß die Strafvorschrift der Volksverhetzung rechtfertigte, welche die konkrete Meinungsfreiheit jener einschränkt, die die NSGewaltherrschaft rechtfertigen und verherrlichen.

Letztlich kaschieren Extremismus- und Totalitarismustheorien, dass die parlamentarische Demokratie weniger von den politischen Rändern als von den Eliten selbst bedroht wird, die ihre Privilegien durch Massenproteste gefährdet sehen und ihre Gegner als „Extremisten“ brandmarken, um sie bei unentschiedenen Dritten in Misskredit zu bringen. Diese Theorien erklären wenig und vernebeln zudem das, was wichtig ist, um die genannten Phänomene mit Erfolg bekämpfen zu können: die sozialökonomischen Entstehungsursachen sowie das Wesen und die Wurzeln von Rechtsextremismus, Faschismus und gewalttätigem Neonazismus. Selbst politische Ziele und Motive der Personen, die als „Extremisten“ (oder „Fundamentalisten“) etikettiert werden, bleiben auf diese Weise nebulös. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, warum eine politische Strömung entsteht, wogegen sie aufbegehrt, welche Interessen sie vertritt und welcher Mittel sie sich dabei bedient.

Die Bundesregierung begibt sich mit ihrer Referenz an die These der „Extremisten von links und rechts“ schnurstracks zurück in die ideologischen Schützengräben des Kalten Krieges. Das ist besonders deshalb bedauerlich, weil dem Kampf gegen Rechtsextremismus und Neofaschismus auf diese Weise entscheidende finanzielle Ressourcen entzogen werden und seine Legitimation systematisch untergraben wird.

 

1„Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ sowie „Kompetent für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“.
2 Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung – Ursachen – Gegenmaßnahmen, Opladen 1989, S. 18.
3 Christoph Kopke und Lars Rensmann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: „Blätter“, 12/2000, S. 1455.
4 Eckhard Jesse, Der Totalitarismus-Ansatz nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus, in: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, 11/1991, S. 984.
5 Vgl. ders., „Extremistische Parteien“ – Worin besteht der Erkenntnisgewinn? In: APuZ, 47/2008, S. 9; vgl. auch Eckhard Jesse und Jürgen P. Lang, Die Linke – der smarte Extremismus einer deutschen Partei, München 2008. Eine weitere Spielart markiert in diesem Kontext die Populismusthese; vgl. Christoph Butterwegge, Definitionen, Einfallstore und Handlungsfelder des Rechtspopulismus, in: ders. und Gudrun Hentges (Hg.), Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut. Befunde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen und Farmington Hills 2008, S. 51 ff.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 01/2010 - Seite 12 bis 15