»Armutsimport«: Wer betrügt hier wen?

„Wer betrügt, der fliegt“ – was klingt, als ob es auf einen bekannten Münchner Fußballklub und seine beiden Spitzenfunktionäre Hoeneß und Rummenigge oder einen CSU-Generalsekretär mit „Dr.“-Titel gemünzt wäre, ist der schändliche Auftakt zum Wahljahr 2014. Vor den Kommunal- und Europawahlen im März und Mai haben die „Christsozialen“ eine antiziganistische Kampagne gestartet, die Wasser auf ihre Wahlkampfmühlen leiten soll. Einmal mehr wird auf dem Rücken einer Minderheit, deren Mitglieder angeblich stehlen, lügen und betrügen, rassistische Stimmungsmache betrieben.

Infamer hätte die CSU die seit dem 1. Januar geltende Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen wohl nicht begrüßen können. Schlagzeilen wie „Osteuropäer sitzen auf gepackten Koffern“ oder „Europas Ärmste auf dem Weg nach Deutschland“ taten ein Übriges, um Ängste vor massiven Wohlstandsverlusten zu schüren. Denn, so wird insinuiert, viele Hunderttausende seien bereits auf dem Sprung, um Transferleistungen des deutschen Sozialstaates abzugreifen. Innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bestehende Ressentiments gegenüber Roma werden so aufgegriffen und verstärkt, deren soziale Probleme kurzerhand ethnisiert und damit Menschen kriminalisiert, die auf der Suche nach Arbeit sind und hier auf ein besseres Leben hoffen.

Völlig ignoriert wird dagegen die starke Fragmentierung der migrantischen Bevölkerungsgruppe, in der sich die in Zeiten neoliberaler Globalisierung zunehmende Polarisierung manifestiert. Ärzten, Technikern und Ingenieuren, die ihre Heimat verlassen, weil sie woanders mehr Geld verdienen können, stehen Menschen gegenüber, die krassestem Elend, rassistischer Diskriminierung und totaler Perspektivlosigkeit zu entfliehen suchen.[1] Offensichtlich werden die Zuwanderer dabei aber nicht von einem nur vermeintlich großzügigen Sozialstaat, sondern vom weniger angespannten Arbeitsmarkt des derzeit prosperierendsten Landes der EU angezogen. Schon daher verbietet es sich, alle Migranten derselben geografischen oder ethnischen Herkunft über einen Kamm zu scheren, zumal die Grenze zwischen Arbeits-, Armuts- und Fluchtmigration ohnehin fließend sind.

Nimmt man die Fakten zur Kenntnis, erweist sich die Rede von „massenhafter Armutsmigration“ der Südosteuropäer als vollends unzutreffend. Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Ehsan Vallizadeh haben in einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gezeigt, dass die bulgarischen und rumänischen Neuzuwanderer zwar im Durchschnitt geringer qualifiziert sind als andere. Die Quote der Arbeitslosen und Bezieher von Transferleistungen unter ihnen fällt aber deutlich geringer als bei anderen Migrantengruppen aus, weshalb Deutschland insgesamt von dieser Zuwanderung profitiere.[2] Nur in Städten wie Berlin, Duisburg und Dortmund, wo die allgemeine Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist, sind auch zugewanderte Bulgaren und Rumänen sehr stark von dieser betroffen. In den Boomtowns des Südwestens der Republik und des Rhein-Main-Gebiets ist die Armuts- und Arbeitslosigkeitsquote der osteuropäischen Migranten dagegen entsprechend niedrig.[3]

Zudem handelt es sich bei den gegenwärtig 27 000 bulgarischen und rumänischen Arbeitslosengeld-II-Empfängern keineswegs um Vollbezieher, sondern hauptsächlich um „Aufstocker“, das heißt um Menschen, die sich und ihre Familie nicht ernähren können, obwohl sie arbeiten. Tatsächlich sind hierzulande zahlreiche Bulgaren und Rumänen als Leih- bzw. Werkvertragsarbeiter tätig und erhalten kaum mehr als einen Hungerlohn. Über diesen – den eigentlichen – Skandal spricht jedoch kaum jemand. Dabei ist die systematische Ausbeutung der Zuwanderer speziell durch Unternehmen der Fleischindustrie, aber auch durch skrupellose Immobilienhaie, die ihnen primitive Behausungen zu horrenden Mieten überlassen, den Behörden und den politischen Entscheidungsträgern sehr wohl bekannt.

Kontinuitäten der Diffamierung

Dass der deutsche Sozialstaat nach unzähligen Reformen während der vergangenen Jahrzehnte auch Einheimischen gegenüber längst nicht mehr so generös ist wie noch auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung (vor der Weltwirtschaftskrise 1974/75),[4] wird heute allzu gern verschwiegen. Den meisten Zuwanderern wird längst jeglicher Leistungsanspruch vorenthalten – durch eine auf Drängen Bayerns 2007 nachträglich ins Sozialgesetzbuch II (SGB II) eingefügte, europarechtlich aber höchst zweifelhafte Bestimmung. Dass Deutschland arbeitslose und arbeitssuchende EU-Ausländer pauschal von Hartz-IV-Leistungen ausschließt, hat die EU-Kommission erst jüngst scharf kritisiert.

Zudem fallen erstaunliche Parallelen der medialen Skandalisierung ins Auge. So schrieb der „Spiegel“ über die „Gastarbeiter“ bereits in den 1970er Jahren: „Fast eine Million Türken leben in der Bundesrepublik, 1,2 Millionen warten zu Hause auf die Einreise. Der Ansturm vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen: Es entstehen Gettos, und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Verelendung wie in Harlem.“[5] Diente seinerzeit der Bosporus als Bedrohungskulisse, so hat ihn seit Beginn der 90er Jahre der Balkan abgelöst – als Inbegriff einer unruhigen Region mit einer Bevölkerung, die zur „Armutsmigration“ neige. Erwähnt sei hier nur die Debatte über „Klau-Kids“ aus Roma-Familien des früheren Jugoslawien und eine sogenannte Balkan-Bande in Köln um die Jahrtausendwende. Und auch der zum Unwort des Jahres 2013 gekürte Begriff „Sozialtourismus“ ist keineswegs neu: Die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“ machte bereits vor fast zehn Jahren Stimmung gegen „Sozialtouristen“.[6]

Neben dem gezielten Populismus mit Blick auf die kommenden Wahlen handelt es sich bei der aktuellen Kampagne gegen den angeblichen Import von Armut vor allem um eines: einen Diskurs der Ablenkung von den wahren Armutsproblemen im Lande. Diese werden auch durch die große Koalition in keiner Weise angegangen, geschweige denn gelöst. Im Gegenteil: Für die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zeigen Union und SPD wenig Sensibilität. Folgerichtig kommt das Wort „Reichtum“ auf den 185 Seiten des Koalitionsvertrages nur als „Ideenreichtum“ und „Naturreichtum“ und der Begriff „Vermögen“ nur als „Durchhaltevermögen“ bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

„Armut“ taucht hingegen zwar zehnmal auf, aber vorwiegend in zweifelhafter Konnotation. So firmiert die Losung „Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen“ als Zwischenüberschrift zur Rentenpolitik der künftigen Regierungskoalition.[7] Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen den Schluss nahe, dass (Alters-)Armut in Deutschland gar nicht existiert, denn sonst müsste deren Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung die vorrangige Aufgabe sein.

Faktisch wird Armut – dem hierzulande dominierenden Verständnis gemäß – nach wie vor hauptsächlich mit der sogenannten Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als viermal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nur in anderer, oft weniger drastischer Form existiert.

Gleich dreimal wird dagegen im Koalitionsvertrag das Wort „Armutswanderung“ bzw. „Armutsmigration“ verwendet und eine „ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger“ kritisiert. Dieser soll die Verringerung der „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ entgegenwirken: „Dafür sind ein konsequenter Verwaltungsvollzug, die Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit, eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Zoll und Behörden vor Ort, ein besserer behördlicher Datenaustausch, die Ermöglichung von befristeten Wiedereinreisesperren sowie aufsuchende Beratung notwendig.“[8] Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsausschlüsse im SGB II sollen dafür „präzisiert“ werden.

Armut-Export, nicht -Import

Zwar heißt es im Koalitionsvertrag von Union und SPD auch, die Bundesrepublik sei ein weltoffenes Land, gegen „jede Form der Diskriminierung“ und mit einer „Willkommens- und Anerkennungskultur“ gegenüber Migranten.[9] Gemäß der neoliberalen Standortlogik, die ihn wie ein roter Faden durchzieht, stehen jedoch Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumsdynamik im Mittelpunkt aller Überlegungen. Daraus folgt, dass Migranten einer harten Gewinn- und Verlustrechnung unterworfen werden: Während die Regierungsparteien gut ausgebildete Fach- bzw. Führungskräfte aus aller Herren Länder zu gewinnen suchen, gelten ihnen Armuts- bzw. Fluchtmigranten als Belastung für den eigenen, weitgehend armutsfreien Wirtschaftsstandort. Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es hierzulande (noch) gar keine Armut. Vielmehr existiert diese offenbar nur außerhalb unserer Wohlstandsinsel – es sei denn, sie wird durch Zuwanderer rechtswidrig importiert.

Dabei exportiert Deutschland heute faktisch Armut: Durch sein anhaltendes Lohndumping und drastische Leistungsbilanzüberschüsse erzeugt es wirtschaftliche Ungleichgewichte, um anschließend die Staaten der südlichen EU-Peripherie zu harten Sparmaßnahmen zu zwingen. Dass es allein in der griechischen Hauptstadt Athen heute mehr Obdachlose als in ganz Deutschland gibt, haben daher auch die verschiedenen Regierungen unter Kanzlerin Merkel mit zu verantworten.

Soziale Ungleichheit – das Kardinalproblem unserer Gesellschaft

Die Ironie der Geschichte: Während die christlich-sozialdemokratischen Großkoalitionäre ausschließlich exogene Faktoren für die Armut in Deutschland verantwortlich machen, weist Papst Franziskus in seinem beinahe zeitgleich publizierten Apostolischen Rundschreiben „Evangelii Gaudium“ auf deren gesellschaftliche Ursachen hin: „Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Fi­nanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel.“[10] Nicht in Armut leben zu müssen, bildet für das Oberhaupt der katholischen Kirche ein Gebot der Menschenwürde. Darauf gilt es unverdrossen hinzuweisen.

Wer dagegen die soziale Ungleichheit – das Kardinalproblem unserer Gesellschaft – nicht erkennt oder aus seinem Bewusstsein verdrängt,[11] wird auch nicht entschieden gegen die Ursachen vorgehen, wie der Koalitionsvertrag bestätigt: Weder wurde das von der SPD im Wahlkampf versprochene Ganztagsschulprogramm beschlossen, noch wird die Schulsozialarbeit weiter im Rahmen des „Bildungs- und Teilhabepakets“ vom Bund finanziert. Das im Jahr 1999 gestartete und für die Entwicklung benachteiligter Quartiere wichtige Förderprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ wird zwar fortgeführt, aber nicht aufgestockt, obwohl dies dringend erforderlich wäre (und noch während der Koalitionsverhandlungen zumindest kurzzeitig diskutiert wurde). Lediglich für besonders stark von „Armutsmigration“ betroffene Kommunen soll der Programmzugang erleichtert werden.[12]

Dass damit die Integrationsprobleme an den „sozialen Brennpunkten“ nicht gelöst werden, steht bereits fest, zumal die Wanderungsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten anhalten werden – schon aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles innerhalb der EU, das zu weiteren Arbeits- und nicht primär Armutswanderungen führen wird. Denn auch die meisten Beitrittskandidaten – etwa Montenegro, Mazedonien, Serbien und Albanien – haben ähnliche ökonomische Probleme wie Bulgarien und Rumänien. Umso notwendiger ist und bleibt die Verringerung der sozialen Ungleichheit, national wie international, und die Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit, hier wie dort.

 


[1] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge und Gudrun Hentges (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Wiesbaden 2009.

[2] Vgl. Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Ehsan Vallizadeh, Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien: Arbeitsmigration oder Armutsmigration? IAB-Kurzbericht, 16/2013, S. 1.

[3] Ebd., S. 6.

[4] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2014, S. 113 ff.

[5] „Die Türken kommen – rette sich, wer kann“, in: „Der Spiegel“, 30.7.1973, S. 24.

[6] Vgl. z.B. Josef Hämmerling, Ein sehr sensibles Thema, in: „Junge Freiheit“, 29.10.2004; Kurt Zach, Nicht nur Rot-Grün macht arm, in: „Junge Freiheit“, 11.3.2005; Tobias Westphal, Stolperstein für Sozialtouristen, in: „Junge Freiheit“, 2.12.2005.

[7] Vgl. Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, Berlin 2013, S. 10.

[8] Ebd., S. 108.

[9] Ebd., S. 105 f.

[10] Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Rom 2013, S. 183.

[11] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt a. M. und New York 2012.

[12] Vgl. Deutschlands Zukunft gestalten, a.a.O., S. 108.

(aus: »Blätter« 2/2014, Seite 5-8)